Alles fliesst - in Amazonien bald nicht mehr so

Das investigative Portal Amazônia Real veröffentlichte gestern eine umfangreiche Hintergrundrecherche zum von Brasília geplanten massiven Ausbau von Wasserstraßen in Brasilien, darunter auch in Amazonien. Demnach unterzeichnete die Regierung Lula am 28. August dieses Jahres das Dekret Nr. 12.600. Schon der Titel dieses Dekrets spricht Bände: "Regelt die Aufnahme öffentlicher Bundesprojekte im Bereich der Wasserstraßen in das Nationale Entstaatlichungsprogramm." Damit wird also die Umsetzung der neuen Politik zur Vergabe von Konzessionen für die Flüsse des Landes an den Markt - also eine neoliberale Privatisierung der Flüsse, so Kritiker:innen - einen Schritt weiter vorangebracht, und, besonders brisant: den Anfang macht Amazonien.
Denn der Text des Dekrets bezieht explizit die Wasserstraßen der Flüsse Tapajós und Tocantins in Pará sowie den Rio Madeira in Amazonas und Rondônia in das Nationale Privatisierungsprogramm (kurz PND) ein. Das Projekt, mehr als 3.000 Kilometer schiffbare Abschnitte der Amazonasflüsse an die Privatwirtschaft zu übergeben, dient aber - so viel ist laut den Kritiker:innen eindeutig klar - den Interessen der Agrarindustrie und anderer Wirtschaftssektoren.
Wo läge der wirtschaftliche Vorteil? Am Fall der geplanten Schiffbarmachung des amazonischen Tapajós-Fluss macht es klar (siehe hierzu auch: "Staudamm, Schiene, Schnitzel"): Sollten die Wasserstraßenprojekte wie beispielsweise im Tapajós-Becken wie geplant realisiert werden, so erklären die Soja-Farmer:innen und ihre ruralista-Lobby im Nationalkongress schon lange, würde dem brasilianischen Agrobusiness eine Kostenersparnis von satten 41 Prozent beim Transport ihrer Produkte blühen. Denn: Bislang, so klagen Soja-Farmer:innen vor allem im zentral gelegenen Mato Grosso, hätten sie bis zu viermal höhere Logistikkosten pro Tonne Soja als ihre Konkurrenten im Mittleren Westen der USA. Die geplanten Infrastrukturprojekte am Tapajós würden die Logistikkosten enorm senken und den Anbau von Soja im großen Stil in Regionen lohnenswert machen, die bislang von der Expansion der Agrarindustrie verschont geblieben waren. Dies würde brasilianische Agrargüter (und Mineralien) noch mehr auf dem Weltmarkt reüssieren lassen - zum Leidwesen der lokal von der Ausweitung der Agrargrenze und des Bergbaus in den An- und Abbaugebieten Betroffenen und der lokal vom Wasserstraßenausbau Betroffen führen würde. Im Falle des Tapajós - so hatten bereits frühere Proteste um das Jahr 2016 gegen den damals noch geplanten Staudamm São Luiz do Tapajós (der Mitte 2016 am erbitterten Widerstand der Indigenen Munduruku von der Bundesumweltbehörde ad acta gelegt wurde) gezeigt, dass es beispielsweise am Tapajós nicht nur um Energieproduktion geht: Mit den Staudämmen sollen auch Transportwege ausgebaut werden: Sie sollen dazu beitragen, den Flusslauf zu regulieren und ihn so schiffbar zu machen. Dadurch sollen Wasserstraßenrouten für den Transport von Rohstoffen aus dem Bundesstaat Mato Grosso geschaffen werden. Die Staumauern würden dafür sorgen, dass Stromschnellen überflutet werden. Vier Schleusen sollten laut den damaligen Planungen am Tapajós entstehen, sechs am Teles Pires. Dann könnten dann auch größere Schiffe diese Regionen erreichen. Dazu sollen die Häfen in Santarém, Mirituba, Itaituba, Santana und Barcarena noch weiter ausgebaut werden. So würden die Infrastrukturprojekte nicht nur Energie liefern, sondern eben auch den kostengünstigen Transport von Rohstoffen bis an den Atlantik - und darüber hinaus - ermöglichen.
Am Vorabend der COP30 in Belém warnen nun Indigene und Umweltschützer:innen zum wiederholten Male - laut der Hintergrundrecherche von Amazônia Real - vor den sozialen Folgen und Umweltauswirkungen eines solchen Wasserstraßenbaus in Amazonien und prangerten die mangelnde Konsultation der betroffenen Indigenen Bevölkerung an, die ja eigentlich durch die ILO-Konvention Nr. 169 vorgeschrieben ist.
Wie soll der Ausbau der Wasserstrassen in Amazonien vonstatten gehen und welche Ausmaße hätte dies? Das Projekt der Wasserstraße des Tapajós-Flusses umfasst etwa 250 Kilometer geplante schiffbare Strecke zwischen den Gemeinden Itaituba und Santarém im Bundesstaat Pará. Auf dem Tocantins-Fluss soll die Strecke sich über 1.731 Kilometer zwischen Belém (PA) und der Gemeinde Peixe (TO) erstrecken. Die Wasserstraße des Madeira sieht die Schifffahrt zwischen Porto Velho (Rondônia) und Itacoatiara (Amazonas) vor und verbindet sich mit dem Amazonas auf einer geschätzten Strecke von 1.075 Kilometern. Die Abschnitte durchqueren dabei Quilombola-, Flussufer- und Indigenengebiete sowie Naturschutzgebiete, so der gestrige Bericht von Amazônia Real.
Jedoch: Die spezifischen Studien für die Konzession der Wasserstraße Tapajós sind noch nicht abgeschlossen. Die Regierung behauptet jedoch, dass vorläufige Analysen der Bundesbehörde für Transport-Infrastruktur Dnit darauf hindeuteten, dass der Fluss das Potenzial sowohl für die Transportschifffahrt zwischen Häfen des eigenen Landes als auch für große Überseetanker als direkter Verbindung zu internationalen Häfen habe - sofern - so zitiert es Amazônia Real - "Korrekturbaggerarbeiten und Vertiefungsarbeiten" durchgeführt werden. Kein Wort von Schleusen, kein Wort davon, dass mit dem Bau von Schleusen dann auch wiederum die Gefahr des wohlfeilen Arguments des vermeintlich volkswirtschaftlich "sinnvollen" Baus von Staudämmen auch zur Energiegewinnung steigt, denn wenn man dann künftig schon Schleusen baut, dann käme mit der Schiffbarmachung des Tapajós wohl auch wieder der alte Plan des São Luiz do Tapajós wieder aufs politische Tapet. Nicht auszuschließen.
Jedenfalls, das Dekret 12.600 schreckt die Indigenen und Flussanwohnenden vor Ort auf. "Wir fühlen uns in unseren Rechten verletzt. Die indigenen Völker an den Ufern des Tapajós-Flusses wurden nicht angehört", erklärte Lucas Tupinambá, stellvertretender Koordinator des Indigenenrats Tapajós und Arapiuns (Cita), der 14 indigene Völker des Unterlaufs des Tapajós-Flusses vertritt, gegenüber Amazônia Real. "Diese Wasserstraße ist nicht für uns, sie ist für Soja, sie ist für die großen internationalen Transportunternehmen. Was ist das für eine Entwicklung ohne die Beteiligung der Flussanrainer, der Fischer, der Indigenen? Was ist das für eine Entwicklung, die die Mutter der Fische tötet, die für uns Heiligste, nämlich die Flüsse, tötet?", fragte Alessandra Korap Munduruku in ihren sozialen Netzwerken. "Die COP30 steht vor der Tür, aber wir sehen bereits jetzt, welche großen Vereinbarungen mit den großen Unternehmen getroffen werden." Auricélia Arapiun, indigene Führerin des Volkes der Arapiun, Mitglied des Beratungsgremiums der Koordinierungsstelle der indigenen Organisationen des brasilianischen Amazonasgebiets (Coiab) und Koordinatorin des Verwaltungsausschusses der Nationalen Politik für die territoriale und ökologische Verwaltung indigener Gebiete (CG-PNGATI), betrachtet Präsident Lulas Dekret als direkten Angriff auf die Rechte traditioneller Völker, so wird sie von Amazônia Real zitiert: "Eine solche Nachricht von denen zu erhalten, die unsere Flüsse schützen sollten, die den gesamten Gesetzentwurf zur Zerstörung hätten ablehnen müssen, ist für uns indigene Völker, die vom Amazonasgebiet leben und davon abhängig sind, ein Schlag, dies ist ein Verrat. Es ist, als würde man uns in den Rücken fallen. Der Bau von Wasserstraßen passt nicht zu der Realität, in der wir leben. Es ist, als würde die brasilianische Regierung gegen den Kampf gegen die Klimakrise arbeiten."
Hinzu kommt: Der Abschnitt des Tapajós-Flusses zwischen den Städten Itaituba und Santarém werde bereits jetzt schon durch den zunehmenden Transport von Agrarprodukten bedroht: "Die zunehmende Zahl großer Lastkähne, die auf dem Tapajós-Fluss an den Ufern unserer Gebiete vorbeifahren, hat direkte Auswirkungen auf unsere Lebensgrundlage, die Fischerei, und auch auf die Orte, an denen sich Fische und Schildkröten fortpflanzen", beklagte Lucas Tupinambá gegenüber Amazônia Real. Und Auricélia Arapiun erklärte im Gespräch mit Amazônia Real, dass der Tapajós-Fluss vielfältigen Belastungen ausgesetzt sei, darunter Quecksilberverschmutzung, Staudamm- und Wasserkraftwerksprojekte, Häfen, die für den Transport von Agrarprodukten gebaut wurden, sowie die Auswirkungen von Pestiziden und schweren Dürren.
Für die Indigenen verstärken die zusätzlichen künftigen Konzessionsprojekte eine Logik, die das Leben der Amazonasvölker missachtet: "Die Privatisierung des Flusses und der Bau von Wasserstraßen ist nicht für uns, sie ist nicht auf uns ausgerichtet, sie ist nicht auf unsere Bootsfahrten ausgerichtet, sie ist nicht darauf ausgerichtet, wie sehr wir für unseren Lebensunterhalt von diesem Fluss abhängig sind. Sie ist für die Agrarindustrie, für die großen Unternehmen, um deren Leben zu erleichtern, nicht unseres", so zitiert Amazônia Real in ihrem Hintergrundbericht die Botschaft der Indigenen an die Welt.
// Christian Russau