„Damit ihr wisst, dass unter diesen Bäumen Menschen leben“

Im Rahmen des III. Chamado da Floresta machen Extraktivist*innen auf ihre Lebensbedingungen aufmerksam, artikulieren ihre Bedürfnisse und richten Forderungen zur Verbesserung ihrer Lebensrealität an die Regierung.
| von Michaela Meurer
„Damit ihr wisst, dass unter diesen Bäumen Menschen leben“
Dilma-Untersützungs-Banner beim III. Chamado da Floresta (Foto: Michaela Meurer)

Vom 28. bis 29. Oktober 2015 versammeln sich etwa 3 000 Menschen zum III. Chamado da Floresta in São Pedro, einer Gemeinde in der Reserva Extrativista Tapajós-Arapiuns im Bundesstaat Pará. Unter ihnen Extraktivist*innen aus ganz Brasilien und der Amazonasregion sowie Vertreter*innen von Presse, Politik und Zivilgesellschaft. Ziel des Treffens ist die Mobilisierung der Extraktivist*innen, die Artikulation ihrer Interessen und das Anstoßen von einer Politik, die sensibel ist für die besondere Lebenssituation der Menschen, die im und vom Wald leben. Statt ihre Forderungen nach Brasilia zu tragen, laden sie führende Politiker*innen zu sich ein, damit diese die Lebensumstände vor Ort direkt erfahren.

Ausgerichtet wird der Chamado durch den Conselho Nacional dos Populações Extrativistas (CNS), dem Nationalen Rat der Extraktivist*innen. Die 1985 als Nationaler Rat der Kautschukzapfer gegründete Interessenvertretung setzt sich seit nunmehr 30 Jahren für die Verbesserung der Lebenssituation der extraktivistisch lebenden Bevölkerungsgruppen Brasiliens und den Erhalt ihrer Lebensgrundlage ein. Es ist nicht zuletzt dem CNS zu verdanken, dass 1990 die ersten Reservas Extrativistas (RESEX) gegründet wurden, Umweltschutzgebiete, die sowohl den Erhalt der Biodiversität als auch den Schutz von lokal praktizierten Wirtschaftsweisen zum Ziel haben. Mittlerweile sind in Brasilien zahlreiche solcher und ähnlicher Gebiete[1] ausgewiesen worden. Doch der Kampf ist damit nicht beendet und die Mitglieder des CNS setzen sich weiterhin für die Umsetzung ihrer Rechte ein, insbesondere im Hinblick auf die Schaffung weiterer Schutzgebiete sowie den Ausbau und die Umsetzung von öffentlichen Politiken für Extraktivist*innen. So sind es ebendiese Schwerpunkte, die beim diesjährigen Chamado da Floresta auf der Agenda stehen. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt: die Suche nach Perspektiven für Jugendliche im ländlichen Raum. Viele der Schutzgebiete haben mit einer hohen Migration der jungen Generation zu kämpfen, die ein Leben in der Stadt dem in ihrer Gemeinde vorziehen.

Der erste Tag des Chamado da Floresta dient dem Austausch über diese Themen. In vier Arbeitsgruppen[2] wird über aktuelle Probleme, Bedürfnisse und Schwierigkeiten diskutiert und die zentralen Aspekte werden zusammengefasst. Als besonders wichtig werden beispielsweise der Ausbau der weiterführenden Schulen und die Anpassung der Lehrpläne an die Realität der Extraktivist*innen angesehen. Zudem soll die Ausarbeitung von Landnutzungsplänen beschleunigt werden. Viele der Schutzgebiete verfügen bis heute nicht über verbindliche Auflagen.

Am zweiten Tag des Treffens werden Forderungen des CNS an führende Politiker*innen übergeben. Von den sieben im Vorfeld angekündigten Minister*innen ist immerhin eine anwesend – Tereza Campello vom Ministerium für soziale Entwicklung. Das Umweltministerium schickt seinen stellvertretenden Minister Francisco Gaetani, die anderen Ministerien Sekretär*innen. Präsidentin Dilma sagt ihre Teilnahme kurzfristig ab, richtet aber einen Tag nach Ende des Chamado da Floresta einige Worte in einer Videobotschaft an die Teilnehmenden des Treffens.[3]

In der etwa eineinhalb stündigen Zusammenkunft haben Repräsentant*innen der Indigenen Bewegung und des CNS sowie die Vertreter*innen der Ministerien und einige lokale Politiker*innen das Wort. Während von Seiten der Indigenen die Regierung im Hinblick auf die Verfassungsänderung PEC 215[4], den Ausbau von Wasserkraftwerken in ganz Amazonien und die mangelnde Einhaltung der Rechte Indigener Bevölkerungsgruppen scharf kritisiert wird[5], lobt der Vorstand des CNS die Sensibilität der PT-Regierung für die Interessen der Extraktivist*innen und betont die Wichtigkeit des gemeinsamen Kampfes. Die Politiker*innen verweisen ihrerseits auf die besondere Rolle, die Extraktivist*innen heute auch im Hinblick auf Umweltschutz zukommt. Dass dies von der Regierung durchaus wertgeschätzt wird, ließe sich an den zahlreichen Investitionen und Sozialprogrammen für ebendiese Gruppen messen. Man verspricht, diese Programme zu erhalten und weiter auszubauen. Nachdem vier Extraktivist*innen eine symbolische Unterschrift leisten und damit in den Genuss von neuen Unterstützungsprogrammen[6] kommen, werden offiziell die Forderungen des CNS an die Regierung übergeben und ein Plan zur Stärkung der extraktivistischen Bevölkerung unterschrieben.[7] Die als „Debatte“ angekündigte Zusammenkunft ist damit beendet und die Politiker*innen verlassen in ihrem Helikopter die Konferenz.

Nach einer kurzen Abschlusskundgebung schließt der Vorstand des CNS den III. Chamado da Floresta und die Teilnehmenden machen sich auf den – oft mehrere Tage dauernden – Rückweg.

Ihre Einschätzungen nach der Konferenz fallen ganz unterschiedlich aus. Auf der einen Seite hagelt es Kritik. Dem CNS wird seine Nähe zur Regierungspartei PT vorgeworfen, die die „Diskussion“ mit den Politiker*innen in eine reine Werbeveranstaltung der Regierung verwandelt habe. Auch die finanzielle Unterstützung des Events durch Norte Energie, das Unternehmen, welches den umstrittenen Staudamm Belo Monte baut, sorgt für Unverständnis und Empörung. Andere Stimmen werten die Veranstaltung als vollen Erfolg: niemals zuvor haben so viele Menschen teilgenommen und es sei eben dieser Form des konfliktfreien Dialogs mit der Regierung zu verdanken, dass der CNS bisher erfolgreich zahlreiche seiner Forderungen durchsetzen konnte. In welche Richtung sich die Politik der Regierung weiterentwickeln wird und welche Rolle dabei die Forderungen des Chamado da Floresta spielen werden, bleibt nun abzuwarten.



[1] Neben den RESEX sind das Projetos de Assentamentos Extrativistas (PAE)

[2] Politiken der Agrarreform, Politiken für Produktion und Erwerbsmöglichkeiten, Grundlegende Infrastruktur sowie Organisation und Management von Schutzgebieten

[3] https://www.facebook.com/blogdilmabr/

[4] http://www.kooperation-brasilien.org/de/themen/landkonflikte-umwelt/pec215nao-kommission-befuerwortet-verfassungsaenderung?searchterm=PEC215

[5] https://www.facebook.com/video.php?v=1487618868210861

[6] Minha Casa Minha Vida Rural sowie Programa Fomento Mulher

[7] http://www.secretariageral.gov.br/noticias/2015/outubro/governo-federal-anuncia-novos-compromissos-com-populacoes-extrativistas