Was Jair Bolsonaro heute vor der UN-Generalversammlung NICHT sagen wird

Heute wird Brasiliens rechtsextremer Präsident Jair Bolsonaro vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York eine Rede halten. Hier einige Punkte, die Jair Bolsonaro NICHT ansprechen wird.
| von Christian.russau@fdcl.org
Was Jair Bolsonaro heute vor der UN-Generalversammlung NICHT sagen wird
Bolsonaro 2016 bei der Abstimmung über das Impeachment gegen die Präsidentin Dilma Rousseff. Foto: christian russau

Recht auf Gesundheit bedroht: An die 600.000 Tote durch die von Jair Bolsonaro geleugnete und grob fahrlässig bis hin zu vorsätzlich durch seine Regierung mißachtete Corona-Pandemie in Brasilien geben tragisches Zeugnis dessen, was weite Teile der brasilianischen Bevölkerung mittlerweile der brasilianischen Bundesregierung eines Jair Bolsonaro vorwerfen: gezielt eine genozidale Politik zu betreiben.

Pressefreiheit in Brasilien bedroht: Laut Reporter ohne Grenzen ist Brasilien für Journalist:innen „eines der gefährlichsten Länder Lateinamerikas“. Immer wieder kommt es zu Morden an Journalist:innen. Hetze, Desinformation und Gewalt prägen das Klima gegenüber Journalist:innen, und der Präsident und seine Söhne sind daran aktiv beteiligt. Die Informationsfreiheit wurde weiter eingeschränkt und der journalistische Quellenschutz ist ständigen Angriffen ausgesetzt, etliche investigative Journalist:innen kamen wegen ihrer Recherchen vor Gericht.

Meinungsfreiheit in Brasilien bedroht: Laut Medienberichten und Aussagen von sozialen Bewegungen kommt es seit Bolsonaros Amtsantritt vermehrt zu willkürlichen Verhaftungen durch Militärpolizist:innen, betroffen davon sind Personen, die sich öffentlich kritisch über die Regierung Bolsonaro äußern. Die Bedrohung der Meinungsfreiheit wird zudem in Universitäten, in Kultur als auch durch Dienstanweisungen in Behörden und Ministerien durchgesetzt. Anfang September 2020 wurde im Rahmen des Academic Freedom Projects eine umfassende Studie veröffentlicht, die zu dem Schluss kam, dass die akademische Freiheit in Brasiliens Bolsonaro so gefährdet wie schon lange nicht mehr ist.

Gewerkschaftsfreiheit in Brasilien bedroht: Reformen der Regierung Bolsonaro betreffen die Arbeitsgesetze sowie die Bedingungen für Gewerkschaftsorganisation. Dabei wurden die bürokratischen Hürden für den Eintritt in Gewerkschaften gezielt erschwert. Vor allem für ländliche Arbeiter:innen ist es somit schwer, sich einer Gewerkschaft anzuschließen. Für Bolsonaro gilt: "Die Arbeiter in Brasilien müssen sich entscheiden: Jobs oder Rechte". Laut dem Globalen Rechtsindex 2019 des IGB gehört Brasilien derzeit zu den zehn Ländern der Welt, in denen die Arbeits- und Gewerkschaftsrechte am gravierendsten verletzt werden: Brasiliens erstmalige Listung in dieser Kategorie ist "auf die Verabschiedung regressiver Gesetze, die gewaltsame Unterdrückung von Streiks und Protesten sowie die Bedrohung und Einschüchterung führender Gewerkschaftsvertreter:innen" zurückzuführen.

Ernährungssicherheit in Brasilien bedroht: Rückkehr des Hungers in Brasilien. 116,8 Millionen Brasilianer haben keinen vollständigen und dauerhaften Zugang zu Nahrung, 19 Millionen unter ihnen leiden Hunger, wie aus einer Studie des Brasilianischen Forschungsnetzwerks für Ernährungssicherheit (Rede PENSSAN) mit Daten vom Dezember 2020 hervorgeht. Damit sind mehr als 55 Prozent der Haushalte betroffen, ein Anstieg um 54 Prozent im Vergleich zu 2018. Die Pandemie sowie der Umgang der Bolsonaro-Regierung mit derselben haben daran gewichtigen Anteil.

Rechte von Indigenen und Quilombolas und anderen traditionellen Völkern in Brasilien bedroht: Zunehmende Übergriffe, Angriffe bis hin zu Mordanschlägen auf Indigene, Quilombola und Vertreter:innen weiterer traditioneller Völker stehen in direktem Zusammenhang mit dem von Bolsonaro und seinem Clan mitgeschürten gesellschaftlichem Hassdiskurs und dem politisch gewollten Laissez-faire des faktisch Mächtigeren bei Landkonflikten. Dahinter steht der zunehmende Konflikt im Run auf Land, was die Unversehrtheit der lokalen Territorien (indigen, quilombola, kleinbäuerlich etc) de facto, vor den Gerichten durch Musterfeststellungsklagen de jure wie der Stichtagregelung des "marco temporal" oder durch Gesetzesinitiativen der Bolsonaro-Regierung wie die PL 191 oder die PL 490 auch legislativ aufheben und die Territorien der ungezügelten wirtschaftlichen Inwertsetzung freigeben und den Betroffenen ihr Land mithin wegnehmen soll.

Recht auf friedliche Entwicklung auf dem Lande bedroht: Anstieg der Landkonflikte: Laut dem Jahresbericht der Landpastorale CPT stieg die Anzahl der Gewalttaten von 1.903 im Jahr 2019 auf 2.054 im Jahr 2020. Dies entspricht einem Anstieg von 8%. Dies ist die höchste Anzahl von Landkonflikten, die seit 1985 von der CPT registriert wurde. Die Anzahl der von diesen Konflikten betroffenen Personen stieg von 898.635 im Jahr 2019 auf 914.144 im Jahr 2020.

Agrarreform in Brasilien ist bedroht: Unter Bolsonaro ist die Agrarreform zum absoluten Stillstand gekommen. Die Bolsonaro-Regierung setzt sich explizit gegen die Vergabe von kollektiven Landtiteln ein, stattdessen sollen direkte Individualtitel vergeben werden, was zur Folge hätte, dass diese Ländereien dann den Marktgesetzen ausgeliefert werden. Dies käme einer weitgehenden Privatisierung vor allem in Amazonien gleich.

Umweltrechte in Brasilien bedroht: Umweltrechte wurden durch gezieltes Schleifen des Umweltministerium und Ausrichtung desselben auf die Interessen von Agrobusiness, Bergbaukonzernen und illegalen Goldgräbern und Holzfällern ausgehöhlt. Die Bilder von großflächiger Zerstörung in Amazonien geben beredtes Zeugnis darüber, dass es bei Bolsonaro nicht mehr wie bei Lula und Dilma um einen in Kauf genommenen Gegensatz von "Entwicklung" durch Großprojekte und "Umwelt" geht, sondern Bolsonaro und seiner Clique geht es vielmehr um eine gezielte Zerstörung und Ausbeutung der "Umwelt", gepaart mit einem brutalen Hassdiskurs auf alles, was "indigen", "quilombola" oder "kleinbäuerlich" ist.

Menschenrechte in Brasilien bedroht: In den Städten erschießt die Polizei unter weitestgehender Straflosigkeit in den Favelas und Peripherien der Städte gezielt arme, Schwarze Jugendliche. Bolsonaro liberalisiert weiter die Waffengesetzgebung und tritt für Erweiterung der Straffreiheit von Polizist:innen ein. Die Mehrzahl der in den Gefängnissen einsitzenden Bevölkerung in Brasilien ist Schwarz. Rassismus prägt das Land strukturell und systematisch. Der gesellschaftliche Hass auf Frauen, LGTBQIA*+ - gezielt geschürt durch die erzreaktionären Politiker:innen um Bolsonaro - nimmt ebenso wie der fundamentalistisch-religiöse Hass auf "andere" Religionen massiv zu.

Zivilgesellschaft in Brasilien bedroht: Für die brasilianische Zivilgesellschaft, soziale Bewegungen und insbesondere Menschenrechtsgruppen wird die Lage derzeit immer schwieriger. Shrinking Spaces für die Zivilgesellschaft und die Kriminalisierung der sozialen Bewegungen nehmen zu. Letzteres trifft insbesondere die Landlosenbewegung MST, die Obdachlosenbewegung MTST, die Landpastorale CPT und den Indigenenmissionsrat CIMI, die von Regierungsvertreter:innen öffentlich als „Terroristen“ gebrandmarkt werden. Justizurteile, die sich auf den "Terrorismusvorwurf" stützen, nehmen zu.

Demokratie in Brasilien bedroht: Jair Bolsonaro zweifelt vorab die Wahlergebnisse von 2022 an, sollte er die Wahl verlieren. Bolsonaro und sein Clan, der Medienberichten zufolge glaubhafte enge Verbindungen zu Mafiamilizen hat, spricht unverhohlen von Putsch, von einem Sturm auf den Kongress und Obersten Gerichtshof. Da es bei den Militärs in den aktiven, höheren Rängen spätestens seit März dieses Jahres deutliche Absetzbewegungen zu Bolsonaro gibt, droht Brasiliens Demokratie weniger die Gefahr eines Militärputsches, sondern eher die Gefahr eines „Polizeiputsches“ der militärischen Polizeieinheiten, die Bolsonaro um sich scharen möchte, um die Macht im Lande vollends an sich zu reißen. Dies ist kein Thriller, sondern eine reale Gefahr.

// christian russau