Offener Brief an den VW-Konzern: Urteilsspruch anerkennen!

Die Brasilieninitiative Freiburg und der Dachverband der Kritischen Aktionär:innen wenden sich heute in einem Offenen Brief an den Vorstand und Aufsichtsrat der Volkswagen AG, das am 29. August 2025 in der amazonischen Stadt Redenção vom zuständigen Gericht des Tribunal Regional do Trabalho da 8ª Região in der „Ação Civil Pública Cível 0001135-97.2024.5.08.0118“ vom amtierenden Amtsrichters Otavio Bruno da Silva Ferreira verhängte erstinstanzliche Urteil im Fall der sklavenarbeitsähnlichen Zwangsverhältnisse auf der VW-Farm Vale do Rio Cristalino (1974-1986) anzuerkennen. KoBra dokumentiert hier den Offenen Brief.
| von Brasiilieninitiative Freiburg
Offener Brief an den VW-Konzern: Urteilsspruch anerkennen!

Quelle: Brasilieninitiative Freiburg und Dachverband der Kritischen Aktionär:innen

Freiburg i.Br./Köln/Berlin, 15.09.2025

Offener Brief an den VW-Konzern: Urteilsspruch in Brasilien muss angenommen werden

An die Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats der Volkswagen AG

Sehr geehrte Damen und Herren von Vorstand und Aufsichtsrat der VW AG,
mit großem Befremden nehmen wir die Medienberichte zur Kenntnis, nach denen Ihr hundertprozentiges Tochterunternehmen, Volkswagen do Brasil Indústria de Veículos Automotores Ltda. die Absicht verkündet hat, gegen das am 29. August 2025 in Redenção im brasilianischen Bundesstaat Pará vom Gericht Tribunal Regional do Trabalho da 8ª Região gegen VW do Brasil gefällte Urteil in Berufung zu gehen. 
Das Gericht hat in seinem Urteil des im Dezember 2024 eröffneten Verfahrens (Ação Civil Pública Cível 0001135-97.2024.5.08.0118) Volkswagen do Brasil Indústria de Veículos Automotores Ltda. erstinstanzlich zu einer Strafzahlung in Höhe von 165 Mio Reais (derzeit ungerechnet 25 Mio Euro) verurteilt. Das Gericht sah es in Folge der umfangreichen Zeugenaussagen sowie der dem Gericht vorgelegten Beweise als erwiesen an, dass es auf der VW-Rinderfarm Vale do Rio Cristalino zwischen 1974 und 1986 sklavenarbeitsähnliche Zwangsverhältnisse gab. Neben der materiellen Strafe muss Volkswagen do Brasil zudem „öffentlich seine Verantwortung eingestehen“ und „die Arbeiter*innen sowie die ganze Gesellschaft um Entschuldigung bitten“, so das Urteil
Medienberichte zitierten Volkswagen mit der Ankündigung, gegen die Gerichtsentscheidung Berufung einzulegen. Demnach teilten Konzernverantwortliche auf Medienanfrage der ARD schriftlich mit: „Mit seiner 72-jährigen Tradition bekennt sich das Unternehmen konsequent zu den Prinzipien der Menschenwürde und hält sich strikt an alle geltenden Arbeitsgesetze und -vorschriften.“
Der Prozess wie auch das Urteil zeigen aber deutlich, dass dieses vom Konzern postulierte Bekenntnis zu den Prinzipien der Menschenwürde im Fall der VW-Rinderzuchtfarm Vale do Rio Cristalino zwischen 1974 und 1986 für einen Großteil der lokalen Arbeiter*innen des VW-Farmgeländes eben nicht galt.
Nun ist es in Rechtsstaaten ein gutes und wichtiges Recht, Berufung einzulegen und eine erneute Überprüfung des erstinstanzlichen Urteils zu beantragen. Gleichzeitig zeigt Volkswagen mit der Ankündigung der Berufung aber auch, dass die Konzernverantwortlichen das Grundproblem nicht erkannt haben oder nicht erkennen wollen: Denn laut der Tageszeitung Folha de São Paulo vom März 2023 beharrten die Rechtsvertreter:innen des Unternehmens bereits damals gegenüber der ermittelnden brasilianischen Staatsanwaltschaft auf dem Argument, dass Volkswagen keine Verantwortung für die damaligen Geschehnisse auf dem Grundstück trage. Unverblümt folgte VW mit dieser Aussage auf der Argumentationskette, die die Firma bereits Mitte der 1980er gefahren hatte, als die ersten Anschuldigungen über sklavenarbeitsähnliche Zwangsverhältnisse auf der VW-Fazenda Rio Cristalino international bekannt wurden: VW habe mit der Sklavenarbeit vor Ort auf ihrer Fazenda nichts zu tun, schließlich seien die dort Tätigen ja über Drittfirmen dort beschäftigt. Nicht also der Tatbestand selbst wurde damals in Abrede gestellt, sondern die eigene Verantwortung dafür bestritten.

Wenn Volkswagen nun  wie angekündigt in  Berufung geht, dann kann sich VW angesichts der erstinstanzlich erdrückenden Beweislage, dass es de facto zu sklavenarbeitsähnlichen Zwangsverhältnisse auf der VW-Farm kam, nur wiederum auf das fadenscheinige und falsche Argument berufen, die Verantwortung dafür trüge nicht VW, sondern Dritte, die damaligen sogenannten „Gatos“ („Arbeitsvermittler“ in Amazonien jener Zeit). Anerkennung der Prinzipien der Menschenwürde würde aber eben bedeuten, die historische Verantwortung zu übernehmen. 
Die Brasilieninitiative Freiburg e.V. und der Dachverband der Kritischen Aktionärinnen und Aktionäre  fordert Sie hiermit auf, den Urteilsspruch der ersten Instanz anzunehmen. Ein Einspruch hätte eine weitere Verzögerung zur Folge, wäre unverantwortlich und angesichts der vorliegenden Dokumente und Zeugenaussagen zudem unverständlich. Die 297-seitige Urteilsbegründung zeigt dies detailliert auf. 
Es ist auch aus ethischen Gründen nicht vertretbar, diesen Prozess weiter hinauszuzögern, zu warten, bis keiner der damaligen Landarbeiter mehr lebt.
AKZEPTIEREN Sie den Urteilsspruch und beenden Sie das unwürdige Schauspiel einer weiteren Verschleppung. VW sollte sich endlich zu seiner historischen Verantwortung bekennen. 

Für den Dachverband der Kritischen Aktionär:innen    

Christian Russau

Für die Brasilieninitiative Freiburg e.V.

Günther Schulz                  
                                              

 

Die Brasilieninitiative Freiburg e.V. macht  seit den 1980er Jahren auf die Vorkommnisse auf der VW-Rinderzuchtfarm aufmerksam (siehe u.a. https://brasilieninitiative.de/vw) und auch die Kritischen Aktionäre weisen seit 2020 immer wieder auf der Jahreshauptversammlung auf die damaligen, menschenrechtsverletzenden Zustände auf der VW-Rinderzuchtfarm hin (siehe u.a. https://www.kritischeaktionaere.de/?s=cristalino).