Scharfe Wissenschaftler-Kritik an strategischer Umweltverträglichkeitsprüfung zu Asphaltierungsplänen der BR-319 in Amazonien

Die BR-319 erstreckt sich auf 882 Kilometern zwischen der Landeshauptstadt des Bundesstaates Amazonas, Manaus, bis hin nach Porto Velho, der Landeshauptstadt des Bundesstaates Rondônia. 450 Kilometer dieser Bundesstraße sind alsphaltiert, aber ungefähr auf halber Strecke befindet sich ein Teilstück von 400 Kilometern, das nicht asphaltiert ist. Die BR-319 zwischen Manaus und Porto Velho soll nun durchgängig asphaltiert werden und so die noch 400 Kilometer vorhandene Erdpiste zwischen Manaus und Porto Velho ersetzen. Dies hatte Brasiliens Bundesumweltministerin Marina Silva Mitte Juli angekündigt (KoBra berichtete). Demnach habe sich das Kabinett in Brasília auf die Einsetzung einer interministeriellen Kommission geeinigt, die eine strategische Umweltverträglichkeitsprüfung (Avaliação Ambiental Estratégica - AAE) zur Asphaltierung der BR-319 in die Wege leiten werde. An dieser Initiative seien ihr Ministerium für Umwelt und Klimawandel und das Verkehrsministerium unter dem Minister Renan Filho beteiligt, wobei die allgemeine Koordinierung vom Präsidialamt übernommen werde. Das Umweltministerium sei demnach für die exekutive Koordinierung zuständig und werde den Rahmen für die strategische Umweltverträglichkeitsprüfung für den gesamten Einflussbereich der Autobahn festlegen, um sicherzustellen, dass die Entscheidungen über die Arbeiten auf der Grundlage technischer Studien getroffen werden, wobei sowohl die ökologischen Grenzen der Region respektiert und negative Auswirkungen auf das Amazonas-Gebiet vermieden werden sollen.
Nun äußert sich der international renommierte Amazonien-Forscher Philip Fearnside auf dem Hintergrundinformationsportal Amazônia Real und kritisiert die strategische Umweltverträglichkeitsprüfung scharf: Die Umweltministerin Marina Silva habe zwar mehrfach betont, dass die letztliche Entscheidung zur Asphaltierung der BR-319 "technischer Natur" sein werde und ohne politische Einflussnahme getroffen werde. Fearnside aber findet ein vom brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva am 9. September gegebenen Interview problematisch, in dem der Präsident erklärte, dass das Projekt der BR-319 "aus den Startlöchern kommen wird". Lula erklärte das Gleiche gegenüber Gewerkschaftler:innen Mitte September. Fearnside weist in seiner Kritik darauf hin, dass sich solch politische Ankündigung nicht mit dem Versprechen der Entscheidung auf rein "technischer Natur" verträgt. Fearnside mutmaßt deshalb, dass die Genehmigung nach Fertigstellung der strategischen Umweltprüfung unabhängig von deren Inhalt bereits jetzt politisch garantiert sei. "Die Ankündigung dieser Tatsache, bevor der Inhalt der AAE bekannt ist und bevor eine Entscheidung getroffen wurde, ist eindeutig eine Verletzung der Unabhängigkeit des IBAMA", so Fearnside.
Fearnside erläutert in seiner Kritik zudem die grundsätzlich postulierte Rolle einer solchen strategischen Umweltverträglichkeitsprüfung AAE - und wie mit ihr letztlich politisch umgegangen wird: "Tatsächlich spielen Dokumente wie die AAE bei der Genehmigung eine ganz andere Rolle, als Menschen mit wenig Kontakt zum Genehmigungssystem denken. Grundsätzlich kann der Verfasser des Dokuments sagen, was er will, zum Beispiel, dass das betreffende Projekt eine Umweltkatastrophe wäre und nicht durchgeführt werden sollte, aber dennoch dient das Dokument dazu, das Projekt zu genehmigen. In diesem Fall gibt es nur zwei Kästchen zum Ankreuzen: Die AAE wurde durchgeführt, ja oder nein. Es gibt keine Option für "Die Umweltverträglichkeitsprüfung wurde durchgeführt, aber das Projekt wurde auf der Grundlage der Analyse der Autoren abgelehnt". Höchstens würde die IBAMA über das beauftragte Unternehmen die Autoren wiederholt zur Überarbeitung zurückschicken, bis eine Version vorliegt, die eine öffentliche Begründung für die Genehmigung liefert", so Fearnside.
Und er fährt fort: In der Vergangenheit habe es Fälle gegeben, "in denen die Analysten von IBAMA selbst Hunderte von Seiten umfassende Gutachten verfassten, aus denen hervorging, dass Bauvorhaben nicht genehmigt werden sollten, die jedoch letztendlich doch genehmigt wurden. Zu nennen sind hier insbesondere die Wasserkraftwerke am Madeira, Belo Monte und São Manuel", so Fearnside.
Zudem sei es "wichtig zu erkennen, dass kein von MMA, DNIT oder Präsident Lula verkündeter Governance-Plan die Auswirkungen über den schmalen Rand der Autobahn hinaus eindämmen kann. Der Regierung von Amazonas steht es frei, die Landesstraßen zu bauen, die an die BR-319 anschließen würden, darunter die AM-366, die sich 574 km westlich der Autobahn erstrecken würde. Außerdem wäre es nicht möglich, die Abholzung in Gebieten zu kontrollieren, die bereits über Straßen mit Manaus verbunden sind, insbesondere im Bundesstaat Roraima. Die Fischgrätenmuster ab der Straße, die Autazes mit der BR-319 verbindet, sind bereits ein Warnsignal", so Fearnside.
Laut Fearnside löst die Aufnahme einer Reihe von "Auflagen" in den Bericht all diese Probleme nicht: "Die Aufnahme von Auflagen in die Genehmigung durch die IBAMA garantiert nicht, dass diese auch eingehalten werden. Siehe den Fall Belo Monte".
Die Befürworter:innen des BR-319-Projekts argumentierten stets, so die Kritik von Philip Fearnside, "dass die Umweltschäden durch ein "Governance"-Programm kontrolliert werden würden. Doch die Erfahrung der BR-163 zeigten das Gegenteil, so Fearnside: "Als Beispiel für "Governance" diente die Autobahn BR-163 (Santarém-Cuiabá), deren Genehmigung auf der Grundlage des Programms "BR-163 Sustentável" (Nachhaltige BR-163) dazu führte, dass die Autobahn zu einem der größten Brennpunkte für illegale Abholzung, Landraub, Besetzung indigener Gebiete und andere Rechtsverstöße wurde", so Fearnside.