Landesregierung von Pará spioniert Indigene aus - mit Mitteln und Strukturen des Schutzprogrammes für Menschenrechtsverteidiger:innen

Laut dem neuesten Bericht "Gewalt gegen indigene Völker in Brasilien" des Indigenenmissionsrates Conselho Indigenista Missionário (CIMI) gab es im vergangenen Jahr 2024 in Brasilien 211 registrierte Morde an Mitgliedern indigener Völker. Laut der Studie "Na Linha de Frente" über Gewalt gegen Menschenrechtsverteidiger:innen in den Jahren 2023 und 2024, die von den brasilianischen Menschenrechtsorganisationen Terra de Direitos und Justiça Global unlängst erstellt wurde (KoBra berichtete), konzentrierte sich ein Fünftel der zwischen 2023 und 2024 in Brasilien registrierten Gewaltfälle gegen Menschenrechtsverteidiger:innen auf den Bundesstaat Pará, mit 103 Vorfällen, darunter sechs Morde. Die meisten Angriffe richteten sich gegen Menschen, die sich für Land, Territorien und Umwelt einsetzen.
Gewalt gegen Indigene - Gewalt gegen Menschenrechtsverteidiger:innen: Beides sind in Brasilien sehr gravierende Menschenrechtsverletzungen, die in großer Zahl, systemisch und systematisch geschehen und verübt werden - meist im Auftrag und im Interesse von mächtigen Wirtschaftsakteur:innen wie Fazendeiros des Agrobusiness', von Bergbauprofiteur:innen oder von Politiker:innen. Dies ist in Brasilien allseits bekannt.
Zumindest punktuell Menschenleben und Menschenrechte schützen sollen u.a. die Schutzprogramme für Menschenrechtsverteidiger:innen. Im Falle des Bundesstaates Pará gibt es ein landeseigenes Schutzprogramm für Menschenrechtsverteidiger:innen, in dem sich aktuell 162 Personen befinden. Dieses Programm soll - wie in anderen Bundesstaaten mit jeweils landeseigenem Schutzprogramm und so wie das Bundesprogramm, das in den mehr als zwanzig Bundesstaaten aktiv ist, in denen es keine landeseigenen Schutzprogramme für Menschenrechtsverteidiger:innen gibt - der Theorie nach, bedrohte Menschenrechtsverteidiger:innen schützen.
Mitte August wurde aber bekannt, dass das Schutzprogramm für Menschenrechtsverteidiger:innen im Bundesstaat Pará zu anderen, der eigentlichen Zielgruppe diametral entgegengesetzten Zwecken von der Landesregierung Helder Barbalhos eingesetzt wurde: zum Ausspionieren, zur Überwachung, zur Kontrolle und Repression der in Pará äußerst aktiv für ihre Menschenrechte sich einsetzenden Menschenrechtsverteidiger:innen indigener Völker des amazonischen Bundesstaates. Die eigentlich Schutzbedürftigen werden durch das landeseigene Schutzprogramm bedroht - so sieht die Sachlage in Pará zwei Monate vor der Weltklimakonferenz COP30 aus.
Die Regierung von Gouverneur Helder Barbalho von der Partei MDB hat während der Proteste in Belém, die im Januar dieses Jahres gegen Online-Unterricht in den indigenen Dörfern begonnen hatten (KoBra berichtete), indigene Anführer:innen ausspioniert: Während die Barbalho-Regierung in Belém gezielt fake news über Indigene verbreiten ließ, während die Militärpolizei teils brutal gegen Indigene vorging, die im Rahmen einer Gebäudebesetzung gegen neue Schulgesetze wie Online-Schulung für Indigene im Bundesstaat protestiert hatten, übermittelten Geheimagent:innen in Echtzeit Informationen an die obersten Regierungsstellen. Formal waren diese Agent:innen dem Programm zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger:innen angeschlossen. "In der Praxis fungierten sie auch als 'Mitarbeiter' des staatlichen Geheimdienstes, der für die Entscheidungsfindung des Gouverneurs und seiner Sekretäre zuständig ist", so die Analyse des Infoportals Jota in der ersten großen Enthüllungsreportage dazu. Auf der Grundlage dieser Informationen erstellte der Geheimdienst mindestens zwei vertrauliche Berichte, in denen die Anführer:innen der Bewegung, ihre Verbündeten, ihre Absichten und ihre Finanzierungswege identifiziert wurden. Die Dokumente dienten demnach der Regierung als Orientierung während der Zeit der größten Unruhen in der Bevölkerung während der beiden Amtszeiten von Helder Barbalho, so Jota.
Mehr als 60 Organisationen der brasilianischen Zivilgesellschaften äußerten in einer gemeinsamen Erklärung ihre:
"tiefe Besorgnis und Empörung über die schwerwiegenden Vorwürfe zum Ausdruck, dass das Staatssekretariat für öffentliche Sicherheit von Pará (Segup) über das Sekretariat für Nachrichtendienst und Kriminalanalyse (SIAC) seine Befugnisse missbraucht, um Menschenrechtsverteidiger:innen, darunter indigene und kommunale Führungskräfte, im Rahmen des Programms zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger:innen in Pará (PPDDH/PA) zu überwachen und zu kontrollieren. Die veröffentlichten Informationen deuten auf eine Zweckentfremdung der staatlichen Struktur hin, wodurch ein Instrument, das zum Schutz gedacht war, zu einem Überwachungs- und Kontrollmechanismus umfunktioniert wurde. Es gibt starke Hinweise darauf, dass sensible Informationen aus dem Programm zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger:innen (PPDDH/PA) illegal angeeignet und für Spionagezwecke genutzt wurden. Dieses Verhalten der Regierung von Pará stellt einen doppelten Angriff auf die Demokratie dar: erstens gegen die Integrität und das Leben der Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger, deren ohnehin schon gefährdete Sicherheit nun noch stärker durch diejenigen bedroht ist, die sie eigentlich schützen sollten; zweitens gegen die öffentliche Schutzpolitik, deren Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit von innen heraus sabotiert wird, wodurch die Grundsätze der Vertraulichkeit und des Vertrauens, auf denen sie beruht, verletzt werden. Die Verwendung geschützter Daten zu politischen Überwachungszwecken verstößt frontal gegen das Allgemeine Datenschutzgesetz (Gesetz Nr. 13.709/2018) und gefährdet die Integrität und Glaubwürdigkeit der öffentlichen Politik zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger:innen."
Die zivilgesellschaftlichen Organisationen Terra de Direitos, Comissão Pastoral da Terra (CPT), Conselho Indígena Tapajós e Arapiuns (CITA), Articulação dos Povos Indígenas do Brasil (Apib), Coordenação das Organizações Indígenas da Amazônia Brasileira (Coiab), Instituto Zé Cláudio e Maria, Coletivo Maparajuba sowie die Sociedade Paraense de Defesa dos Direitos Humanos (SDDH) haben Anfang September einen Bericht an die UN-Sonderberichterstatterin zur Lage von Menschenrechtsverteidigern beim UN-Menschenrechtsrat, Mary Lawlor, übergeben, in dem sie die UNO auffordern, dringende Maßnahmen zur Untersuchung und Ahndung des Missbrauchs vertraulicher Informationen aus dem Programm zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern zu ergreifen.
Das brasilianische Bundesministerium für Menschenrechte und Bürgerliche Teilhabe (MDHC) veröffentlichte eine Stellungnahme, laut welcher es "sofortige Maßnahmen ergriff, sobald es von den Vorwürfen der Einmischung des Sekretariats für öffentliche Sicherheit und soziale Verteidigung von Pará (SEGUP) in das Programm zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern, Kommunikatoren und Umweltschützern (PPDDH) Kenntnis erhielt. In einer öffentlichen Erklärung teilte das SEGUP mit, dass es keine Verbindung zwischen den Beamten, die angeblich an der Überwachung von Menschenrechtsverteidigern beteiligt waren, und dem PPDDH von Pará gebe. Laut SEGUP selbst handelt es sich bei den 'in Überwachungsoperationen erwähnten Mitarbeitern um Personen aus verschiedenen Gemeinschaften, die nicht zum Programm zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern gehören'." Das MDHC erklärte weiterhin, es habe "sofortige Maßnahmen ergriffen, darunter: Treffen mit der UNIPOP, dem Staatssekretariat für ethnische Gleichstellung und Menschenrechte (SEIRDH) und dem Deliberativen Rat des PPDH/PA; Formelle Anforderung von Informationen bei den Sekretariaten für öffentliche Sicherheit und für Menschenrechte und ethnische Gleichstellung von Pará; Aufnahme des Themas in die Tagesordnung der nächsten Sitzung des Bundesdeliberativrats (CONDEL); Verstärkte Schulung von Führungskräften und Teams zu den Vorschriften über Geheimhaltung und Datenschutz."
Auch die Bundesstaatsanwaltschaft MPF erklärte laut Medienberichten, dass sie die Vorwürfe zur Anklage bei der Bundesjustiz bringen werde, da sie die Überwachung der indigenen Bevölkerung durch die Regierung von Pará mittels des Programmes zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger:innen für illegal erachtet.
Die mehr als 60 Organisationen der brasilianischen Zivilgesellschaft hatten in ihrer Erklärung folgende Punkte als prioritär erklärt:
"Vor dem Hintergrund, dass sich der Bundesstaat Pará darauf vorbereitet, 2025 Gastgeber der COP 30 zu sein, stellen solche illegalen Verfolgungsmaßnahmen einen großen Widerspruch dar: Während international ein Bild des Engagements für die Umwelt und die Menschenrechte vermittelt wird, kriminalisiert und bespitzelt die Regierung des Bundesstaates Pará lokal diejenigen, die dafür kämpfen, diese Rechte zu verwirklichen.
Wir würdigen die Arbeit der Verwaltungsstelle des PPDDH/PA, dem Instituto Universidade Popular (Unipop), das erklärt hat, in keiner Verbindung zu den Ereignissen zu stehen. Wir bekunden unsere Unterstützung für diese soziale Organisation und unser Vertrauen in ihr Engagement für den Schutz von Menschenrechtsverteidigern und -verteidigerinnen in Pará.
Wir fordern, dass alle Beschwerden streng und transparent untersucht werden und dass die öffentlichen Bediensteten, die solche Praktiken angeordnet, genehmigt und durchgeführt haben, zur Rechenschaft gezogen werden. Die Nichtdurchführung sofortiger Maßnahmen durch die zuständigen Stellen kann eine Amtsverletzung darstellen und die Situation weiter verschärfen.
Wir bekräftigen die Notwendigkeit, Maßnahmen zur Stärkung des Vertrauens in die Schutzpolitik sowohl in Pará als auch im ganzen Land zu entwickeln. Wir bekräftigen, dass öffentliche Schutzmaßnahmen wirksame Instrumente sein müssen, um das Leben derjenigen zu schützen und zu bewahren, die für die Verteidigung, die Gewährleistung und neue Rechte kämpfen. Die Verteidiger von Rechten zu verteidigen bedeutet, die Demokratie, die Menschenwürde und die gemeinsame Zukunft zu schützen."
// Christian Russau