Covid-19-Pandemie fördert Gewalt gegen Frauen und erschwert Rechtszugang

Krisen sind nie geschlechtsneutral, ihre Auswirkungen werden durch Intersektionalität – gender, race und Klasse als Unterdrückungsursachen - intensiviert. Ungleichheit wirkt wie ein Katalysator auf die Gefahren der Covid-19-Krise: indigene Frauen, Afrobrasilianerinnen und die LGBTIQ-Gemeinschaft sind daher besonders betroffen. Neben dem Verlust oder der Unsicherheit von wirtschaftlichem Auskommen und der Hauptlast der Familien-Care-Arbeit, die überwiegend von Frauen geleistet wird, sind viele von ihnen einem steigenden Ausmaß von Aggression und Gewalt ausgesetzt.
| von Uta Grunert
Covid-19-Pandemie fördert Gewalt gegen Frauen und erschwert Rechtszugang
Frauenkampftag Recife 2018, Foto: Andrea Zellhuber

Häusliche Gewalt ist in Ländern mit machistisch und patriarchal geprägten Gesellschaften und einem starken Hang zu Gewalt als Konfliktmechanismus ein verbreitetes Thema. Unter der Coronapandemie sind Frauen mit Gewalterfahrung gezwungen, mit dem Aggressor auf engem Raum zusammenzuleben. Ausweichen ist weniger möglich, Frust und Beziehungsprobleme entladen sich noch häufiger in Gewalttaten. Frauen sind darum durch die Isolationsmaßnahmen zunehmend physischer, psychischer und sexueller Gewalt ausgesetzt.

Dass die Gewalt gegen Frauen in Pandemiezeiten stärker zunimmt[1] belegen beispielsweise die Zahlen des Brasilianischen Forums für Öffentliche Sicherheit (Fórum Brasileiro de Segurança Pública): Die Anzahl der von der Militärpolizei in São Paulo aufgenommenen Fälle von Frauen, die Opfer von Gewalt wurden, nahm demnach um 44,9 % zu. In Rio de Janeiro verzeichnete die Justiz seit Beginn der Quarantäne sogar eine Zunahme der Gewalttaten gegen Frauen um 50 %. Morde an Frauen hatten laut einer Untersuchung in den Monaten März und April 2020 im Vergleich zu den Monaten des Vorjahres um 5 % zugenommen. Innerhalb von zwei Monaten wurden 195 Frauen ermordet. Diese Untersuchung ist Teil eines vierteljährlichen Monitorings der unabhängigen Medienkooperation von Amazônia Real, Agência Eco Nordeste, #Colabora, Portal Catarinas und Ponte Jornalismo.

Dass die Gewalt gegen Frauen zunimmt, bestätigt auch eine andere Untersuchung: Der brasilianische „Gewaltmonitor“ berichtet, dass im ersten Halbjahr 2020 landesweit 1.890 Frauen durch Gewalt zu Tode kamen – und davon die Mehrheit während der Corona-Pandemie. Mit 631 Fällen ist ein großer Teil dieser Tötungen als Femizid zu bezeichnen. Ein Verbrechen, das durch Hass aufgrund des Geschlechts motiviert ist. Auffallend ist dabei, dass 73 % der Todesopfer Afrobrasilianerinnen waren.

Rassismus und die Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht erhöhen nicht nur das Risiko, Opfer von Gewalttaten zu werden, sondern verschlechtern auch die Aussicht, Zugang zu Mitteln der Strafverfolgung zu finden. Hier sind Scham, Angst und Ohnmacht nach wie vor ein Thema. Die Leiterin einer Polizeistation in São Paulo erklärt im Interview, dass durch die Schulschließung auch die soziale Kontrolle durch andere Teile der Gesellschaft entfällt. Wenn ein Kind sich in der Schule sehr auffällig benahm, führte dies früher dazu, dass pädagogische Kräfte die Familie aufsuchten, um nach den Ursachen zu fragen. Heute bleibt das Kind, der Jugendliche oder die Frau, die Gewalt erleidet damit allein. Oder sie muss auf digitalem Weg Anzeige erstatten. Über Notfallnummern können Gewalttaten im häuslichen Umfeld der Polizei oder Militärpolizei telefonisch angezeigt werden. Alternativ gibt es eine Reihe von NGOs bei denen Betroffene um Hilfe ersuchen können. Oder die Aktion „Gelbes Kreuz“[2], wo es reichte, ein gelbes Kreuz auf der Handfläche in einer Apotheke zu zeigen, in der Hoffnung, darüber die Polizei auf ein Gewaltdelikt hinzuweisen.

Letzte Zahlen der Indigenengesundheitsbehörde Sesai belegen, dass zwischen 2007 und 2017 indigene Frauen 8.221 Fälle von gewalttätigen Übergriffen gemeldet haben. Ein Drittel der Gewalt richtete sich gegen Mädchen und junge Frauen im Alter von 10-19 Jahren. 72% der Übergriffe finden im häuslichen Umfeld statt. Indigene Frauen sehen sich beim Weg zur Anzeige sowohl mit Sprachbarrieren also auch mit weiten Wegen zu offiziellen Stellen konfrontiert. Indigene Gewalttäter rechtfertigen ihre Taten oft als Teil der Kultur und drohen ihren Frauen, im Falle einer Anzeige mit noch mehr Gewalt. Die Hürden zu einer Anzeige sind hoch, zumal die aktuelle Ministerin für Frauen, Familie und Menschenrechte eher ein Frauenbild vermittelt, das schweigt und sich unterordnet.

Juristisch regelt das Gesetz „Lei Maria da Penha“ seit 2006 nach einer Anzeige die Strafverfolgung des Täters. Die Untersuchung Violência Doméstica e Familiar contra a Mulher von 2019 von DataSenado in Zusammenarbeit mit dem Observatório da Mulher contra Violência, belegt jedoch, dass 68% der befragten Frauen angaben, wenig und 11%, gar nichts über das Gesetz zu wissen. Nur 19% der Frauen gaben an, das Gesetz gut zu kennen[3]. Das Gericht entscheidet im Anzeigenfall, ob eine Streitschlichtung in Frage kommt. Dem Täter droht je nach Schwere der Gewalt die Inhaftierung, Geldstrafen sind abgeschafft. Als Instrument zur Anzeige werden seit Juli 2020 auch digitale Kanäle wie eine App genutzt. Diese wird zwar als Notsignal angenommen und verwendet, bis zur Anzeige kommt es dennoch deutlich seltener und leider führte die erhoffte Abschreckung der App auf die Täter nicht zu einem Rückgang der häuslichen Gewalt. Hinzu kommt, dass auch Behörden und Ämter ihre Arbeitsstruktur in der Pandemie verändert haben, wodurch sich Bearbeitungsprozesse verzögern und schnelle Hilfsmaßnahmen oft ausbleiben. Diese Einschätzung teilen offizielle Stellen[4].

2019 kam es unter Bolsonaro außerdem zu Änderungen des Gesetzes: Die Waffe eines Aggressors darf nun nicht mehr unmittelbar beschlagnahmt werden. Sanktioniert wurde zudem die Möglichkeit, einen Aggressor zuhause zu verhaften, ohne ihn einem Richter zu überstellen. Gekippt wurde auch die Möglichkeit für medizinisches Personal, 24 Stunden nach einer Untersuchung von Gewaltopfern stellvertretend bei der Polizei Anzeige zu erstatten.

Höchst problematisch bleibt im Zusammenhang mit der hohen Anzahl an Frauenmorden der Besitz und das Tragen von Waffen, beides wurde unter der Regierung Bolsonaro per Dekret alltagstauglich gemacht. Bolsonaro hat bereits den Kauf von Feuerwaffen erleichtert und die Menge der Munition, die erworben werden kann, heraufgesetzt. Der Besitz von Revolvern und Pistolen ist in Brasilien weit verbreitet. Nach Bolsonaros Verfügung dürfen Brasilianer bis zu vier Waffen legal besitzen. Diese müssen bei der Bundespolizei angemeldet werden[5].

Frauenhäuser als Schutzeinrichtungen für Frauen, die von Gewalt bedroht sind, wurden 2013 von Präsidentin Dilma Rousseff ins Leben gerufen. Eine Ausweitung des Konzepts auf alle Bundesstaaten war geplant, Ende 2018 waren jedoch nur die sieben Staaten São Paulo, Brasília, Ceará, Paraná, Maranhão, Mato Grosso do Sul e Roraima mit solchen Schutzräumen ausgestattet. Wenn man die Entwicklung der aktuellen Zahlen anschaut, müsste hier dringend nachgebessert werden.

Zahlen von 2018 belegen, dass über die Hälfte der Frauen eine Gewalttat nicht zur Anzeige bringt. Das Gesetz wird von einem Großteil der Frauen nicht genutzt, Vertrauen und positive Erfahrung mit Polizei und Staatsmacht sind nicht vorhanden. Stattdessen erleben sie im Alltag strukturellen Rassismus, dem Afrobrasilianerinnen und indigene Frauen ausgesetzt sind[6]. Hinzu kommen stereotype Bilder aus koloniale Unterdrückungsmustern, die die Sexualität und den weiblichen Körper interpretieren. Fehlende finanzielle Unabhängigkeit verstärkt den Leidensdruck der Opfer. Sie müssen einen Abwägungsprozess der Nachteile vornehmen, die sie für ihr Leben und das ihrer Kinder in Kauf nehmen.

Die schwarze Aktivistin und Staatsanwältin Livia Sant‘ Anna Vaz geht in der Veranstaltung des lateinamerikanischen Frauennetzwerks Unidas „Frauen im Dialog“ im November 2020[7] sogar noch weiter und bemängelt die fehlende pluriversale Perspektive der Gesetzgebung und auch eines Gesetzes wie das „Maria da Penha“.  Pluriversalität geht davon aus, dass mehrere Traditionen und Sozialordnungen gleichzeitig möglich sind. Kommt sie zur Anwendung, könne dies die Rechtsauslegung dekolonialisieren. Das brasilianische Gerichtswesen sowie die Legislative seien immer noch geprägt von der Weltsicht männlicher, weißer, christlicher und heterosexuell-normierter Juristen. Sie machen die Gesetze des Landes und legen sie auch, weshalb ein Gesetz Maria da Penha vor allem weißen Frauen der Mittel- und Oberschicht helfe.

[1] https://blog.misereor.de/2020/11/25/online-empowerment-wie-in-brasilien-der-gewalt-gegen-frauen-begegnet-wird/

[2] https://www.politize.com.br/violencia-domestica-no-brasil/

[3] https://www.brasildefato.com.br/2020/09/22/violencia-domestica-atinge-mais-de-82-mil-mulheres-este-ano-em-minas-gerais

[4] https://datapopalliance.org/violence-against-women-in-latin-america-the-multiple-facets-of-a-pervasive-issue/

[5] https://www.evangelisch.de/inhalte/179580/09-12-2020/bolsonaro-schafft-importsteuer-fuer-schusswaffen-ab

[6] https://datapopalliance.org/violence-against-women-in-latin-america-the-multiple-facets-of-a-pervasive-issue/

[7] https://www.goethe.de/ins/br/de/kul/sup/und/uni.html