Indigene fordern Einsetzung und Durchführung einer Nationalen Indigenen Wahrheitskommission

Der Abschlussbericht der Nationalen Wahrheitskommission schätzte 2014, dass im Zeitraum der brasilianischen Militärdiktatur (1964-1985) mindestens 8.350 Indigene getötet wurden, dass dies aber wahrscheinlich nur ein kleiner Teil der begangenen Rechtsverletzungen gewesen sei. "Die tatsächliche Zahl der in diesem Zeitraum getöteten Indigenen muss exponentiell höher sein, da nur ein sehr begrenzter Teil der betroffenen Indigenen analysiert wurde und es Fälle gibt, in denen die Zahl der Todesfälle so hoch ist, dass Schätzungen nicht möglich sind", so die Nationale Wahrheitskommission damals. So stand nach Veröffentlichung des Berichts der Nationalen Wahrheitskommission neben weiteren politischen Forderungen die Einsetzung einer Nationalen Indigenen Wahrheitskommission im Raume. Doch eine solche wurde bislang noch immer nicht eingesetzt. Nun bewegt sich etwas.
| von Christian.russau@fdcl.org
Indigene fordern Einsetzung und Durchführung einer Nationalen Indigenen Wahrheitskommission
Zur Arbeit einer Nationalen Indigenen Wahrheitspolitik würde auch gehören, Indigene anzuhören. Foto: christian russau

Es ist eine der mehreren noch offenen Forderungen der Nationalen Wahrheitskommission von 2014: die Einrichtung einer landesweiten Indigenen Wahrheitskommission zur öffentlichen Aufklärung der Verbrechen der brasilianischen Militärdiktatur an Indigenen. Nun hat das Fórum Memória, Verdade, Reparação Integral, Não Repetição e Justiça para os Povos Indígenas ("Forum Erinnerung, Wahrheit, umfassende Wiedergutmachung, Nichtwiederholung und Gerechtigkeit für indigene Völker") eine wichtige Initiative für den 21. Oktober dieses Jahres geplant. In Brasília soll auf einer Zeremonie der Politik und den zuständigen Behörden ein Entwurf für einen Rechtsakt zur Schaffung und Organisation der Nationalen Indigenen Wahrheitskommission (CNIV) übergeben werden. Das Forum, das sich aus einer Reihe von Organisationen und Institutionen zusammensetzt, hat zudem einen Grundlagenbrief mit dem Titel "Warum eine Nationale Indigene Wahrheitskommission?" veröffentlicht. Dies berichtet der Indigenenmissionsrat CIMI auf seiner Internetseite.

Die historische Kenntnis über die systematischen Verbrechen der brasilianischen Militärdiktatur an Indigenen war lange verdrängt, vergessen, geleugnet und unterdrückt oder ausgeblendet worden. Als Anfang 2013 der Menschenrechtsverteidiger der Gruppe Tortura Nunca Mais aus São Paulo und Koordinator des Projektes Armazém Memória, Marcelo Zelic, im Museu do Índio in Rio de Janeiro verstaubte Akten durchforschte und merkte, was er da in den Händen hielt, war das Erstaunen nicht gering. Noch größer war das Erstaunen der Öffentlichkeit, als sie von dem Fund erfuhr: Es war der seit Ende der 1960er Jahre unwiederbringlich zerstört geglaubte sogenannte Figueiredo-Report. Im Auftrag des Innenministers hatte der Staatsanwalt Jader de Figueiredo Correia Ende der 1960er Jahre 16.000 km zurückgelegt und über 130 Stationen der damaligen „Indianerschutzbehörde“ SPI besucht. Was er und seine Mitarbeiter:innen auf über 7.000 Seiten zusammentrugen, schockierte die Welt. Figueiredo sammelte Berichte von systematischer Folterung von Indigenen durch Farmer:innen und Angestellte der SPI. Die Indigenen galten im brasilianischen „Wilden" Westen und Norden nicht als vollwertige Menschen, sie wurden auf oft bestialische Art erniedrigt, ermordet oder versklavt. Die Gewalt gegen Indigene war aber nicht nur Willkür, sondern auch zielgerichtet. Angestellte der SPI verkauften mit Strychnin vergifteten Zucker an Indigene und verteilten mit Pocken verseuchte Kleidung. Die Indigenen sollten nur schnell verschwinden, egal wie, egal wohin. Freies Land sollte entstehen für die Landwirtschaft. Dass dabei ganze indigene Ethnien komplett verschwanden, wurde billigend in Kauf genommen. Als der Report 1968 bekannt wurde, erregte er weltweit Aufsehen. Die SPI wurde aufgelöst und durch die Indigenenbehörde FUNAI ersetzt. Doch bevor wirkliche Konsequenzen gezogen werden konnten, verschwand der Bericht. Angeblich fiel er einem Feuer zum Opfer; ein offenes Geheimnis, dass die damalige Militärdiktatur das Dokument verschwinden ließ. Das Wiederauffinden des Figueiredo-Reports war ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg hin zu historischer Wahrheit und Gerechtigkeit und Erinnerung und er gibt beredtes Zeugnis von dem Genozid.

Einer der nächsten großen Meilensteine auf diesem Pfad war die Einsetzung einer Nationalen Indigenen Wahrheitskommission. Die Nationale Wahrheitskommission hatte 2014 im Rahmen ihres (politisch eingeschränkten und juristisch komplett abwesenden) Mandats ihren Abschlussbericht vorgelegt: Der Abschlussbericht der Nationalen Wahrheitskommission schätzte damals, dass im Zeitraum der brasilianischen Militärdiktatur (1964-1985) mindestens 8.350 Indigene getötet wurden, dass dies aber wahrscheinlich nur ein kleiner Teil der begangenen Rechtsverletzungen gewesen sei. "Die tatsächliche Zahl der in diesem Zeitraum getöteten Indigenen muss exponentiell höher sein, da nur ein sehr begrenzter Teil der betroffenen Indigenen analysiert wurde und es Fälle gibt, in denen die Zahl der Todesfälle so hoch ist, dass Schätzungen nicht möglich sind", so die Nationale Wahrheitskommission damals. So stand nach Veröffentlichung des Berichts der Nationalen Wahrheitskommission neben weiteren politischen Forderungen die Einsetzung einer Nationalen Indigenen Wahrheitskommission im Raume. Doch eine solche wurde bislang noch immer nicht eingesetzt.

Doch verschiedene Akteur:innen arbeiten seit mehr als einem Jahrzehnt daran, dass sich dies endlich ändert. Im November 2022 z.B. fand im Bundesstaat Minas Gerais auf Einladung der Bundesstaatsanwaltschaft MPF eine erste Anhörung statt, um die Einsetzung einer landesweiten Indigenen Wahrheitskommission zur öffentlichen Aufklärung der Verbrechen der brasilianischen Militärdiktatur an Indigenen voranzutreiben (KoBra berichtete). Im Dezember 2022 veröffentlichte die brasilianische Bundesstaatsanwaltschaft einen Umsetzungsplan zur Einrichtung einer Nationalen Indigenen Wahrheitskommission (KoBra berichtete). Im April 2024 bat die staatliche Amnestiekommission erstmalig Indigene Völker Brasilien um Entschuldigung für Menschenrechtsverletzungen während der brasilianischen Militärdiktatur (KoBra berichtete).

Nun wird das Forum Memória, Verdade, Reparação Integral, Não Repetição e Justiça para os Povos Indígenas am 21. Oktober in Brasília den Entwurf für einen Rechtsakt zur Schaffung und Organisation der Nationalen Indigenen Wahrheitskommission übergeben. Das Fórum Memória, Verdade, Reparação Integral, Não Repetição e Justiça para os Povos Indígenas war am 13. September 2024 in Brasília gegründet worden. Das Forum wird koordiniert von der Articulação dos Povos Indígenas do Brasil (APIB), der 6ª Câmara de Coordenação e Revisão do Ministério Público Federal (MPF), dem Instituto de Políticas Relacionais (IPR) und dem Observatório de Direitos e Políticas Indígenas da Universidade de Brasília (OBIND-UnB). Mitglieder sind zwölf indigene Organisationen und Dachorganisationen, elf zivilgesellschaftliche Organisationen, acht Ministerien, Behörden und weitere staatiche Institutionen und Gremien, 14 Universitäten, Universitätszusammenschlüsse und universitäre Gremien sowie Einzelmitglieder. Zudem fungieren als internationale beisitzende Beobachter:innen sind das Hochkommissariat der Vereinten Nationen für Menschenrechte, die UNO, die norwegische Botschaft in Brasilien, das CEJIL - Centro pela Justiça e o Direito Internacional sowie das Washington Brazil Office (WBO).

Es wird erwartet, dass sich die Politik dazu äußern und positionieren wird. Dies wird auch international genau beobachtet. So hat der erst im September dieses Jahres veröffentlichte Bericht der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für moderne Formen der Sklaverei, Tomoya Obokata, der die Zusammenfassung der Erkenntnisse aus dessen jüngsten Besuch in Brasilien, dem brasilianischen Staat "die Schaffung einer nationalen Einrichtung für indigene Erinnerung und Wahrheit, damit die Stimmen der indigenen Völker gehört werden können", empfohlen. Im Juli dieses Jahres hatte Andrea Pochak, Berichterstatterin der Inter-Amerikanischen Menschenrechtskommission für Erinnerung und Gerechtigkeit, unter Bezugnahme auf Brasilien explizit die Bedeutung des Vorschlags für eine Nationale Indigene Wahrheitskommission hervorgehoben

// Christian Russau

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