„Wir müssen genau analysieren, was diese Agenda der Militarisierung bedeuten wird, und wie und was wir dem entgegensetzen müssen“

Interview mit Itamar Silva, Koordinator beim sozialwissenschaftlichen Institut IBASE in Rio de Janeiro. Er ist Bewohner der Favela Santa Marta und Aktivist der Favela-Bewegung.
| von Interview: Christian Russau
„Wir müssen genau analysieren, was diese Agenda der Militarisierung bedeuten wird, und wie und was wir dem entgegensetzen müssen“
Itamar Silva, 18.10.2018, Refugio Berlin, Foto: Christian Russau

Herr Silva, wie bewerten Sie als Aktivist und Bewohner der Favela Santa Marta in Rio de Janeiro die aktuellen Entwicklungen in Brasilien?
Ich denke, dass die aktuelle politische Lage in Brasilien im Allgemeinen und die von Rio de Janeiro im Besonderen äußerst besorgniserregend ist. Besorgniserregend vor allem für alle jene, die wie ich aktiv sind in der Favela-Bewegung von Rio de Janeiro. Denn wir erleben gerade eine Zuspitzung der Politik, die eine Gefahr darstellt sowohl für die ärmeren Bevölkerungsschichten als auch im Besonderen für die Menschenrechtsaktivisten. Auf Bundesebene sehen wir mit dem Ansteigen in Wahlumfragen des in meinen Augen rechtsextremen Kandidaten Jair Bolsonaro, der nach allem Anschein die reale Möglichkeit hat, den zweiten Wahlgang zu gewinnen, bereits jetzt, wo wir uns noch immer im Wahlkampf finden, eine rasante Zunahme beim Zuspruch in der Bevölkerung für einen Diskurs, der konservativ, vorurteilsbelastet und militarisiert ist. Und offensichtlich verfängt ein solcher Diskurs bei einem großen Teil der Bevölkerung Brasiliens.
Parallel dazu haben wir in Rio de Janeiro einen Kandidaten, der durch eine Annäherung an die Figur Bolsonaros und an dessen militär-martialischen Diskurs in den zweiten Wahlgang kam, was gleichfalls sehr besorgniserregend ist. Der Kandidat auf den Gouverneursposten im Bundesstaat Rio de Janeiro, Wilson Witzel, reproduziert das gleiche Narrativ der Konfrontation. Und auch er propagiert die Lösung des Problems der öffentlichen Sicherheit durch eine Militarisierung der Gesellschaft. Diese soll durch eine Bewaffnung der Bevölkerung erfolgen, so als sei dies eine Lösung für die Gewaltsituation.
Vor diesem Hintergrund stellt dies für die Menschenrechtsaktivisten, für die Aktivistinnen und Aktivisten der Favela-Bewegung als auch für die Gruppen, die für das Recht auf Wohnen und angemessenen Wohnraum kämpfen, ebenso wie für die LGTBI* eine große Bedrohung dar. Wir stehen vor einer Herausforderung, von der ich sagen muss, dass ich nicht einzuschätzen vermag, wie das in Zukunft sein wird. Wir müssen genau analysieren, was diese Agenda der Militarisierung bedeuten wird, und wie und was wir dem entgegensetzen müssen.

Der Kandidat auf die Präsidentschaft, der einen faschistischen Diskurs führt, erklärte vor wenigen Tagen, dass er „mit dem Aktivismus ein für alle Mal aufräumen werde“. Kurze Zeit später erklärte der Kandidat auf den Gouverneursposten von Rio de Janeiro, Wilson Witzel, man müsse die anderen „wegkeulen“, so als ging es um Schlachtvieh. Wie bewerten Sie solche Aussagen?
Das ist eine massive Drohung. Wer sagt, er werde allem Aktivimus ein Ende setzen, der hat ein klares Ziel. Er nimmt damit alle Formen des Widerstands ins Visier. Das reicht von den Demonstrationen, die die Frauen unter dem Titel „#Ele Não“ („#Den nicht“, Anm.d.Red.) als massiven Protest gegen ihn organisiert haben, bis hin zu all den Formen des sozialen Aktivismus‘ zur Verteidigung von Grundrechten. Und gleichzeitig erleben wir einen sehr starken Anstieg von jungen, schwarzen Männern aus der Favela, die getötet werden. Daher muss es einen alle Favelas zusammenfassenden und darüber hinaus reichenden Zusammenschluss derjenigen geben, die gegen diesen gezielten Genozid Widerstand leisten. Wenn Bolsonaro davon redet, mit diesem Aktivismus aufzuräumen, dann hat er ganz sicher diese Widerstandsbewegungen im Sinne. Sein Hassdiskurs ist Wegbereiter für solche Gewaltaktionen. Und so schwer dieser Kampf und Widerstand auch sein mögen, wir dürfen keinen Fingerbreit zurückweichen. Denn seien es die aktive Schwarzenbewegungen, die Frauenbewegung, die Bewegung für Wohnraum, da darf es kein Zurückweichen geben, das waren alles Errungenschaften von uns, so klein sie im Vergleich auch erscheinen mögen, aber wir dürfen nicht zurückweichen.

In Rio de Janeiro nahm im Jahr 2008 der Prozess der sogenannten „Befriedungspolitik der Favelas“ seinen Anfang, mit den in den Favelas installierten Einheiten der sogenannten „befriedenden Polizei“, der UPP. Wie bewerten Sie als Aktivist und als Bewohner der Favela Santa Marta, die die erste Favela mit einer UPP war, diese Entwicklung im Rückblick?
Um über diese sogenannten UPP-Einheiten sprechen zu können, müssen wir uns die Situation von Rio de Janeiro im Zeitraum davor anschauen. Rio de Janeiro ist ein Bundesstaat, der schon seit den 1990er Jahren eine sehr hohe Zahl an durch die Polizei getöteten Menschen aufweist. Rio hat also eine lange Geschichte eines menschenrechtsmißachtenden Einsatzes der Polizei in den Gebieten der Favelas. Zeitgleich haben sich in den 1990er Jahren die Territorialkämpfe des Drogenhandels in den Favelas von Rio de Janeiro weiter zugespitzt. Da spitzten sich die Konflikte zwischen den Drogenbanden des Comando Vermelho (CV), der Amigos dos Amigos (AdA) und weiteren kleineren weiter zu. Diese Konflikte folgten der Logik der Kontrolle der Territorien. Es ging dabei nicht mehr nur um die Kontrolle einer einzelnen Favelas, sondern um die Territorialkontrolle über mehrere Favelas. Zugleich haben wir es in Rio de Janeiro mit einer Situation zu tun, in der gewisse Teile der Polizei sehr korrupt sind. Dieser Teil der Polizei agierte immer im Zusammenspiel mit dem Drogenhandel. Sei es, dass sie die eine oder die andere Drogenbande unterstützt haben. Sei es, dass sie Waffenlieferungen an die eine oder die andere Fraktion erleichtert oder gleich selbst direkt geliefert haben. Sei es, dass sie Schmiergeld kassiert haben und dem ganzen einen gewissen Schutz zusicherten. Sei es, dass sie einfach nur die Augen zudrückten oder wegsahen. Alle Konflikte um Territorialkonflikte des Drogenhandels haben also die Polizei im Hintergrund als direkt involvierten Akteur. Darin ist die wissenschaftliche Literatur zu dem Phänomen des Drogenhandels ganz eindeutig und unmissverständlich.
In diesem Umfeld sind die Zahlen der durch die Polizei Getöteten massiv angestiegen. Meist wurden diese schrecklichen Fälle als „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ deklariert, wonach der Polizist aus Notwehr töten musste. In Wahrheit aber handelt es sich bei vielen dieser Fälle um regelrechte Hinrichtungen, etliche von diesen Fällen werden noch immer von der Justiz untersucht. Diese Art von polizeilichem Handeln bedeutet in der Praxis, dass der Polizist in der Favela das Urteil spricht und über Leben und Tod der Menschen entscheidet.
Zeitgleich dazu hatte sich Rio de Janeiro für die Ausrichtung der Olympischen Sommerspiele 2016 beworben und die Wahl darüber für sich entscheiden können. In der Olympia-Bewerbung war die Frage der Sicherheit und der Gewalt im Falle Rios immer einer der wichtigsten Punkte. Der Staat war also unter Zugzwang, irgendwie zu zeigen, dass er die Frage der Gewalt in den Griff bekäme. 2008 kam es dann zum diesem ersten Pilotprojekt, in dem eine Polizeieinheit zu uns in die Favela Santa Marta geschickt wurde, die sich dort niederlassen sollte und von dort aus seine Strategie zur Kontrolle über das Territorium entwickeln sollte. Dazu war Santa Marta explizit ausgewählt worden. Denn Santa Marta ist eine zentrumsnahe, nicht sehr große Favela in Rio de Janeiro, mit rund 6.000 Bewohnerinnen und Bewohnern. Santa Marta eignete sich für dieses Experiment, da es eine fest umrissene Favela ist. Santa Marta ist von allen Seiten räumlich klar begrenzt, durch Mauern der angrenzenden Grundstücke oder durch die Beschaffenheit des Ortes und hat nur zwei Ein- und Ausgänge. Aus strategischen Erwägungen heraus ist sie also vergleichsweise leicht zu kontrollieren. Aber es war ein Experiment. Als die ersten Polizeitruppen am 20. November 2008 in die Favela eindrangen, gab es noch nicht einen langfristigen Plan, nicht einmal den Namen einer „befriedenden Polizeieinheit“ UPP. Aber bereits eine Woche später wurde der Vorgang in den Medien als großer Erfolg gefeiert.

Wie ging das Eindringen der Polizeikräfte in die Favela Santa Marta vonstatten?
Es waren 120 Polizisten, die in die Favela Santa Marta eindrangen. Sie waren bewaffnet, aber es kam da zu keinen Zwischenfällen. Der Drogenhandel ging zunächst davon aus, es handele sich um eine zeitlich begrenzte Aktion, und versteckte sich. Als die Drogengangs merkten, dass die UPP die Favela nicht mehr verlassen würden, da hatten sie die Kontrolle über die Favela bereits verloren. Ihre Waffen haben sie versteckt, für spätere Zeiten. Die darauf folgenden rund sieben Jahre leben die Polizei und der Drogenhandel in der Favela Santa Marta nebeneinander her, wobei der Drogenhandel nun anders ablief. Nicht mehr ostentativ die Waffen zeigend, das Territorium markierend, weniger kriegerisch und weniger konfliktiv.
Aber zurück zur Frage: Was ist das Problem mit den UPP-Polizeieinheiten? Das, was in Santa Marta eine singuläre und besondere Erfahrung war, wurde schnell von der Politik und der Elite Rios zum Modell für die anderen Favelas von Rio de Janeiro erklärt. Vor allem für die im Umkreis der olympischen Sportstätten gelegenen Favelagebiete sollte das umgesetzt werden. Dies folgte dann der Logik des Schutzes des Sportfestes und nicht des Schutzes der Bewohnerinnen und Bewohner.
Der große Fehler begann dort, wo diese UPPs in den großen Favelakomplexen installiert wurden. Weil es ist eine Sache, so etwas in einer kleinen oder mittelgroßen Favela zu machen, etwas anderes ist es, so etwas in großen Favelas wie der Rocinha oder im Complexo do Alemão zu machen. Die sind mit rund 120.000 Bewohnern und einer ungleich größeren Fläche, wo allein schon die geographischen Gegebenheiten ganz anders sind, und wo die Konflikte der Drogenbanden viel umfassender, intensiver und komplexer als in den kleinen Favelas sind, da herrschen ganz andere Bedingungen vor. Statt zuvor erst hinreichend Expertise zu erlangen, wie das in anderen, ungleich anders strukturierten Favelas ablaufen sollte, haben sie das einfach umgesetzt.

Gab es besondere Bedingungen und Voraussetzungen für die in die Favelas entsandten Polizisten?
Zunächst einmal erhielten alle in die UPP-Einheiten entsandten Polizisten eine Sondervergütung. Dann handelte es sich ausnahmslos um neue Polizisten, die gerade erst in den Polizeidienst aufgenommen waren und von daher nicht mit dem alten Polizeisumpf verbandelt waren. Die Sondervergütungen haben dann zu Spannungen innerhalb der Polizei geführt. All die alten Polizisten, die an das Gebe-und-Nehme der alten Polizistengarde gewöhnt waren, fühlten sich benachteiligt und kritisierten die neuen UPP-Polizisten, in dem sie ihnen vorwarfen, eher als Sozialarbeiter statt als Polizisten in den Favelas zu arbeiten. Als dann noch der UPP-Einsatz auf mehr und mehr Favelas ausgeweitet wurde, verfügte die Polizei von Rio de Janeiro nicht mehr über genügend junge Polizisten, so dass nun auch die alten in UPP-Einheiten eingesetzt wurden. Die rio-weite UPP-Führung musste in diesem Prozess der territorialen Ausweitung der UPP dann den einzelnen UPP-Kommandanten mehr Autonomie- und Eigenführung überlassen. Dieser Prozess hat sich dann fortgesetzt, bis er im Jahr 2013 in dem emblematischen Fall der Ermordung des Maurers Amarildo kulminierte, wo klar wurde, wie die im Ursprung als bürgernahe, befriedende Polizei konzipierten Einheiten der gleichen Logik der Gewalt und des Vorgehens der alten Polizei verfielen. Der Leichnam von Amarildo ist bis heute nicht aufgetaucht.
Ich persönlich habe zu Beginn des Einsatzes der UPP-Einheiten die in meinen Augen fortgesetzte Militarisierung der Polizeiarbeit in den Favelas kritisiert, da dies die Fortsetzung der Politik der militärischen Territorialkontrolle der Gebiete der Armen bedeutet. Aber ich muss eingestehen, dass der UPP-Einsatz in einigen Gebieten in der Tat die Zahl der Toten reduziert hat. Im besonderen Fall der Favela Santa Marta haben wir in den sieben Jahren 2008 bis Anfang 2016 der UPP-Einheiten nicht einen einzigen Toten durch gewalttätige Zusammenstöße gehabt. Es gab zwar Vorfälle von Spannungen zwischen den Bewohnern und der Polizei, aber all dies blieb auf einem Niveau, wo es noch unter Kontrolle blieb. Es gab also die Möglichkeit auf ein besseres Zusammenleben, ohne direkte Konfrontation.

Das änderte sich dann ab 2016?
In Santa Marta verschlechterte sich die Situation ab 2016 rapide, in anderen Favelas fing das schon in 2014 an. Im Jahr 2016, während der Olympischen Spiele selbst, war in Rio de Janeiro sehr viel Militär, Zivil- und Militärpolizei auf den Straßen, ganz Rio wirkte wie eingekesselt. Nach den Olympischen Spielen explodierten die Probleme, die zuvor unter dem Deckel gehalten wurden durch die massive Präsenz von Militär und Polizei. In Santa Marta hat dann ab Ende 2016 die Zahl der gewaltsamen Zusammenstöße der Polizei deutlich zugenommen, da die Polizei entschieden hatte, wieder unter Schusswaffeneinsatz in die Favela reinzugehen. Gleichzeitig haben Presseberichten zufolge die Anführer der Drogenbanden entschieden, wieder die direkte Konfrontation mit der Polizei zu suchen.

War das vor allem das Comando Vermelho, das diese Entscheidung getroffen hat?
Laut Presseberichten gab es die stärksten Angriffe von Polizeieinheiten auf die Gebiete, die unter der Kontrolle des Comando Vermelho stehen. Die allgemein vorherrschende Interpretation ist, dass das Comando Vermelho entschieden hat, den Schmiergeldforderungen der Polizei nicht mehr nachzugeben. Dies hat dann zu einer erneuten Ausweitung der gewaltsamen Zusammenstöße von Polizei und Drogenhandel geführt. Das Primeiro Comando da Capital (PCC) hat der allgemeinen Ansicht der sich damit beschäftigenden Wissenschaft zufolge weniger direktes Interesse an der Kontrolle der Drogenverkaufsstellen, sondern eher ein Interesse an der Kontrolle der Fraktionen in den Gefängnissen und an den internationalen und nationalen Drogenhandelsrouten. Natürlich hat das PCC seine lokalen Verbündeten, aber von der Grundstruktur her geht es dem PCC weniger um Territorialkontrolle der Drogenverkaufsverpunkte.

In diesem gewalttätigen Szenario der verschiedenen Machtblöcke spielen ja zudem in den letzten Jahren auch noch vermehrt die Milizen eine Rolle...
In Rio de Janeiro sind die Milizen diejenigen, deren Machtbasis in den letzten Jahren am meisten angestiegen ist. Am Anfang vertraten sie den Diskurs, da, wo die Milizen seien, gäbe es keinen Drogenhandel. Den Milizen ging es demnach am Anfang eher um den „Dienstleistungsbereich“, den Handel mit Haushaltsgasflaschen, der Lokaltransport mit Kleinbussen oder aber dem Eintreiben von Schmiergeldern, die sie von den Bewohnerinnen und Bewohnern ihres Territoriums unter Gewaltandrohung eintreiben, als Gegenleistung für „Sicherheit“. Die Milizen setzen sich zusammen aus Polizisten, Ex-Polizisten, Feuerwehrmännern. Das ist das Spektrum aus dem die Milizen sich bilden.
Nun ist es so, dass ich heutzutage nicht mehr so genau sagen kann, ob das Ursprungsargument der Milizen, gegen Drogenhandel zu sein, noch stimmt. Die Milizen haben in einigen Regionen Aufgaben des Drogenhandels übernommen, und die Drogenbanden sind in Businessbereiche – wie dem Handel mit Gasflaschen beispielsweise – der Milizen eingestiegen. Das ist in mehreren Favelas in Rio de Janeiro so, dass die Drogenbanden den Gashandel unter ihre Kontrolle gebracht haben.
Das erinnert dann ein wenig an das PCC in São Paulo. Das Konzept des PCC sieht vor, dass wer beim PCC Mitglied wird, erhält direkten Zugang zu den vom PCC angebotenen „Dienstleistungen“. Von daher gibt es da Annäherungen bei den Konzepten dieser „Institutionen“. Wer sich also einer dieser Gruppen anschließt, genießt deren Vorteile, sei innerhalb oder außerhalb des Gefängnisses. Bei den Gefängnissen haben wir in den letzten Jahren einen sehr starken Anstieg der Zahlen der Insassen erlebt, und angesichts der Machtsstrukturen innerhalb der Gefängnisse, innerhalb denen der Staat fast abwesend ist und die interne Kontrolle im Gefängnis entweder durch das PCC oder das Comando Vermelho ausgeübt wird. Und heutzutage deutet alles daraufhin, dass sich das Vorgehen – Drogenhandel, Milizen – alles mehr und mehr vermischt.

In diesem sehr gewalttätigen Machtdisput zwischen Drogenhandel, Milizen und Polizei, wo sehen die Bewohnerinnen und Bewohner der Favelas und der Peripherie selbst Möglichkeiten anzusetzen, um die Gewaltsituation zu entschärfen?
Die Bewohnerinnen und Bewohner haben eine sehr, sehr geschwächte Position. Die Bewohner haben niemanden, an den sie sich wenden können. Einerseits sehen sich die Bewohner einem Staat gegenüber, der entweder abwesend ist oder, wenn er sich zeigt, dann mit seinem bewaffneten Arm, der Polizei. Da gibt es keine Stelle, wo die Bewohner ihre Sichtweise darlegen könnten. Sich an die Polizei zu wenden, um Schutz und Sicherheit einzufordern oder zu erbitten, das wird kein Favela-Bewohner machen, niemand wird explizit sich der Polizei als seiner Beschützerin anvertrauen. Auf der anderen Seite ist es der Drogenhandel in den Favelas, der historisch zu den Bewohnern ihrer Favela eine Beziehung hatte. Man könnte diese Beziehung historisch sogar als eine von Respekt bestimmte Beziehung gegenüber den historisch angestammten Bewohnern auffassen.
Heute trifft das nicht mehr zu. Da die unterschiedlichen Drogengangs ihre Territorialkontrolle auf weitere Favelas ausgeweitet haben und sich dabei im immer steten Disput mit anderen Gruppierungen befinden, gibt es Gangs, die Kontrolle und Einfluss auch an anderen Orten ausüben. Die bewaffneten Einheiten der Gangs werden zwischen verschiedenen Favelas neu aufgeteilt und von den Gangs eingesetzt. Die alte Beziehung zwischen lokalem Drogenhandel und Favelabewohner, die man früher gleichsam fast respektvolle Beziehung hätte bezeichnen können, dies gibt es heute nicht mehr. Das Resultat: Die Bewohnerinnen und Bewohner der Favelas sind noch mehr der Willkür und Gewalt durch andere ausgesetzt. Das ist das Szenario, dass heute dazu führt, dass die Bewohner ins Schweigen verfallen, sie sind mundtot. Nun geht es für die Bewohnerinnen und Bewohner der Favelas täglich darum, das eigene Überleben zu sichern, und das garantiert dir am ehesten das Schweigen.
Wenn also heute die Polizei in die Favelas waffenstarrend und gleich schießend in die Favelas einfällt, da wird der einfache Bewohner sofort und ohne Ansicht seiner Person als „marginal“ oder als Drogengangmitglied angesehen. Als Bewohner bist du in einer solchen Situation sofort komplett rechtlos.
Als Folge davon sagt sich der Bewohner oft, besser hier wäre gar keine Polizei, denn mit den Drogengangs kann man Abmachungen treffen und sich arrangieren – und so das eigene Überleben sichern. Und das Ganze ist aber natürlich pervers, weil es eben auch eine auf Macht basierende Beziehung ist. Diese ganze Situation ist also die schlechteste aller Welten, der die Bewohnerinnen und Bewohner der Favelas sich gegenwärtig gegenübersehen.
Gegenwärtig ist es also der gewalttätige Drogenhandel, der sich mit anderen Gruppierungen brutale Territorialkonflikte bietet, die gewaltsame, korrupte Polizei, die ie Bewohner alle über einen Kamm schert und gewaltsam gegen sie vorgeht, und es gibt da die Milizen.
Und am Horizont eine Politik auf Bundes- und Landesebene, die nicht den Weg zum Besseren aufzeigt, ganz im Gegenteil: eine Politik, wie die eines Bolsonaro auf Bundesebene oder die eines Witzel auf Landesebene von Rio de Janeiro zeigt in die Richtung weiterer Gewaltspiralen und mehr gewalttätigen Zusammenstößen. Aus deren Logik und Sichtweise sind die Favelas Wohnorte nur von Kriminellen, die daher keine Rechte hätten. Deswegen sagte ich zu Beginn unseres Interviews, dass wir, die sozialen Bewegungen, die Aktivisten der Favela-Bewegung, intensiv darüber beratschlagen müssen, welche Strategien wir anwenden müssen, um dieser doppelten Bedrohung durch organisierte Kriminalität und durch einen all unsere Rechte missachtenden Staat begegnen werden.

Herr Silva, herzlichen Dank für das Interview.

// Interview: Christian Russau

Itamar Silva arbeitet als Koordinator beim sozialwissenschaftlichen Institut IBASE in Rio de Janeiro. Er ist Aktivist der Favela-Bewegung und Mitglied der Observatório da Intervenção, einer Initiative der Zivilgesellschaft, die im Februar 2018 gegründet wurde, um die Aktivitäten der Militärintervention im Bundesstaat Rio de Janeiro zu beobachten.