Aide-Mémoires zu Brasilien aus Anlass des Gespräches mit Herrn Außenminister Heiko Maas am 3.2.2021

Brasilien ist stark von der Coronapandemie betroffen, marginalisierte Bevölkerungsgruppen leiden besonders. Neben der anhaltenden Gesundheitskrise forciert die Regierung mit ihrer Politik multiple Krisen und damit die stetige Zunahme von Menschenrechtsverletzungen. KoBra e.V. hat gemeinsam mit Brot für die Welt, Misereor, terre des hommes und der Gesellschaft für bedrohte Völker ein Menschenrechtsdokument verfasst.
| von Uta Grunert
Aide-Mémoires zu Brasilien aus Anlass des Gespräches mit Herrn Außenminister Heiko Maas am 3.2.2021
Foto: Uta Grunert, FSM 2018 Wandbild zu Brumadinho

Brasilien ist stark von der Coronapandemie betroffen, marginalisierte Bevölkerungsgruppen leiden besonders. Neben der anhaltenden Gesundheitskrise forciert die Regierung mit ihrer Politik multiple Krisen und damit die stetige Zunahme von Menschenrechtsverletzungen.

Menschenrechtsverteidiger:innen (MRV) unter Druck

Laut Brasilianischem Komitee für MRV (CBDDH) haben unter der Regierung Bolsonaro Drohungen, Übergriffe und Morde an MRV zugenommen. Von 24 Morden an MRV im Jahr 2019 wurden zehn an indigenen Führungspersonen verübt. Im ersten Halbjahr 2020 wurden 13 Morde registriert. Das 2004 eingerichtete staatliche Schutzprogramm funktioniert nur noch in sechs Bundesstaaten. Ankündigungen, „alle Formen des Aktivismus zu beenden“ und über 440 Angriffe seitens des Präsidenten und seiner politisch aktiven Familienangehörigen auf Journalist:innen legitimieren diese Form der Gewalt.

Aktivist:innen der LGBTIQ-Bewegung und Frauenrechtlerinnen sind besonderen Risiken und insbesondere sexueller Gewalt ausgesetzt. Laut brasilianischem „Gewaltmonitor“ kamen im ersten Halbjahr 2020 landesweit 1.890 Frauen durch Gewalt zu Tode – die Mehrheit davon während der Corona-Pandemie. Mit 631 Fällen ist ein großer Teil dieser Tötungen als Femizid zu bezeichnen, wobei 73 % der Todesopfer Afrobrasilianerinnen waren.

Einige Führungskräfte sozialer Bewegungen wurden unter falschen Anschuldigungen festgenommen. Hinzu kommen Einschränkungen von Beteiligungsmöglichkeiten, z.B. durch die Schaffung eines „Nationalen Rats für den Amazonas-Raum“, der das Engagement von Nichtregierungsorganisationen in der Region zurückdrängt. Auch das Dekret 9759 von 2019 schränkt die Beteiligung der Zivilgesellschaft an Räten und Dialogforen ein. Umstrittene Maßnahmen, wie der Abbau von Umweltstandards, sind so leichter durchzusetzen.

 

Polizeigewalt und Waffen

2019 wurden in Brasilien 48.000 Menschen gewaltsam getötet, 6.357 davon (13%) von Polizei, Militär oder anderen staatlichen Sicherheitskräften: Absolut als auch prozentual einer der höchsten Werte weltweit. Dieser neue Rekordwert liegt fast dreimal höher als der Wert von 2013.1 99% der Opfer von Polizeigewalt sind männlich, 79% sind Schwarze, 74% sind Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 15 und 29 Jahren, hinzukommen noch viele Kinder unter 15 Jahre.

Die Polizei geht gegen Kinder und Jugendliche oft brutaler vor als gegen Erwachsene. Im Bundesstaat São Paulo z.B. werden Kinder und Jugendliche bei Festnahmen durch die Polizei fast doppelt so oft getötet wie Erwachsene: 6,1 bei 1.000 Festnahmen im Vergleich zu 3,4 Erwachsenen.

Misshandlungen, Gewalt und willkürliche Verhaftungen von Kindern und Jugendlichen sind an der Tagesordnung.2 Kinder und Jugendliche sind generell besonders von Gewalt betroffen: Im Jahr 2018 wurden in Brasilien über 10.000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren getötet, etwa dreiviertel mit Schusswaffen.

Die Polizeigewalt wird durch Politiker wie Staatspräsident Jair Bolsonaro, São Paulos Gouverneur João Dória oder Rios Gouverneur Wilson Witzel massiv angeheizt und auch mit Dekreten und gesetzlichen Regelungen gefördert, die beispielsweise die schon sehr hohe Straflosigkeit bei Polizeigewalt noch weiter begünstigen. Zudem wurde durch die Regierung Bolsonaro sowohl der Waffenimport als auch der Erwerb von Waffen für Zivilist:innen stark erleichtert, was 2019 zu einer Erhöhung der Registrierungen von Waffen durch Zivilpersonen um 98% führte. Viele der Waffen von Polizei und Militär stammen von deutschen Herstellern, vor allem von Heckler & Koch und Sig Sauer. Laut SIPRI 3 hat Deutschland zwischen 2008 und 2018 Rüstungsgüter im Wert von 544 Millionen US-Dollar nach Brasilien exportiert, darunter viele sog. Kleinwaffen und Munition, und war damit der größte Rüstungsexporteur nach Brasilien, vor den USA und Frankreich. Der Mord an der Stadträtin Marielle Franco aus Rio de Janeiro, einer Kritikerin von Polizeigewalt, wurde nach Ermittlungen der Staatsanwaltschaft mit einer MP5-Maschinenpistole von Heckler & Koch verübt, vermutlich von einem Ex-Militär. Bei brutalen Polizeieinsätzen in dicht bevölkerten Vierteln werden nicht nur regelmäßig deutsche Kleinwaffen und Munition eingesetzt, sondern auch Hubschrauber des deutsch-französischen Herstellers Airbus.4

Verletzung der Rechte indigener Bevölkerung

Nach Angaben des brasilianischen Instituts für Geografie und Statistik (IBGE, 2010) leben rund 897.000 Indigene in Brasilien. Ihr Lebensstandard ist deutlich niedriger als der der brasilianischen Mehrheitsbevölkerung. Die indigenenfeindliche Politik der Regierung Bolsonaro trägt aktuell zu einer Verschärfung der Situation bei.5 Erklärtes Regierungsziel ist z.B. die Erschließung des Amazonasgebietes durch Infrastrukturmaßnahmen, multinationale Bergbauprojekte und eine Ausweitung von Rinderzucht und Landwirtschaft. Staatlichen Instanzen wie der Indigenenbehörde FUNAI, der indigenen Gesundheitsbehörde SESAI und dem Institut für Umwelt und erneuerbare natürliche Ressourcen IBAMA wurden durch drastische Haushaltskürzungen die Mittel entzogen und verhindert, dass sie ihrem Schutzauftrag nachkommen.

Die unkontrollierte geopolitische Öffnung Amazoniens und die akute Straflosigkeit lassen die Abholzung steil ansteigen. Satellitenbilder der brasilianischen Weltraumbehörde Inpe zeigen eine Zerstörung von 11.088 Quadratkilometer Regenwald von August 2019 bis einschließlich Juli 2020, eine Steigerung um 9,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Waldbrände auf indigenen Gebieten nahmen um das bis zu 13-fache zu.6 Auch die Bergbauaktivitäten auf indigenem Land haben signifikant zugenommen. Aktuell gibt es 58 bereits genehmigte Bergbauanträge auf indigenem Land im Amazonasgebiet.7

Damit eng im Zusammenhang steht der massive Anstieg der Gewalt gegen Indigene in Brasilien. Zahlen des Indigenenmissionsrats CIMI8 zeigen eine starke Zunahme von Landraub, illegalen Invasionen in Schutzgebiete und Enteignung indigener Gebiete im Jahr 2019. 113 Indigene wurden 2019 getötet. Ein Großteil der Gewaltverbrechen wird nicht aufgeklärt. Die Zahl der Invasionen in indigene Gebiete hat sich 2019 gegenüber 2018 mehr als verdoppelt (256 zu 109 registrierte Fälle). Die Ausweisung weiterer Schutzgebiete ist seit Amtsantritt Bolsonaros komplett zum Erliegen gekommen.

 

Konflikte um Land und Wasser weiten sich aus

Die Fachstelle der brasilianischen Bischofskonferenz für Landfragen CPT stellt im Jahresbericht 2019 fest, dass 2018 fast eine Million Menschen in Landkonflikte verwickelt waren. 960.630 Menschen wurden im Rahmen von Landstreitigkeiten Opfer von Gewalt, gegenüber 2017 ein Anstieg von 35,6 Prozent. 2018 bis 2019 gab es nochmals einen Anstieg der Landkonflikte um 23 Prozent, die höchste Zahl seit 1985. Die Konflikte um Wasserressourcen haben sogar um 77 Prozent zugenommen. Laut CPT-Bericht wurden 50,4 Prozent der Kämpfe um Wasser von Bergbauunternehmen ausgelöst; ein Großteil davon im Zusammenhang mit Wasserkraftwerken. Die Wasserkonflikte werden in vielen Fällen von Bergbauvorhaben mit Beteiligung internationaler Geldgeber hervorgerufen.

Der CPT-Bericht weist auch auf die Problematik der Umweltdelikte hin: Zwischen 2000 und 2018 wurden 363 Arbeitnehmer:innen Opfer von Pestizid-Vergiftungen. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen, da viele Arbeiter:innen fürchten, ihren Arbeitsplatz zu verlieren und darum die meisten dieser Fälle nie zur Anzeige kommen.

 

Konkrete Anfragen bzw. Empfehlungen (an die Politik/Diplomatie):

 ·       Konsequenter Einsatz für eine Verbesserung der Menschen- und insbesondere Kinderrechtslage und für einen besseren Schutz von MRV als ein Schwerpunkt deutscher Diplomatie und Entwicklungszusammenarbeit. Bilaterale Vereinbarungen der Bundesre-gierung sollten eine regelmäßige Überprüfung unter Beteiligung der engagierten brasilianischen Zivilgesellschaft sowie robuste Sanktionsmechanismen vorsehen.

·       Festlegung verbindlicher Menschenrechtsklauseln in Handelsverträgen mit Brasilien wie dem EU-Mercosur-Abkommen: Nachhaltigkeitskapitel mit Sanktionsoptionen und verbindlichen Regeln zur Unternehmensverantwortung sowie effektivere zivilgesellschaftliche Monitoring- und Beschwerdemechanismen. Nachbesserung des Vorsorgeprinzips im Kapitel über sanitäre und phytosanitäre Maßnahmen, um den extensiven Einsatz von Pestiziden verbraucherrechtlich zu kontrollieren, besonders jenen, die in Europa bereits verboten sind.

·       Sofortiger Stopp aller Exporte von Rüstungsgütern und Munition nach Brasilien. Überprü-fung des Endverbleibs der bereits gelieferten Rüstungsgüter, insbesondere von Kleinwaffen und Munition. Konsequenter Einsatz für Rechtstaatlichkeit und Ende der hohen Straflosig-keit in Brasilien, insbesondere bei Strafverfolgung staatlicher Akteure (Polizei, Militär).

·       Deutschland soll sich im VN-Menschenrechtsrat dafür einsetzen, dass Brasilien seine vertraglichen Verpflichtungen gegenüber seiner indigenen Bevölkerung nachprüfbar einhält und internationale Abkommen wie die ILO 169 und die VN-Deklaration über die Rechte indigener Völker UNDRIP respektiert.

 

Kontaktdaten:

 

Misereor: Anna Moser anna.moser@misereor.de Tel. 0241-442-230

 

Terre des hommes Deutschland: Ralf Willinger r.willinger@tdh.de Tel. 0541-7101-108

 

Brot für die Welt: Martina Winkler martina.winkler@brot-für-die-welt.de Tel. 030-65211-1428

Mathias Fernsebner mathias.fernsebner@brot-fuer-die-welt.de  Tel. 030-65211-1427

 

Gesellschaft für bedrohte Völker: Juliana Lumiko Miyazaki, j.miyazaki@gfbv.de

Tel. 0551-49906-23

 

Kooperation Brasilien – KoBra e.V.: Uta Grunert, uta.grunert@kooperation-brasilien.org

Tel. 0761-6006926

 

 

Quellen:

 

1 Anuário Brasileiro de Segurança Publica 2020. https://forumseguranca.org.br/wp-content/uploads/2020/10/anuario-14-2020-v1-final.pdf

2 “Jugendliche im Visier der Polizei”, R.Willinger & A.Zellhuber, https://www.kooperation-brasilien.org/de/publikationen/brasilicum/258-259-kommunikation-und-aktion-in-der-krise-wertewandel-in-brasilien oder https://www.tdh.de/was-wir-tun/projekte/suedamerika/brasilien.html (hier wird der Artikel demnächst online erscheinen)

3 https://www.sipri.org/databases/armstransfers

4 Studie „Kleinwaffen in kleinen Händen: Deutsche Rüstungsexporte verletzen Kinderrechte“, 2020. Hrsg. Brot für die Welt und terre des hommes. www.tdh.de/kleinwaffen

5 https://www.gfbv.de/fileadmin/redaktion/UN-statements/2020/Infringement_of_indigenous_rights_in_Brazil_while_attention_is_on_COVID-19_crisis.pdf 

 

6 https://reporterbrasil.org.br/2020/11/abandonadas-pela-funai-60-das-terras-indigenas-sao-devastadas-100-mil-focos-de-incendio

 

7 https://www.dw.com/pt-br/levantamento-mostra-avan%C3%A7o-da-minera%C3%A7%C3%A3o-em-terras-ind%C3%ADgenas/a-55713592

 

8 https://cimi.org.br/2020/09/em-2019-terras-indigenas-invadidas-modo-ostensivo-brasil/