Olympia in Rio – aber für wen?

Straßenverkäufer/innen und von Umsiedlungen Betroffene hinterfragen bei einer großen Kundgebung in Rio de Janeiro die Vorgehensweise der Stadtregierung und des Organisationskomitees von Olympia 2016.
| von Thiago Mendes (Menschenrechte sind Olympisch)
Olympia in Rio – aber für wen?
"Olympia für wen?“- Straßenverkäufer/innen und andere Betroffene protestieren gegen die Vorgehensweise der Stadtregierung und des Organisationskomitees.

Genau ein Jahr vor der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele und der Paraolympics in Rio de Janeiro versammelten sich dutzende Vertreter/innen sozialer Bewegungen, Straßenverkäufer/innen und andere Menschen, die von Menschenrechtsverletzungen rund um Olympia 2016 betroffen sind, vor dem Gebäude der Stadtregierung sowie dem Gebäude des Organisationskomitees. Seit Rio 2009 zum Austragungsort auserkoren wurde haben sich Aktionen gegen Bewohner/innen der Stadt verschärft.

Das Motto der nun schon seit Jahren anhaltenden Proteste lautet „Olympia für wen?“, auch an diesem Protesttag wieder auf unzähligen Bannern zu sehen und über Lautsprecher bis weithin zu hören. Der Sport verkomme zu einem „Luxusgut für Privilegierte“, die Bewohner/innen würden kaum bis gar nicht von Olympia profitieren. Das „Comitê Popular“, also das Basiskomitee zu Olympia 2016 und zur WM 2014, veröffentlichte wieder neue Informationen zu Olympia und spricht von mittlerweile 20.299 Familien bzw. 67.000 Menschen, die alleine im Zeitraum 2009-2013 in Rio umgesiedelt wurde.

Der Protestmarsch ging vom Gebäude der Stadtregierung hinüber zum Gebäude des Organisationskomitees, an beiden Orten schilderten Straßenverkäufer/innen vom harten Vorgehen gegen sie und ihren Beruf. Seit vielen Jahren arbeiten sie in diesem von der Stadtregierung tolerierten informellen Arbeitssektor, nun nahmen die Repressionen extrem zu. Sie berichteten, dass ihre Lastenfahrräder und Waren immer wieder aufs Neue beschlagnahmt werden. Ansuchen um Rückerstattung wurden von der Stadtregierung zurückgewiesen.

Die Straßenverkäuferin Maria Rosângela (45) erzählte, dass sie selbst nach mehrmaliger Beschlagnahmung durch die Polizei immer wieder als Verkäuferin auf ihren Standplatz zurückkehren müsse, weil sie gar keine andere Option habe: „Ich komme mit Säcken und Tüten immer wieder zurück. Wenn ich nicht arbeite und nichts verdiene, bleibe ich hungrig.“ Von ihr wie vielen anderen Straßenverkäufer/innen wird speziell auch die Vorgehensweise und Haltung der Stadtpolizisten scharf kritisiert: „Sie kommen, um uns unsere Waren abzunehmen und rufen ‚Perdeu! Du hast verloren!’“ Zur Erklärung: Den Ausdruck „Perdeu!“ verwenden normalerweise nur Banditen bei Überfällen kurz bevor sie zuschlagen.

Das Ehepaar Cícera Lima Xavier (54) und Manoel da Silva (53) schilderte, dass die Polizei das beschlagnahmte Lastenfahrrad der beiden einfach verschwinden ließ. Als sie es nach 90 Tagen abholen wollten, konnte es angeblich nicht mehr gefunden werden. Die Anschaffungskosten von mehr als 500 Euro sind für das Ehepaar ein kleines Vermögen.

Auch Manoel, der seit 1981 als Straßenverkäufer arbeitet, kritisierte den Anstieg der Repression, je näher Olympia rückt. Die Stadt wolle die Tatsache, dass in Brasilien sehr viele Menschen im informellen Sektor arbeiten, einfach vertuschen: „Sie wollen zeigen, dass in Rio alles wunderbar ist, aber das stimmt nicht. Sie wollen die Stadt ‚säubern’, sie sagen, wir seien ‚Müll’.“

16 Punkte für ein anderes Rio

Der Protestmarsch war an diesem Nachmittag lauter als die Male zuvor, viele Parolen wie etwa „Lass die Finger von der Olympischen Fackel!“ oder „Spring mit uns, wenn du gegen Umsiedlungen bist!“ waren zu hören. Vor dem Gebäude des Organisationskomitees wurde dann das Dokument „16 Punkte für ein anderes Rio 2016“ vorgestellt. Gefordert werden einerseits ein Ende der Umsiedlungen, der Verfolgung der Arbeit der Straßenverkäufer/innen und der gewaltsamen Vertreibung von Straßenkindern, andererseits Neuverhandlungen zu bestimmten Bauprojekten. So sollen das Leichtathletikstadion Célio de Barros und der Aquapark Júlio Delamare wieder für die Öffentlichkeit zugänglich werden, die Guanabara-Bucht endlich gereinigt werden und der Bau des Golfplatzes im Naturschutzgebiet sofort gestoppt werden.

Ein Jahr vor Olympia erinnerten die Protestierenden erneut an die permanenten Räumungsdrohungen in der Vila Autódromo, einer Wohnsiedlung neben dem Olympia-Park im Westen von Rio. Die meisten Bewohner/innen würden zwar über den CDRU-Bescheid verfügen („Concessão de Direito Real de Uso“), ein rechtliches Instrument, das zum Verbleib in der Siedlung berechtigt. Viele beugten sich dennoch dem Druck der Stadtregierung und zogen in entlegene Wohnungen oder nahmen Entschädigungszahlungen an. Die Übriggebliebenen kämpfen nun um ihren Verbleib.

Zuletzt versuchte die Stadtregierung die Räumungen mit einer notwendigen Zufahrtsstraße zu legitimieren. Gleichzeitig ändert sich die Argumentation von Bürgermeister Eduardo Paes immer wieder, mehrmals hatte er schon versprochen, dass alle bleiben könnten. Zuletzt meinte er: „Jene, die sich im Gebiet der Zufahrt zum Olympia-Park befinden, müssen gehen, die anderen können bleiben.“

Einen spannenden Einblick in die Diskussionen gibt ein Video einer öffentlichen Diskussion zum Thema (auf Portugiesisch, ab 3h48min geht Eduardo Paes auf die Vila Autódromo ein).

Aufgrund der vielen leeren Versprechen der letzten Jahre kämpfen die verbleibenden Bewohner/innen nun für eine sogenannte „komplette Urbanisierung der Vila Autódromo“, das heißt eine Eingliederung in die offiziellen Siedlungsgebiete, basierend auf einem Entwicklungsplan, an dem sich alle Bewohner/innen beteiligen können.

 

Auch die Agentur France Press berichtet von den Protesten. Zum Video (auf Englisch)


 

Der Artikel erschien ursprünglich auf dem Blog "Menschenrechte sind Olympisch".