Problem und Lösung: Digitale Transformation in Brasilien

Brasilien steckt knietief in der Mehrfachkrise, technische Entwicklungen haben Umbrüche eingeleitet. Welche Auswirkungen hat das im größten Land Lateinamerikas? Wie könnten Lösungen aussehen? Darüber diskutierten Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen beim diesjährigen Runden Tisch Brasilien.
| von Niklas Franzen
Problem und Lösung: Digitale Transformation in Brasilien
Screenshot RTB 2020 digital

Ihre Kamera schalte sie lieber nicht ein, sagt Mariana Andrade. Die Internetverbindung in ihrem Viertel sei zu schlecht. Andrade lebt in einer Favela in São Paulo, weit weg von den glitzernden Bankentürmen, hippen Ausgehvierteln und bewachten Wohnanlagen der Finanzmetropole. Seit jeher habe ihr Stadtteil mit Problemen zu kämpfen: Gewalt, Armut, Ausgrenzung. Und nun treffe auch noch die Corona-Pandemie ihre Heimat mit voller Wucht. „Die Menschen hier haben große Schwierigkeiten, sich vor dem Virus zu schützen“, sagt Andrade. „Wir Armen leiden wieder einmal am stärksten unter dieser Krise.“

Die Mitarbeiterin des Jugendnetzwerkes Terre des Hommes nahm am diesjährigen Runden Tisch Brasilien der Kooperation Brasilien teil, der aufgrund von Corona online stattfand. Wohl selten war die Lage in Brasilien so dramatisch wie in diesem Dezember. Mehr als 170.000 Tote durch den Virus, Millionen neue Arbeitslose, eine handfeste politische Krise. Auch Adriano Martins von der Misereor-Beratungsinstanz CAIS, der sich aus Bahia zu Wort meldet, kennt viele Geschichten des Leids. „Die Pandemie hat eine Lupe auf die bestehenden Ungleichheiten gesetzt.“

Neben der Pandemie und schweren Wirtschaftskrise, kämpft die rechtsradikale Bolsonaro-Regierung für einen reaktionären Umbruch. Trotz zahlreicher Skandale, einem katastrophalen Corona-Management und politischen Kleinkriegen mit Justiz, Medien und Kongress verzeichnet Bolsonaro hohe Umfragewerte. Wie ist das möglich? Eine Antwort darauf gibt die technologische Entwicklung, thematischer Fokus des diesjährigen Runden Tisches. Der passende Titel: „Kommunikation und Aktion in der Krise - Wertewandel in Brasilien“.

Kampf mit dem Smartphone

In Brasilien hat das Internet die politische Kommunikation auf den Kopf gestellt. Ähnlich wie US-Präsident Donald Trump verachtet Brasiliens Staatschef Jair Bolsonaro die traditionellen Medien. Im Wahlkampf kommunizierte er fast ausschließlich über die sozialen Netzwerke. Kein anderer brasilianischer Politiker hatte dort auch nur annähernd so viele Follower wie der Ex-Militär. Eine Software ist zur wichtigsten Waffe der extremen Rechten geworden ist: WhatsApp. Umfragen zeigen, dass der Kurznachrichtendienst heutzutage die wichtigste Informationsquelle des Landes ist - weit vor dem Fernsehen oder Facebook. Die Macht der App hatte kaum jemand so gut verstanden wie Bolsonaro.

Früher, sagt Carlos Magno vom agrarökologischen Centro Sabiá aus Pernambuco, wurden Wahlen im Fernsehen entschieden. „Wer mehr Minuten für TV-Spots zur Verfügung hatte, konnte sich die besten Chancen ausrechnen.“ Bolsonaro hatte nur acht Sekunden – und hat trotzdem die Wahl gewonnen. Eine kleine Revolution. Und auch nach dem Amtsantritt von Bolsonaro setze die extreme Rechte auf professionell organisierte Hetzkampagnen im Netz, wie Verônica Ferreira, Mitarbeiterin der feministischen Organisation SOS Corpo, berichtet. „Bolsonaro braucht Falschinformationen, um sich an der Macht zu halten.“

Das sieht auch der Soziologie-Professor Sergio Amadeu da Silveira so. Bolsonaro müsse ständig lügen, um seiner treuen Anhängerschaft gerecht zu bleiben. Das gehe über die sozialen Medien besonders gut. Die anfänglichen Hoffnungen, dass die technischen Neuerungen zu einer Demokratisierung und Eindämmung der Kapitalkräfte führen könnten, habe sich nicht eingestellt – im Gegenteil. Das Internet sei voll von Hetze und Beleidigungen, neofaschistische Gruppen hätten längst das Potenzial erkannt. Zudem komme die Profitorientierung von Plattformen wie Facebook oder YouTube den Rechten zu Gute. Laut Ferreira von SOS Corpo seien marginalisierte Gruppen wie Frauen, LGBTI und Indigene besonders von Attacken im Netz betroffen. "Die Angriffe auf den Feminismus, die Selbstbestimmung von Frauen und eine vermeintliche Genderideologie sind eine zentrale Strategie der extremen Rechten.“

Politik mit der Bibel

Großen Anteil an dem moralkonservativen Rollback haben die evangelikalen Pfingstkirchen, die in Brasilien immer lauter und selbstbewusster auftreten. Laut Statistiken könnte die Evangelikalen im einst größten katholischen Land schon im Jahr 2032 die Mehrheit stellen. Mit ihren Heilsversprechen, charismatischen Pastoren und spektakulären Megagottesdiensten haben sie gerade in armen Stadtteilen großen Zulauf. Leandro Luis Bedin Fontana ist Theologe und arbeitet für das Institut Weltkirche und Mission. Seit vielen Jahren beobachtet er die Evangelikalen. Früher, sagt Fontana, seien die frommen Kirchen apolitisch gewesen. Vorbereitungen für die Wiederkehr des Messias standen im Fokus, Politik sei als „zu weltlich“ betrachtet worden. Heute nähmen sie direkten Einfluss auf Politiker*innen und träten als „Weltveränderer“ auf. Die evangelikale Elite hat die Nähe zur Neuen Rechten gesucht, vor allem zu einem Mann: Jair Messias Bolsonaro. Der rechtsradikale Präsident, der zunächst katholisch war, ließ sich medienwirksam im Jordan taufen, war umjubelter Stargast bei evangelikalen Veranstaltungen und wurde von Pastor Malafaia mit seiner dritten Ehefrau vermählt. "Bolsonaro ist für die Evangelikalen die Verkörperung der messianischen Zeit", meint Fontana.

Allerdings: Die Pfingstkirchen seien ultrakonservativ, aber ideologisch nicht genau festgelegt. „Sie tun alles, um an der Macht zu bleiben. Wenn Bolsonaro nicht liefert, kann es sein, dass sie ihn fallen lassen.“ Laut Fontana spielten die Evangelikalen die Regeln des demokratischen Systems, um das demokratische System zu untergraben. Wichtige Strategie dieser Gruppen sei die Dämonisierung des Gegners und die Erschaffung von Feindbildern. Als „Kommunist“ oder „Atheist“ werden all jene gebrandmarkt, die nicht in ihr ultrakonservatives Weltbild passen. Dafür hätten es die Evangelikalen auch verstanden, geschickt die sozialen Medien einzusetzen.

Ein anderes Internet ist möglich!

Doch was bedeutet das für Brasiliens Linke und die kritische Zivilgesellschaft? Hat sie den Kampf um das Internet verloren? Sollte sie sich aus den digitalen Plattformen zurückziehen? Nein, meint Carlos Magno vom Centro Sabiá. „Wenn wir diese Räume nicht einnehmen, werden wir verlieren.“ Seine Organisation kämpft gegen Fake News – im Netz und der Straße. Auf Instagram werden Falschinformationen entlarvt und Debatten mit Kandidat*innen geführt. Ein Straßentheater soll Menschen über politische Themen aufklären. Denn: Die progressiven Kräfte schafften es häufig nicht, Menschen „außerhalb ihrer Blase“ anzusprechen. Insbesondere arme Brasilianer*innen, die von den Informationskanälen ausgrenzt sind, seien kaum noch erreichbar. „Deshalb haben wir auch angefangen, Informationen über WhatsApp zu versenden.“ Viele Brasilianer*innen können weiterhin WhatsApp-Nachrichten erhalten, auch wenn sie kein Guthaben mehr auf ihrem Smartphone haben.

Auch die Feministin Verônica Ferreira will das Internet nicht den Rechten überlassen. „Wir müssen das Netz zurückgewinnen und die Falschinformationen bekämpfen.“ Ihre Organisation baut eigene Kanäle auf, bildet digitale Aktivist*innen aus, nimmt Podcasts auf und versucht auch abseits des Netzes, mit Posterkampagnen gegen Falschinformationen anzukämpfen. Das sei gerade in der Pandemie fundamental. Immer häufiger arbeitet SOS Corpo mit Prominenten, sogenannten Influencer*innen, zusammen. Und die Arbeit zeige bereits Ergebnisse: Viele Menschen, die früher nicht auf einer linken Demo mitgelaufen wären, hätten sich über die sozialen Medien politisiert. Insbesondere Frauen würden heute den Kampf gegen die Bolsonaro-Regierung anführen.

Adriano Martins von CAIS nennt den digitalen Wahlkampf des Sozialisten Guilherme Boulos als positives Beispiel. Viele Künstler*innen, kreative Kollektive und sogar Videospieler*innen unterstützten den linken Politiker und Strategen der Wohnungslosenbewegung MTST. Durch seinen innovativen und frischen Auftritt im Netz sei es gelungen, viele neue Wähler*innen anzusprechen. Zwar habe Boulos die Stichwahl verloren, aber sein Wahlkampf zeige auf, wie wichtig dynamische digitale Projekte seien.

Wir dürfen die Plattformen nicht aufgeben“, betont der Soziologe Sergio Amadeu da Silveira. „Sie sind fundamental für den Kampf von sozialen Bewegungen und auch für die Bekämpfung von Fake News.“ Silveira erinnert aber auch an die Grenzen der Plattformen und die enge Verbindung von neoliberaler Ideologie und technologischer Entwicklung. „Bei Facebook, YouTube und Co. haben wir auf lange Sicht keine Chance.“ Daher sei es fundamental, alternative Plattformen aufbauen – abseits von Kapitalinteressen und Digitalkolonialismus.

Die Dokumentation des Runden Tischs mit Videos, Protokollen und Links findet ihr hier.