Bedrohter Aktivismus

Drei Wochen nach der Wahl: 120 Akteure der deutsch-brasilianischen Solidaritätsbewegung haben sich vom 16. bis 18. November in Bonn getroffen. Unter dem neu gewählten Präsidenten Jair Bolsonaro befürchten sie Repressionen gegen die sozialen Bewegungen im Land.
| von Eva von Steinburg
Bedrohter Aktivismus
Ausblick auf das Frühjahr

Rio de Janeiro/Bonn – Ab Amtsantritt von Jair Bolsonaro am 1. Januar 2019 könnte die Repression in Brasilien massiv zunehmen. Unter anderen könnte die brasilianische Landlosenbewegung (MST) als terroristische Vereinigung kriminalisiert werden. Soziale Bewegungen in Brasilien sind äußerst besorgt, in Zukunft entrechtet, gegängelt, ruiniert und verboten zu werden. Drei Wochen nach der Wahl des ultrarechten Jair Bolsonaro zum neuen brasilianischen Präsidenten hat die Kooperation Brasilien e.V., in Bonn ein intensives deutsch-brasilianisches Treffen zum erschütternden Rechtsruck nach der Wahl in Brasilien und zu Handlungsstrategien durchgeführt.

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120 Teilnehmer*innen kamen zum „Runden Tisch Brasilien“, der eigentlich zum Thema Jugend geplant war. Getragen wird der Runde Tisch Brasilien von Medico International, terre des hommes Schweiz, FIAN International, der Heinrich-Böll-Stiftung, Mission Eine Welt, Kindermissionswerk die Sternsinger, Misereor, Caritas International, Brot für die Welt, HEKS Kindernothilfe, Missionszentrale der Franziskaner und Adveniat.


Aus Rio de Janeiro waren Jugend-Sozialarbeiterinnen geladen und eine Journalistin aus der Favela. Brasilianische Bildungsexpert*innen und Akteure sozialer Bewegungen haben mit Brasilienfreund*innen und Pfarrern detailliert zum Thema debattiert: „Was tun?“, so ihre Frage vor einem ungewissen, aber möglichen zukünftigen Repressions-Szenario in Brasilien.

Das Klima von Intoleranz, Aggressivität und zunehmender Bedrohung ist auf dem Podium und in Workshops analysiert worden: „Ich weiß nicht, ob ich in einem Jahr noch am Leben sein werde“, sagt Adriano Ferreira von der Bewegung der Landarbeiterinnen und Landarbeiter in Brasilien (MTC). Der Aktivist fürchtet, dass unter der Präsidentschaft von Jair Bolsonaro sein Leben in Gefahr geraten könnte. „Wir haben bereits Anfragen von Brasilianer*innen zu politischem Asyl in Deutschland erhalten“, sagt Fabian Kern, Pressesprecher von KoBra. In der KoBra-Datenbank befinden sich aktuell über mehr als 500 neue Kontakte zu möglichen Helfer*innen im deutschsprachigen Raum.

Referentin Lana de Souza
Vom alternativen Journalismus-Kollektiv „Coletivo Papo Reto“ in Rio de Janeiro ist die Journalistin Lana de Souza auf dem Podium. Die schwarze Journalistin lebt in Rios größter Armensiedlung  „Complexo do Alemão“, deren Bewohner – zur größten Überraschung der jungen Aktivistin - mehrheitlich für den ultrarechten Jair Bolsonaro gestimmt haben: „Einserseits manipuliert von Fake-News über Whatsapp, andererseits weil die intellektuellere Sprache der Arbeiterpartei ohne den Kommunikator Lula dort nicht so gut verstanden wird“, analysiert Lana de Souza.
Als Reaktion auf das mögliche Bedrohungsszenario im Land hat die Dachorganisation aller brasilianischen NGOs gerade beschlossen sich ab sofort öfter zu treffen, berichtet Claudia Fix von Misereor. Die „Abong“ (abong.org.br) wolle verstärkt zur Basisarbeit vor Ort zurückzukehren. Der Verband, dem mehrere hundert brasilianische NGOs angehören, will eine Agenda setzen und nicht nur auf Bolsonaro reagieren.


Podiumsteilnehmerin Regina Leão von der katholischen Jugendpastorale (Pastoral do Menor) konfrontiert den „Runden Tisch“ mit der Zahl, dass in Rio de Janeiro im Durchschnitt jeden Tag 31 junge Menschen zwischen 15 und 29 Jahren ermordet würden. 70 Prozent hätten eine schwarze Hautfarbe. „Das ist ein Genozid an der Jugend“, hält sie fest. Ihr mache Sorge, dass die Regierung Bolsonaro die Gefängnistrafe für jugendliche Straftäter von aktuell höchstens drei auf zehn Jahre erhöhen will.


Referentin Tatiane  AndradeTatiane Elizeu Andrade, vom bekannten Favela-Projekt „Monte Azul“ in São Paulo, merkt an: „Jungen Leuten in Brasiliens Peripherie fehlt die kulturelle Praxis etwas hinterfragen oder aktiv im Internet zu suchen. Jugendliche schauen Videos, die automatisch vorgeschlagen werden.“ Über die Quelle dieser Filmchen würden sie nicht nachdenken. „Es ist wesentlich besser zu informieren, wie man Medien kritisch nutzt“, so ihre Forderung. Die menschliche und politische Strategie, die die Aktivistin aktuell vorschlägt: Sich keinesfalls von Nachbarn oder Familienangehörigen, die Bolsonaro gewählt haben, distanzieren. Stattdessen solle man im Gespräch bleiben und so vielleicht die andere Seite umprägen. „Selbst besser argumentieren lernen, mit Fakten und Zahlen.“


Thomas Fatheuer, KoBra-Vorstand,  thematisiert ein mögliches Dilemma der zukünftigen Entwicklungszusammenarbeit. Als strategisches Partnerland Deutschlands, fänden die Verhandlungen mit Brasilien auf der hohen Ebene direkter Gespräche zwischen  Präsidenten und Kanzlerin  sowie  auf Ministerebene statt. Während der Regierung Temer waren die Regierungskonsultationen zwischen Deutschland und Brasilien ausgesetzt worden.  Die brasilianische Indigenenbehörde FUNAI sei jedoch nun ab 1. Januar 2019   dem Justizminister Sérgio Moro unterstellt. . „Soll die Kooperation fortgeführt werden um das schlimmste zu verhinindern oder müssen wir uns aus einer Regierung mit Bolsonaro und Moro Regierung raushalten? Wir können doch nicht so eine perverse Regierung mit unserem Geld unterstützen“, meint Fatheuer.


Die Forderung des KoBra-Vorstands: Die ersten 100 Tage der Regierung Bolsonaro müssen intensiv beobachtet werden . Die deutsche Regierung müsse sich auf jeden Fall dafür einsetzen, „dass Spielräume für die Aktivist*innen der Zivilgesellschaft und für die Solidarität mit Brasilien erhalten bleiben.“


Als Brasilianer, der in der Unterstützung von Sozialen Bewegungen engagiert ist , geht es Referent Adriano Martins vom MISEROR Partner CAIS um den konkreten Kampf um die Ressourcen: „Die neue Herausforderung heißt Nachhaltigkeit in der Finanzierung unserer sozialen Bewegungen. Wir brauchen mehr Geld und mehr Aktivismus, um die Menschenrechte in Brasilien verteidigen zu können.“


Norbert Bolte vom katholischen Hilfswerk Adveniat in Essen teilt die Sorge über eine mögliche Gefährdung der Partnerorganisationen in Brasilien, „die in sensiblen Punkten tätig sind“. Er spricht aus, was viele fühlen: „Es hat mich berührt, dass Adriano von der Landarbeiterbewegung gesagt hat, dass er heute nicht weiß, ob er in einem Jahr noch lebt.“