Die Vorbereitungen zur Männer-Fußball-WM führen zu Vertreibungen

Was haben ein internationales Fußballturnier und das Recht auf Wohnen miteinander zu tun? In Brasilien führten die Auseinandersetzungen um beide Themen bereits im November 2010 zu einem bundesweiten Zusammenschluss zivilgesellschaftlicher Widerstandsbündnisse: Die Comitês Populares da Copa wehren sich gegen die staatlichen Vorbereitungen auf die Fußball-WM 2014.
| von Uta Grunert
Die Vorbereitungen zur Männer-Fußball-WM führen zu Vertreibungen

Es fing alles so unbeschwert an: Im »Land des Fußballs« war der Jubel groß, als der Weltfußballverband FIFA Brasilien zusagte, 2014 Ausrichter der Männer-Fußball-Weltmeisterschaft zu werden. 2016 folgt die Olympiade, die nach Rio de Janeiro vergeben wurde. Im nationalen Freudentaumel ahnte die brasilianische Bevölkerung noch nicht, welche finanziellen Herausforderungen, gesetzlichen Anpassungen und städtebaulichen Veränderungen die Vorbereitungen dem Land bescheren würden – und dass sie zum weiteren Auseinanderdriften der sozial sehr ungleichen Gesellschaft führen würden.

Zwar sind die BrasilianerInnen vom Fußball begeistert, aber spätestens seit der WM in Südafrika ist klar, dass eine Weltmeisterschaft weniger als Spiel denn als Geschäft abgewickelt wird. Dabei sind nur wenige am Profit beteiligt und viele vom Nutzen gänzlich ausgeschlossen. In Südafrika hat vor allem die FIFA Gewinne in Höhe von 2,4 Milliarden Euro gemacht, das Gastgeberland blieb am Ende auf einem Schuldenberg von 2,2 Milliarden Euro sitzen.

Ein solches Szenario möchten die potenziell Betroffenen in Brasilien gerne verhindern. Protest und Engagement der lokalen Bürgerbewegung finden bei NGOs und sozialen Bewegungen Unterstützung. Manche setzen sich bereits seit Jahren für das Recht auf Stadt und eine soziale, partizipative Wohnungspolitik ein. Landesweit agiert beispielsweise die NGO FASE, die über Advocacy- und Lobbyarbeit für öffentliche Maßnahmen Benachteiligten einen Zugang zu Wohnraum und städtischen Dienstleistungen sichert. FASE ist sowohl in Rio de Janeiro als auch in Recife federführend bei der Vernetzung mit anderen Organisationen im Hinblick auf WM und Olympia.

Das Dossier der Comitês Populares »Sportliche Großereignisse und Menschenrechtsverletzungen« hat im Dezember letzten Jahres in Brasilien und international für große Aufmerksamkeit gesorgt. Es bietet einen detaillierten Überblick über die Vorbereitungen und die häufig unerwähnten Nebeneffekte: Kampf um Wohnraum und gegen Gentrifizierung, Einsatz für gerechte Arbeitsbedingungen im Baugewerbe und im informellen Handel, Einhaltung von Umweltschutzauflagen, Erhalt der Bürgerrechte in Zeiten der Militarisierung öffentlicher Sicherheit und Teilhabe der Bevölkerung an den Spielen in ihrem Land.

 

Weiße Elefanten

Vor einem guten Jahr haben die Baumaßnahmen begonnen. Die acht Städte Brasilia, Cuiabá, Grande Recife, Manaus, Natal, Porto Alegre, São Paulo und Salvador stemmen landesweit den Neubau von Stadien der »ökologischen Luxuskategorie« nach Anforderungen der FIFA. An vier weiteren Austragungsorten – Belo Horizonte, Curitiba, Fortaleza und Rio de Janeiro – werden bestehende Stadien umfassend modernisiert. In allen zwölf Städten wird in den Ausbau der Infrastruktur investiert. Brasilien will sich als aufsteigende Großmacht vor aller Welt ein Denkmal setzen.

Seit Südafrika hat sich der Begriff der Weißen Elefanten etabliert, da die Unterhaltung etlicher Stadien nach der WM 2010 die Kommunen teuer zu stehen kommen. In Brasilien wurden die Stadien teilweise inmitten der Großstädte platziert, planerisch umsäumt von Parkplätzen, Hotels, Grünanlagen, Einkaufsgelegenheiten, neuen Transportsystemen und der Anbindung an Flughäfen und Bahnhöfe.

Teilweise seit Jahrzehnten leben ärmere Bevölkerungsgruppen in Ansiedlungen auf öffentlichem Gelände, von der Stadtverwaltung geduldet. Von den Bauvorhaben wurden sie ungefragt überplant. Auf 150.000 bis 170.000 Familien wird die Gruppe derer geschätzt, die wegen der Fußball-WM von Räumung, dem Verlust ihrer Häuser und ihres sozialen Umfelds bedroht sind. Das sind rund acht Mal mehr Vertreibungen als in Südafrika. Bis Ende 2011 kam es bereits in 21 Ortsteilen und Favelas an sieben der Austragungsstätten zu Zwangsräumungen.

Für die Umbauten und die zugehörige Infrastruktur sind nach bisherigen Schätzungen 11,5 Milliarden Euro eingeplant. Öffentliche Gelder werden für den Immobilien-, Verkehrs- und Tourismussektor abgezweigt, von dem hauptsächlich Besserverdienende und die Gäste profitieren werden (zur WM werden 600.000 ausländische und drei Millionen inländische TouristInnen erwartet). Um die riesigen Summen zu stemmen, werden von Projekten des sozialen Wohnungsbaus, der Erneuerung oder Renovierung von Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen Gelder abgezogen. Es bleibt auf lange Sicht ein Loch in der Kasse zurück.

Trotz des 2009 unter Präsident Lula eingeführten Sozialwohnraumprogramms Minha Casa, minha Vida (Mein Haus, mein Leben) leben nach Angaben des UN Habitat-Berichts von 2010 immer noch über 45 Millionen Menschen in Favelas und prekären Wohnverhältnissen. In Rio werden besetzte Häuser geräumt und der öffentliche Raum durch die Vertreibung von Obdachlosen, BettlerInnen und anderen »hygienisiert«. Das äußere Bild der Stadt wird mit Druck auf die Schnelle aufpoliert. An eine vernünftige Sozialpolitik, die die Wurzeln von Armut und Wohnungsnot angeht, denkt in dieser Phase niemand.

 

Politik des Fakten-Schaffens

Was die gesetzlichen Grundlagen angeht, ist Brasilien in vielerlei Hinsicht gut aufgestellt. Das Recht auf Wohnen ist verfassungsrechtlich ebenso festgeschrieben wie das Recht auf Privateigentum. Der Artikel 11 formuliert im UN-Sozialpakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (ICESCR) das Recht auf Wohnen in Würde. 1992 hat Brasilien das Gesetz ratifiziert. Es umfasst die Sicherheit des Besitzes und im Falle von fehlender Beurkundung des Grundeigentums immerhin den Zugang zu Gerichten im juristischen Streitfall. Ebenso beinhaltet es den Zugang zu sauberem Trinkwasser, Energieversorgung, medizinischer Versorgung und sanitären Anlagen. Es verlangt, dass die Unterkunft bezahlbar und bewohnbar ist (Schutz vor Kälte, Hitze, Feuchtigkeit, Wind und Regen). Garantiert werden soll zudem, dass Bildungseinrichtungen und Arbeitsmöglichkeiten erreichbar sind.

Ab einer Größe von 20.000 EinwohnerInnen ist eine Gemeinde laut Verfassung verpflichtet, einen strategischen Stadtentwicklungsplan aufzustellen, der für einen Zeitraum von zehn Jahren gilt. Seit 1988 ist sogar die Partizipation der Bevölkerung bei Stadtplanungsprozessen durch eine verfassungsrechtliche Norm vorgesehen. Die Zivilgesellschaft hat formelle Mitspracherechte auf Ebene der Unterbezirke. Soweit die Theorie, die Praxis sieht leider häufig anders aus, gerade auch im Konflikt um Siedlungen und Favelas sowie den Flächen für Stadionbauten und Infrastruktur. Öffentliche Anhörungen nach der Präsentation von Stadtentwicklungsplänen finden derzeit nicht statt.

Grundsätzlich wird zeitlicher Verzug gegenüber den Bauplänen als Vorwand genommen, um in großem Umfang Zwangsräumungen durchzuführen. Der Druck von Seiten der FIFA wird als Rechtfertigung für mangelnde Informationen und eine Politik des Fakten-Schaffens verwendet, argumentiert die Bürgerinitiative Copa para quem? in Itaquera/ São Paulo. Tausende werden aus ihrem Wohnumfeld vertrieben, der bezahlbare Zugang zu Wohnraum in der Region nimmt ab. Polizeiliches Vorgehen gegen Obdachlose und eine grundsätzliche Diskriminierung marginalisierter Bevölkerungsschichten mit Umsiedlungen, Räumungen und Vertreibungen sind die direkte Folge.

Die indirekten Folgen sind der sprunghafte Anstieg von Grundstücks- und Wohnraumpreisen in der Region der Austragungsstätten. Auch das führt zur sukzessiven Vertreibung von ärmeren Bevölkerungsschichten. Dank der Megaevents steigen die Immobilienpreise mancherorts auf das Doppelte. Ein Immobilienboom wird losgetreten, spekuliert wird allenthalben. Auch in Itaquera/São Paulo wurden freistehende Gebäude bereits aufgekauft und gewinnbringend vermarktet. An bislang uninteressanten Orten der Stadt werden nun die gleichen Preise erzielt wie in bessergestellten Vierteln. In den vergangenen Monaten sind die Mieten von 600 auf 800 Reais angestiegen, erwartet wird ein weiterer Anstieg bis zu 60 Prozent. Das lokale Bündnis Copa para quem? kritisiert, dass die Wertsteigerung eines Quartiers mit öffentlichen Geldern finanziert wird. Gleichzeitig dürfen Menschen mit geringen finanziellen Ressourcen dort aber nicht mehr wohnen und nicht von den Verbesserungen profitieren.

 

Sachzwang Zeitdruck

Bei der UN-Sonderbehörde für das Recht auf Wohnen in Würde in Genf sind aus mehreren brasilianischen Städten Anzeigen wegen der Benachteiligung durch die Vorbereitungen eingegangen. Die UN-Sonderberichterstatterin für das Recht auf Wohnen in Würde, Raquel Rolnik, die von 2003 bis 2006 im brasilianischen Bundesstädtebauministerium tätig war, stellte in einem Interview fest, dass seit der Übergabe des Ministeriums an die Partido Progressista keine Debatte über Stadtplanung auf Bundesebene mehr stattgefunden habe. Unter dem Zeitdruck sei nur noch akutes Handeln durch die Kommunen möglich. Engagement für urbane Reformen, Mitbestimmung und Kontrolle von unten sowie die Regulierung von Besitztiteln seien längst auf der Strecke geblieben. Rolnik beklagt, dass die WM-Austragungsstädte zur Spielwiese für das Großkapital würden, wohingegen die traditionelle Bewegung für sozialen Wohnraum um Gelder für sozialen Wohnungsbau kämpfen müsse.

Die Herren-Fußball-Weltmeisterschaft 2014 und die Olympiade 2016 drohen Brasilien sozial noch stärker zu spalten. Präsidentin Rousseff verliert gerade wichtige soziale Aufgaben aus dem Blick.

Der Arikel erschien in dem nord-südpolitischen Magazins iz3w (Nr. 332).

Weitere Artikel zur Problematik der Vertreibungen im Kontext der Männer-Fußball-Weltmeisterschaft 2014 finden Sie in der Brasilicum Sonderausgabe 222/223.