Agrartreibstoffe - Zertifizierung als Ausweg?

Seit das IPCC im Februar 2007 seinen Klimabericht veröffentlicht hat, scheinen Agrotreibstoffe zum Allheilmittel gegen den Klimawandel avanciert. Der Boom, der sich in den letzten Jahren bereits angekündigt hatte und 2006 entgültig ins Rollen kam, nimmt seither einen noch schnelleren Verlauf an.
| von admin

Bei Agrotreibstoffen unterscheidet man zwischen Agrodiesel und Agroethanol. Während Agrodiesel aus ölhaltigen Pflanzen wie Soja, Palmfrüchten, Rizinus, Sonnenblumen, Raps etc. gewonnen wird, stellt man Agroethanol aus stärkehaltigen Pflanzen her, also aus Zuckerrohr, Mais, der Zuckerrübe und zukünftig auch aus Zellulose – bspw. Eukalyptus. Agrodiesel produziert man in Brasilien bislang nur für den internen Konsum, wobei er als potentielles Exportprodukt zunehmend interessant wird. Brasilianischer Agroethanol wird aus Zuckerrohr hergestellt, und zwar sowohl für den internen Konsum als auch für den Export, u.a. nach Indien, Japan, in die Niederlande, die USA und nach Schweden [1]. Der Export steigt rasant an. Wurden im April 2006 noch 144,3 Mio Liter Ethanol exportiert, waren es im April dieses Jahres schon 283,9 Mio Liter – fast doppelt so viel [2]. Auf bilateraler Ebene vereinbarten Bush und Lula Anfang März einen Technologie-Austausch für die Ethanolproduktion, gemeinsame technische Normen und Investitionen in den Bau von Biospritanlagen in den Ländern Zentralamerikas und der Karibik. Dabei soll im internationalen Handel nach dem Willen von Bush der Treibstoff-Alkohol als „Energierohstoff“ und nicht als Agrarprodukt klassifiziert werden. Hierdurch könnten die USA die WTO-Normen für Agrarprodukte umgehen, was ihnen den Schutz der heimischen Produktion erlaubt. Und so erfüllte sich auch nicht die mit den Verhandlungen verbundene Hoffnung brasilianischer Exporteure, dass die USA ihre hohen Einfuhrzölle von derzeit 0,54 US-Dollar pro importierter Gallone Alkoholtreibstoff senken würden. Lula fand das Abkommen dennoch interessant, wittert Brasilien doch einen Markt zum Export seines Know-hows. Im Jahr 2025 will Brasilien 10 % des globalen Benzinkonsums durch Ethanol abdecken. In Bezug auf Biodiesel gibt es als Zielvorgabe die Beimischungsziele für den nationalen Markt: mindestens 2 % Agrodiesel sollen dem herkömmlichen Diesel ab 2008 und mindestens 5 % ab 2010 beigemischt werden. Die 5 %-Marke zog Lula erst kürzlich von 2013 auf 2010 vor. Um diese Ziele zu erreichen, sollen die Anbauflächen für Zuckerrohr von heute 7 Mio ha auf 30 Mio ha ausgedehnt werden [3]. Bei der Sojaproduktion geht das brasilianische Agrarministerium von einer Erhöhung der Produktionsmenge von heute 52 Mio t auf 72 Mio t in den Jahren 2015/2016 aus. Die USA werden ihre Sojaproduktion zugunsten von Mais um voraussichtlich 11 % [4] senken – beste Voraussetzungen also für eine weitere Sojaexpansion in Brasilien. Insgesamt rechnet das Ministerium für Agrarentwicklung, MDA, mit der Bewirtschaftung von etwa 20 Mio ha neuer Flächen für Ölpflanzen; davon ca. 6 Mio ha für Palmen. Rizinus im Mischanbau wird mit dabei maximal 600.000 ha Fläche eher marginal bleiben [5]. Insgesamt sollen also in Brasilien etwa 50 Mio ha neue Flächen für den Energiepflanzenmarkt zur Verfügung stehen – das entspricht etwa einem Viertel der im Agroplan 2006 der brasilianischen Regierung geschätzten gesamten landwirtschaftlich nutzbaren Fläche des Landes.

Agrotreibstoffe und soziale Bewegungen

Die Auswirkungen des rasanten Wachstums des Agrotreibstoff-Sektors geraten zunehmend in die Kritik von NGOs und sozialen Bewegungen. Die erhöhte Nachfrage nach Nahrungspflanzen für die Herstellung von Agrotreibstoffen hat bereits zu Preisanstiegen bei wichtigen Grundnahrungsmitteln weltweit geführt. Es zeigt sich eine Tendenz, dass nur wenige Pflanzenarten genutzt werden, und so zunehmend mehr großflächige Monokulturen zur Herstellung von Agrotreibstoffen entstehen. Doch auf den Ländereien, die für die Flächenexpansion nötig sind, leben auch heute schon Bauern, indigene Völker, oder befindet sich ökologisch wertvolle Natur. Die dort ansässigen Menschen haben zum Teil keine Landtitel und werden vertrieben, Bauern mit Titeln verkaufen ihr Land und investieren in Viehweiden – hauptsächlich im Amazonasgebiet, wo es dann zur Abholzung kommt. Dementsprechend ist nicht einmal sicher, ob und welche Agrotreibstoffe eine positive Klimagesamtbilanz aufweisen. Die existierenden Studien zur Berechnung der Klimabilanz von Agrotreibstoffen beziehen solche mittelbaren Effekte auf den Treibstoffausstoß i.d.R. nicht mit ein. Die brasilianische Regierung wird nicht müde darauf zu bestehen, dass die Ausweitung der Pflanzenproduktion als Brennstoff möglich sei, ohne dass es zu negativen Folgewirkungen oder gar einer Konkurrenz der Nahrungsmittel mit Treibstoffen komme. Die Regierung spricht inzwischen von brasilienweit 320 Mio ha landwirtschaftlich nutzbarer Fläche [6] – da machten ein paar Millionen Hektar mehr oder weniger für den Treibstoff auch nichts aus. Schade nur, dass die Agrarindustrie die Regierung vorher nicht fragen wird, welches denn die „freien“ Flächen sind, die für den Treibstoffanbau zur Verfügung stehen. Schade auch, dass Menschen ohne Landtitel nicht in den Statistiken auftauchen, und das von ihnen bewirtschaftete Land so als „freie“ Fläche mitzählt. Auch berücksichtigen Studien, die bspw. von über 90 Mio ha „freier“ Fläche für den Agropflanzenanbau im Cerrado sprechen, die Bedeutung der dortigen Ökosysteme nicht, die hierdurch zerstört werden und die wichtige Flusssysteme in Brasilien (São Francisco, Araguaia/Tocantins, u.a.) mit Wasser versorgen [7]. Da die brasilianische Regierung immer stärker zugunsten des brasilianischen Agrobusiness agiert und negative Folgewirkungen des Agrotreibstoffbooms notorisch negiert, sind die NGOs und sozialen Bewegungen in Brasilien derzeit vor allem damit beschäftigt, überhaupt auf die negativen Folgewirkungen des Booms hinzuweisen. Sie setzen dabei aber unterschiedliche Akzente. Die sozialen Bewegungen betonen vor allem das Problem der Monokulturwirtschaft und Landverteilungskonflikte. Die großen brasilianischen Umweltorganisationen hingegen stellen Monokultur und Großgrundbesitz eher nicht in Frage [8], sondern befassen sich vorrangig mit dem Problem der Abholzung. Grundsätzliche Kritik an Agrotreibstoffen kommt von der internationalen Bauernorganisation Via Campesina und der brasilianischen Landlosenbewegung MST [9]. Beide Organisationen sehen die Interessen der Erdöl- und Automobilindustrie sowie der multinationalen Saatgut- und Agrarhandelsunternehmen, die zugleich auch im Gentechnikgeschäft aktiv sind [10], als treibende Kräfte hinter dem Boom, so dass der Klimawandel letztlich ein willkommenes Argument ist, um die gefährdeten Absatzmärkte zu sichern. Sie empfehlen die radikale Umstellung des Individualverkehrs auf kollektive Transportmittel und Effizienzsteigerungen in der Energieproduktion. Der MST formuliert folgende Mindestkriterien für den Anbau von Agrotreibstoffen: die Nahrungsmittelproduktion müsse im Vordergrund stehen, die Energieproduktion solle in Koexistenz mit anderen Agrarkulturen stattfinden, lokale Produktion und lokaler Verbrauch seien zu fördern. Dementsprechend seien Verflechtungssysteme mit großen Unternehmen zu vermeiden; statt dessen sollte die Teilhabe der Kleinbauern am größtmöglichen Teil der Produktionskette und damit der Wertschöpfung gesichert werden. Dies ist unter anderem auch eine Kritik am brasilianischen Biodieselprogramm.

Exkurs I: Strukturelle Probleme im Biodieselprogramm

Brasilien hat bereits aus den 70er Jahren Erfahrungen mit Agrotreibstoffen, als anlässlich der ersten Ölkrise das Proálcool-Programm die Herstellung von Ethanoltreibstoff aus Zuckerrohr förderte. Anfang 2005 legte Lula das brasilianische Biodieselprogramm auf. Es sieht vor, dem Dieseltreibstoff ab 2008 mindestens 2 % Pflanzendiesel zuzusetzen; ab 2010 (ursprünglich 2013) sollen es mindestens 5 % sein. Die Produzenten erhalten Vergünstigungen bei den Sozialabgaben, die sich nach Standort, Produkt und Betriebsgröße unterscheiden, so dass vor allem kleinbäuerliche Familienbetriebe in ärmeren Regionen stärker begünstigt werden. Auf die Produktion bspw. der Dendê-Palme und Rizinus fallen weniger Sozialabgaben an, weil diese vor allem in kleinbäuerlicher Familienwirtschaft erfolgt, während Soja in erster Linie von Großbauern produziert und daher nicht begünstigt wird. Die weiterverarbeitende Industrie erhält ein Sozialsiegel, wenn sie einen Mindestprozentsatz ihrer Vorprodukte von Kleinbauern liefern läßt. Das Siegel ist derzeit noch Voraussetzung dafür, dass die Produktion beigemischt werden darf. Bei dem Programm zeichnet sich inzwischen ab, dass Soja, entgegen den ursprünglichen Hoffnungen, das Rennen als Vorprodukt für Agrodiesel macht. Derzeit ist mit 60 % deutlich mehr als die Hälfte des Rohstoffes für die Agrodieselproduktion Soja. Was sind die Gründe für diese Entwicklung? Zum einen gibt es Transportprobleme in den abseits der großen Transportrouten liegenden Kleinbauerngebieten [11]. Hinzu kommt, dass eine schnelle Produktionsausweitung vor allem den Sojabauern möglich ist: Pflanzenöl aus Soja ist ein Nebenprodukt in der Sojaproduktion [12], und die derzeitigen Anbauflächen für Soja sind noch mehr als ausreichend, um die Agrodieselnachfrage sofort zu befriedigen. Insofern begünstigt der Markt vor allem die Sojaproduzenten, die zumeist Großgrundbesitzer sind. Diesen Tendenzen wirkt das Biodieselprogramm mit seinem Sozialsiegel entgegen, das es Großproduzenten derzeit nicht ohne weiteres erlaubt, ihr gesamtes potentielles Angebot auch abzusetzen. Insofern wäre Soja ohne das Biodieselprogramm möglicherweise längst der einzige Rohstoff für brasilianischen Agrodiesel. Dennoch liegen die Probleme auch innerhalb des Programmes begründet. Anfang 2008 fällt das Sozialsiegel. Dies ist im Hinblick darauf, dass die großen Produzenten ohnehin einen Wettbewerbsvorteil haben, höchst bedenklich. Ingo Melchers bezeichnet das Sozialsiegel als das Kernstück des Programms, das den kleinbäuerlichen Organisationen einen Vorsprung vor den Großproduzenten liefen sollte [13]. Wenn nicht einmal dieser Vorsprung ausreichend war, um die kleinen Produzenten am Markt zu etablieren, dann lässt der Wegfall des Kernstücks des Programms nichts Gutes erwarten. Zudem setzt das Programm zu schnell zu hohe Beimischungsziele: Dies erfordert schnell große Mengen an Rohstoffen für die Herstellung von Agrodiesel [14], doch einzig die Sojaproduzenten könnten in kürzester Zeit mit Angebotssteigerungen reagieren. Auf diese Weise kann sich nach Wegfall des Sozialsiegels erst recht ein Biodieselmarkt auf Basis von Soja etablieren. Und dies, obwohl Soja aufgrund seines geringen Ölgehalts noch nicht einmal der geeignetste Rohstoff für Biodiesel ist. Ähnliches ließ sich in den 70er Jahren beim Proalcool-Programm beobachten, das zunächst für die Produktion von Treibstoff-Alkohol aus Maniok gedacht war, das wesentlich besseren Alkohol ergibt als Zuckerrohr [15]. Nichts desto trotz setzte sich Zuckerrohr am Markt durch. In diesem Zusammenhang ist es bedenklich, dass Lula die zweite Phase des Programms, die die Beimischung von 5 % Agrodiesel zum herkömmlichen Diesel vorsieht, von 2013 auf 2010 vorgezogen hat. Letztlich bedeutet dies ein Entgegenkommen gegenüber dem Agrobusiness. Doch auch auf anderem Wege fördert das Programm Konzentrationsprozesse im brasilianischen Agrodieselmarkt. Die autorisierten zentralen Aufkäufer für Agrodiesel sind keine Unbekannten: Shell Brasil, Texaco Brasil, Ale Distribuidora und Petrobrás. Nur direkt mit diesen Unternehmen kann die Biodieselproduktion vermarktet werden; diese sorgen dann für die Mischung mit dem konventionellen Diesel [16]. Die brasilianische Petrobras hat sich zwar zum Ziel gesetzt, den Kleinproduzenten Öl statt Rohstoff abzukaufen [17]. Ob die anderen Unternehmen dies ebenfalls tun, ist mehr als fraglich. Insofern können die Kleinbauern auf die Rolle als Rohstofflieferanten reduziert und in wirtschaftliche Abhängigkeiten gebracht werden. Weiterverarbeitung und Mehrwerterzielung verbliebe dann bei der Agroindustrie. Dies könnte langfristig auf Produktionssysteme mit Knebelverträgen hinauslaufen, wie sie bspw. in der Tabakproduktion üblich sind. Ohnehin verhindert die vorgeschrieben zentralisierte Beimischung, dass sich beim Agrodiesel in Brasilien dezentraler Kreisläufe von Produktion und Verbrauch etablieren – was eine Unabhängigkeit von agroindustriellen Konzernen ermöglichen würde. So gesehen leistet das Programm leistet der Zentralisierung der Agroenergiewirtschaft Vorschub. Dies wiederum impliziert einen hohen Energieverbrauch allein durch den Transport der Produkte – zu Lasten von deren Klimabilanz. Die Articulação Soja befürchtet, der Prozess der vergangenen Jahrzehnte im Zuckerrohrsektor könne sich nun in anderen Regionen mit Dendê-, Soja-, Maismonokulturen wiederholen. Auch sie geben zu bedenken, dass die Produktions- und Handelsstrukturen in den Händen weniger Unternehmen hoch konzentriert sind. Insofern verbliebe dieses neue Geschäft auch in den Händen derjenigen wenigen, die schon heute den Exportmarkt kontrollieren. Die Articulação Soja fordert, den öffentlichen Transport zu fördern und in ihn zu investieren wie auch den ernormen Fleischkonsum der mittleren und oberen Schichten zu reduzieren, anstatt unabhängig von der Art des Treibstoffes Verkehr und Transport weiter zu fördern. Mit der zunehmenden Förderung von Agrotreibstoffen würden sich Nachfrage und Verwendung erst verbreitern. Auch REBRIP, eine Unterorganisation der FASE, kritisiert die zunehmende Landkonzentration infolge von Exportmonokulturen durch Agrotreibstoffexporte. Das Biodieselprogramm sei zwar ein Stimulus für die kleinen Produzenten, REBRIP weist aber darauf hin, dass der Markt tendenziell die großen Produzenten begünstigt. Eine gezielte Politik sollte Kleinbauern, den internen Markt und den Binnenkonsum breiter Bevölkerungsschichten stärken. Die katholische Kirche in Gestalt der CNBB und der CPT richtet das Augenmerk vor allem auf den Zuckerrohrsektor und die dortigen katastrophalen Arbeitsbedingungen. Allein in der Umgebung von SP zählte die CPT seit 2004 17 Erntearbeiter im Zuckerrohr, die vor Erschöpfung tot zusammen brachen; auch auf Drohungen und Morde an Landarbeitern weist sie hin. Die CPT macht den Ethanolboom auch für Vertreibungen mitverantwortlich. Allein im vergangenen Jahr wurden 40.000 Familien von ihrem Land vertrieben [18]. Die CNBB befürchtet weitere Landkonzentrationsprozesse aufgrund der Zuckerrohrexpansion und eine Ausweitung der Abholzungen im Regenwald.

Exkurs II: Brasiliens Zuckersektor

Der brasilianische Zuckerrohrsektor ist in den letzten Jahren stark expandiert. Die Flächenausweitung findet vor allem in Minas Gerais, im Osten von São Paulo, in Südgoiás, im südöstlichen Mato Grosso do Sul und in Maranhão statt [19]. Verbreitet ist das Pachtsystem, d.h. Plantagenbesitzer bzw. Zuckerrohrverarbeiter ermitteln die für den Zuckerrohranbau geeignetesten Ländereien und bieten deren Eigentümern an, diese zu pachten. Die Zuckerrohrplantagen auf den gepachteten Ländereien haben eine komplexe Veränderung des gesamten Produktions- und Wirtschaftssystems in den betroffenen Regionen zur Folge und vernichten damit vorher dort bestehende Arbeitsplätze – hauptsächlich zugunsten schlecht bezahlter Saisonarbeit. Auch viele Großgrundbesitzer sind dazu über gegangen, ihre brachliegenden Ländereien an Zuckerrohrunternehmen zu verpachten. Zum Teil waren die betroffenen Grundstücke bereits als unproduktiv für die Agrarreform gekennzeichnet – mit der Verpachtung sind sie der Agrarreform entzogen. Insofern behindert die Expansion des Zuckerrohrs schon heute Fortschritte bei der Umsetzung der Agrarreform.

Das größte Umweltproblem auf den Zuckerrohrplantagen ist das Abbrennen der Felder vor der Ernte, das auf etwa 80 % der Zuckerrohrplantagen praktiziert wird und einen dementsprechenden CO2-Ausstoß zur Folge hat. Weiterhin werden viele Agrotoxine verwandt. Zuckerrohr braucht viel Wasser, das den dort lebenden Menschen dann nicht mehr zur Verfügung steht. Die Zuckerrohrexpansion verdrängt zudem die Viehwirtschaft in den Norden, die dort zur Abholzung führt: Während in den Expansionsgebieten des Zuckerrohrs weniger Viehwirtschaft betrieben wird, steigt sie im Norden Brasiliens überproportional an. Auch Sojafelder im Süden werden zugunsten des Zuckerrohrs umgewandelt. Die Sojaproduktion zieht dann weiter in den Norden in Regenwaldregionen, die für den Anbau von Zuckerrohr nicht geeignet sind. In den letzten Jahren hat die Ausbeutung der Saisonarbeiter stark zugenommen. Die durchschnittliche Tagesernte der Erntearbeiter ist seit 1980 von 6 Tonnen auf 12 Tonnen gestiegen. Die niedrige Bezahlung der Saisonarbeiter nach Akkord führt immer wieder zum Erschöpfungstod; die Lebenserwartung der Erntearbeiter liegt einige Jahre unter dem brasilianischen Durchschnitt [20]. Laut ILO sind 3 % der 170 Unternehmen, die auf der schwarzen Liste der Sklavenhalter verzeichnet sind, Ethanolfabriken oder Zuckerrohrplantagen. Der Umweltverband FBOMS betont vor allem das Problem der Entwaldung durch die Verschiebung der Agrarfront Richtung Amazonasgebiet. Zugleich kritisieren einige Organisationen das Agroexportentwicklungsmodell, das nicht nur Abholzung, sondern auch weniger Nahrungsmittelproduktion und mehr Landkonzentration mit sich bringe. In einem offenen Brief an die Regierung „Eficiencia Energetica: para todos, por um mundo sustentável” („Energieeffizienz: eine nachhaltige Welt für alle“, Mitunterzeichner u.a.: Amigos da Terra Brasil, Forum Carajás, WWF Brasilis, Vitae Civilis) fordert der Umweltverband, die Energieverschwendung in Brasilien zu beenden. Die Arbeitsgruppe Energie hat eine Kampagne „Management anstatt Erzeugung von Energie“ gestartet [21]. Hierzu sollen u.a. agroökologische, regionale Wirtschaftskreisläufe etabliert und eine dezentrale Energieversorgung gefördert werden. Wichtig ist auch FBOMS zufolge, die Kleinbauern stärker in den Wertschöpfungsprozess einzubinden und an der Produktionskette teilnehmen zu lassen.

Zertifizierung als Ausweg?

Spätestens seit der Veröffentlichung des Klimaberichts geht ein Riss durch die NGO-Landschaft: Gerade internationale NGOs wie Friends of the Earth, Greenpeace und der WWF wollen durch Zertifizierung von Agrotreibstoffen zwar den schlimmsten Auswüchsen der Agrotreibstoffproduktion in den Entwicklungsländern entgegen wirken, erklärtes Ziel ist es aber, eine Agrotreibstoffexpansion voranzutreiben. Auf der anderen Seite stehen diejenigen zumeist eher kleineren NGOs wie in Deutschland bspw. Rettet den Regenwald und FDCL, auf europäischer Ebene Biofuel Watch, die die Bedenken bezüglich der Folgen eines massiven Agrotreibstoffbooms in großflächigen Monokulturen hervorheben und mit Skepsis auf Zertifikate schauen. Doch scheint einigen Zertifizierungsbefürwortern im Angesicht des Klimawandels die interne Entwicklung in den Produzentenländern vernachlässigenswert: „Der Handlungsdruck ist leider enorm, für solche gutgemeinten Umwege mit kleinbäuerlicher Landwirtschaft fehlt uns definitiv die Zeit“, ist bspw. die persönliche Meinung von Jürgen Maier, Geschäftsführer des Forums Umwelt und Entwicklung. Das Forum Umwelt und Entwicklung fordert ein europäisches EcoFair-Zertifizierungsschema für nachhaltig erzeugte Bioenergieträger, dessen Kriterien Energie- und Arbeitsplatzbilanzen, soziale Wirkungen und die nachhaltige Landwirtschaft berücksichtigen sollen. Globale Mindeststandards für Agrotreibstoffe soll ein „Runder Tisch zu Nachhaltigen Biotreibstoffen“ erarbeiten, an dem neben WWF und FSC auch Konzerne wie Shell, BP, Petrobras, Dupont und Bunge beteiligt sind. Als Vorbild gilt unter anderem das FSC-Siegel. Weitere Vorbilder sind die Zertifizierungsprojekte des WWF wie der Runde Tisch nachhaltiges Palmöl (RSPO) und der Runde Tisch nachhaltige Soja (RTRS). Diese funktionieren nach dem sogenannten Stakeholderprinzip. Interessenvertreter der betroffenen Bevölkerung sitzen dabei zwecks Entwicklung gemeinsamer Kriterien internationalen Konzernen wie Cargill, Bayer, Syngenta und Plantagenbesitzern gegenüber, als existierten machtpolitisch ungleiche Strukturen schlichtweg nicht. Dies ermöglicht der Wirtschaft, ähnlich wie beim FSC, einen sehr großen Einfluss. Somit kann ein von einem solchen Gremium entwickeltes Zertifikat auch nicht wirklich als Umweltzertifikat oder Zertifikat für sozialpolitische Unbedenklichkeit angesehen werden. Bei der Entwicklung von Kriterien für Sozial- und Umweltverträglichkeit sollte es daher zunächst einmal um die Sicht der Betroffenen gehen. Diese sollten die Kriterien ohne Teilnahme von Interessensvertretern der Industrie entwickeln können. In einem zweiten Schritt könnten solche unverwässerten Kriterien dann gegenüber der Industrie eingefordert werden. Das macht ein Zertifikat wesentlich glaubwürdiger. Im Mai 2007 gab die Firma Meó Consult einen Vorschlag für ein internationales und freiwilliges Zertifizierungssystem heraus. An der Arbeit waren aus der EU, Malaysia, Indonesien und Brasilien u.a. die Automobilindustrie, die Mineralölindustrie, Handelsunternehmen und die Biotreibstoffindustrie beteiligt, des weiteren der Deutsche Bauernverband DBV, das IFEU- und das Ökoinstitut. Nach Aussagen von Staatssekretär Pazciorek war auch der WWF – als einzige NGO – an der Erarbeitung des vom BMELV und der Fachagentur Nachwachsende Rohstoffe in Auftrag gegebenen Zertifizierungssystems beteiligt. Landnutzungskonflikte tauchen in dem Vorschlag zwar bei den als wünschenswert genannten Kriterien auf. Bei den letztlich formulierten Kriterien spielen sie allerdings keine Rolle mehr. Gleiches gilt für Vertreibungen, Fragen der Einkommensverteilung und der Flächenkonkurrenz zu Nahrungsmitteln. Der Einsatz von Gentechnik wird ebenfalls nicht ausgeschlossen. Ebenso wenig ist festgelegt, wie lange die Abholzung einer zertifizierten Plantage zurückliegen muss. Insgesamt könnten diese Kriterien wohl kaum gewährleisten, die sozialen und ökologischen Folgewirkungen des Agrotreibstoffbooms auch nur einzudämmen. Erst in einem zweiten Schritt, ab 2009, sollen dann die Klimabilanzen bewertet und in das Zertifikat einbezogen werden. Ein Verfahren, das bspw. Reinhild Benning vom BUND [25] vermuten lässt, dass vor allem der Handel mit Agrotreibstoffen in Gang gebracht werden soll – und zwar unabhängig von deren Klimabilanz. Dies ist ein deutlicher Hinweis, dass es nur vordergründig um Umweltschutz geht, und dass das eigentliche Interesse dem Absatz der beteiligten Unternehmen gilt. Eine schlechte Klimabilanz ist zudem nicht wirklich Ausschlusskriterium für die Anerkennung als Beimischung. Und damit sind auch später wieder alle mit dabei, nur mit unterschiedlichen Werten. Die Initiative veranschaulicht, dass der Wunsch der raschen Ausweitung des Handels mit zertifizierten Produkten auf Kosten der Kriterien geht. Wie die Erfahrung mit dem FSC verdeutlicht, bestünde darüber hinaus die Gefahr, dass bei einer schnell wachsenden Menge an zertifiziertem Agrotreibstoff auch kaum zu gewährleisten wäre, dass die Einhaltung der ohnehin dürftigen Kriterien überwacht würde.Wie beim FSC-Siegel darüber hinaus deutlich wurde, wohnt Zertifikaten die Tendenz inne, vor allem große Plantagen zu begünstigen, insbesondere, so weit dem nicht explizit, bspw. mittels Kriterien, entgegen gewirkt wird. Sie stehen damit der Entwicklung kleinbäuerlicher Landwirtschaft und einer lokalen Produktion und Nutzung entgegen. Insofern besteht die Gefahr, dass Zertifikate auf Agrotreibstoffe die Zentralisierungstendenzen in diesem Teil des Energiesektors fördern, der bis vor kurzem noch die einmalige Chance auf dezentrale Entwicklungen inne hatte. Auch die indirekten Wirkungen der Agrotreibstoffexpansion werden von dieser Art Zertifikat nicht erfasst: Wenn also bspw. auf alten Viehweiden in Zukunft Soja angebaut wird, kann das hieraus hergestellte Agrodiesel durchaus zertifiziert werden – unabhängig davon, ob für die neue Viehweide an der Agrarfront dann neue Rodungen stattfinden oder nicht. Nachhaltigkeitskriterien für Produkte können angesichts der realen Machtverhältnisse im brasilianischen Agrobusiness häufig wenig ausrichten. Dies wurde erst kürzlich durch das FSC-zertifizierte Unternehmen Vallourec Mannesmann illustriert, das einen Mordanschlag auf einen Kleinbauern verüben ließ. Angesichts solcher Strukturen in der brasilianischen Landwirtschaft könnten allenfalls systemische Kriterien etwas bewirken, bei denen nicht das Produkt, sondern die Struktur zertifiziert wird, in der ein Produkt produziert wird. Solche Kriterien könnten bspw. eine Zertifizierung von Monokulturen und Großgrundbesitz von vornherein ausschließen. Anderenfalls führen strukturell bedingte Probleme schnell dazu, dass Unternehmen zertifiziert werden, die dies nicht verdienen.

Wie weiter?

Die Energie der großen NGOs geht nun vor allem in die Zertifizierungsdiskussion. Forderungen nach mehr Effizienz gehören zwar zum guten Ton, werden aber nicht weiter ausgearbeitet oder vorangetrieben, geschweige denn mit Vehemenz öffentlich gemacht. Das Augenmerk geht derzeit in Richtung Förderung von Agrotreibstoffen – so wichtig es derzeit auch wäre, gut durchdachte öffentliche Transportsysteme zu entwickeln und zu propagieren, sich für Geschwindigkeitsbegrenzungen stark zu machen, die Verringerung des Verbrauchs bei Neuwagen massiv zu forcieren und weitere Maßnahmen zur Effizienzsteigerung und Energieeinsparung voranzutreiben. Dabei legitimieren die Umweltorganisationen damit letztlich einen möglicher Weise selbst umweltpolitisch fragwürdigen Handel mit fragwürdigen Zertifikaten und laufen Gefahr, Zentralisierungstendenzen im Energiemarkt zu fördern, anstatt diese anzuprangern und die dezentrale kleinbäuerliche Nutzung von Pflanzenenergie zur lokalen Strom- und Treibstoffversorgung zu fördern.

[1]Die fünf wichtigsten Abnehmerländer in der Reihenfolge ihrer Abnahmemengen, Quelle: Unica, 2005

[2] FAZ, 05. Mai 07

[3] Sven Harmeling, Germanwatch, Powerpointpräsentation vom 19.04.07

[4] Schätzung des US-Agrarministeriums USDA.

[5] Ingo Melchers: Eine Option auch für die Kleinbauern. Biodiesel im Nordosten Brasiliens, ila 304, April 2007.

[6] Marco Aurélio Garcia, außenpolitischer Berater des Präsidenten Lula, A opção brasileira, April 2007.

[7] Despoluindo Incertezas, S. 19.

[8] „Der Klimaschutz ist nur vorgeschoben“, Interview von Martin Ling mit Klemens Laschewski, LN 396, Juni 2007.

[9] Die beiden Organisationen lehnen den Begriff Biotreibstoffe ab, da Agrotreibstoffe nur in den seltensten Fällen biologisch angebaut werden und auch ihre Umweltwirkungen nicht in jedem Falle positiv sind. Sie nennen die Pflanzentreibstoffe daher bewusst Agrotreibstoffe, und ordnen sie damit dem Sektor zu, in dem sie überwiegend entstehen: dem Agrobusiness.

[10] Die Hoffnungsträger der Agrotreibstoffe Mais und Soja sind genau die Produkte, bei denen die Gentechnik bislang am weitesten ist, gleiches gilt für Raps, und an genmanipuliertem Zuckerrohr und Eukalyptus wird derzeit gearbeitet.

[11] Die folgende Kritik basiert z.T. auf der Studie „Despoluindo Incertezas“, die das FBOMS im Februar 2007 herausgegeben hat. Die Studie untersucht die lokalen Wirkungen der Monokulturexpansion für Agroenergie; sie wurde von zwei Wissenschaftlern der Gruppe GESTA der Universität von Minas Gerais erstellt und von Amigos da Terra Brasilien koordiniert.

[12] Hauptprodukt der Soja ist der Eiweißkuchen, der als Tierfutter exportiert wird.

[13] Ingo Melchers: Eine Option auch für die Kleinbauern. Biodiesel im Nordosten Brasiliens, ila 304, April 2007.

[14] Derzeit importiert Brasilien Palmöl aus Malaysia, da das interne Angebot, das die Voraussetzungen für das Siegel erfüllt, nicht für die derzeitige Biodieselproduktion ausreicht.

[15] W. Fuchs in Mail an Ernst Schrimpff vom 25. Januar 2007.

[16] Die Resolution no 42/2004 der ANP verbietet die direkte Vermarktung der Biodieselproduktion an den Endverbraucher.

[17] Daniel Cassol, Bioenergia – para quem?, Eine gekürzte deutsche Übersetzung erscheint in den nächsten Tagen im Brasilicum Nr. 160.

[18] Werner Paczian, Der Mythos von der grünen Energie, in INKOTA-Brief Nr. 140, Juni 2007.

[19] Zustandsbeschreibungen und Daten des Exkurses beziehen sich größtenteils auf die FBOMS-Studie „Despoluindo Incertezas“ von 2007 und die FIAN-Studie zum Zuckersektor von 2004.

[20] Wolfgang Hees, Weltmarkts meets Ethik, April 2007, in Caritas Heute.

[21] Gemäß dem Wissenschaftler Célio Bermann braucht Brasilien bspw. keine neuen Staudämme, um die Energieziele des PAC erreichen zu können, sondern könnte 60 % des Ziels allein durch neue Turbinen, und die weiteren 40 % durch andere Effizienzsteigerungen erreichen.

[22] Jürgen Maier, FuE, am 02.03.07 in Mail an Regine Richter, urgewald.

[23] Thomas Fritz: Zertifiziertes Raubrittertum, in LN Nr. 396, Juni 2007.

[24] Thomas Fritz: Zertifiziertes Raubrittertum, in LN Nr. 396, Juni 2007.

[25] Reinhild Benning, BUND, in Mail vom 29.05.2007.