Lula unter Druck

Der Abschluss des EU-Mercosur-Abkommens droht die politischen Ziele der neuen Regierung in Brasilien zu unterlaufen.
| von Claudia Horn
Lula unter Druck
Amtseinführung von Präsident Lula, am 1.1.2023 in Brasília. Foto: Ana Pessoa / Mídia NINJA / flickr, CC: BY-NC

Von Claudia Horn*

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen auf: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/lula-eu-mercosur/

Anlässlich der Amtseinführung des Präsidenten und ehemaligen Gewerkschaftsführers Luiz Ignacio Lula da Silva von der Arbeiterpartei (PT) zum 1. Januar dieses Jahres reisten Aktivist*innen teilweise tagelang in Karawanen aus allen Regionen Brasiliens in die Hauptstadt Brasilia. Ich besuchte das Stadion, in dem etwa 10 000 Mitglieder von Basisorganisationen – von der Landlosenbewegung bis zur Bewegung der vom Staudamm betroffenen Menschen (MAB) – kampierten. Auf der geschlossenen Plenarsitzung spricht Sônia Guajajara, die neue Ministerin für indigene Völker, zusammen mit anderen Politiker*innen über die Vertretung der indigenen Gemeinschaften in der Regierung und im Kongress. Aktivist*innen hängen symbolisch eine riesige brasilianische Flagge von den hohen Tribünen und singen, dass dies ihr Land ist. Die eigentliche Inaugurationszeremonie vor einem Meer von geschätzt 160 000 Anhänger*innen in roten Kleidern spiegelt diese Stimmungslage wider. Anstelle seines Vorgängers Bolsonaro, der nach Florida geflogen war, nahm Lula die Präsidentenschärpe von schwarzen und indigenen Vertreter*innen entgegen – und repräsentierte damit zum ersten Mal die Vielfalt Brasiliens bei dieser Zeremonie. Brasilia scheint an diesem Tag die Hauptstadt der Demokratie zu sein und es ist nicht wenig, dass Lula bei seiner Rede nicht nur die Bekämpfung von Hunger, sondern von sozialer Ungleichheit betont.

Die Anhänger*innen des neuen Präsidenten hoffen auf anti-neoliberale öffentliche Investitionen und politische Steuerung, um einen Rückgang der Armut, die bessere Integration von Arbeitnehmer*innen in den Arbeitsmarkt durch formale Beschäftigungsverhältnisse und die Erweiterung des Zugangs zur Bildung zu erreichen. Doch dass Brasilien nach dem Regierungswechsel ebenso gespalten ist wie zuvor, zeigt der gewaltsame Putschversuch nur eine Woche später bei dem Bolsonaro-Anhänger*innen das Regierungsviertel in Brasilia ohne Eingreifen der Polizei stürmten und verwüsteten. Welche Bedeutung hat in diesem Kontext das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und dem Mercosur, über das seit Jahrzehnten verhandelt wird? 

2019 wurde eine Einigung über den separaten Teil des Abkommens zum Freihandel und Investitionsschutz erzielt, doch auch diese Vereinbarung wurde bisher nicht ratifiziert. Die Verzögerung wurde in der EU zum Teil mit Bolsonaros faschistischer und zerstörerischer Politik begründet. Nun bemühen sich die Befürworter des Abkommens, es wieder als Möglichkeit darzustellen, grünes Wachstum in den beteiligten Staaten anzukurbeln.

Lula hatte sich schon vor den Wahlen positiv zur Fortsetzung der Verhandlungen mit der EU geäußert, wobei er die Notwendigkeit einer Korrektur des Abkommens in Bezug auf geistige Eigentumsrechte sowie umwelt-, klima- und industriepolitische Maßnahmen betonte. Die EU-Kommission hält das Abkommen jedoch für ratifizierungsreif. Lula hat die Wahl nur mit knapper Mehrheit gewonnen und ist mit einer konservativen Mehrheit im Nationalkongress konfrontiert. Zudem steht er unter dem Druck von Unternehmern, allen voran der Agrar- und Finanzwirtschaft, die Handelsverträge abzuschließen und so positive Marktsignale zu setzen. Die brasilianischen Unternehmer sind insgesamt mit den Interessen des internationalen Kapitals verbunden und vor allem auf kurzfristige Gewinne ausgerichtet. Auch Teile der Industrie, z.B. der konservative Industrieverband des Bundesstaates São Paulo (FIESP), unterstützen das Abkommen, selbst wenn die dadurch steigende Konkurrenz aus der EU ein Risiko für diesen Sektor darstellt. 

Die sich bildende Regierung ist uneins über den Abschluss des Abkommens mit der EU. Einige Mitglieder der Regierung wollen es neu diskutieren und verhandeln, verzögern und damit den Abschluss verhindern. Andere, wie beispielsweise der neu ernannte Minister für Außenpolitik Mauro Vieira und Finanzminister Fernando Haddad wollen sich keinen Handelsverträgen entgegenstellen. Es gibt auch andere Themen wie den Vertrag mit Singapur und die OECD-Mitgliedschaft Brasiliens. Hinzu kommt die Unsicherheit über die Zusammensetzung des neuen Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten im Nationalkongress, der für die Bewertung des Abkommens zuständig sein wird. Doch da vor und während des Wahlkampfes kein breiter Widerstand gegen das Abkommen zustande kam, wäre von brasilianischer Seite ein Abschluss zu Beginn der Regierung wahrscheinlich möglich.

Das Abkommen sieht die Beseitigung von etwa 93 Prozent der bestehenden Zölle vor, die derzeit bei durchschnittlich 13 Prozent liegen. Außerdem enthält es die Beseitigung sogenannter nichttarifärer Handelshemmnisse wie Anforderungen an die nationale Herkunft von Produkten (Local-content-Regeln), das Verbot von Exportsteuern, liberalisierte Gesundheits- und Hygienevorschriften, beispielsweise Maßnahmen zur Vorabgenehmigung erhöhter Fleischexporte, zur Verringerung der Lebensmittelsicherheitsinspektionen durch das einführende Land und zur Schwächung der Befugnis von Regierungen, Importe bei Verdacht auf Probleme mit der Lebensmittelsicherheit vorsorglich zu blockieren. Brasilien, Argentinien und Uruguay sind bereits die drei wichtigsten Länder, aus denen die EU-Rindfleisch importiert. Zusammen mit Paraguay entfallen auf die Mercosur-Länder fast 80  Prozent aller Rindfleischeinfuhren in die EU. Das Abkommen zielt darauf ab, diese Importe noch weiter zu erhöhen. Direkt wirken die geplanten Ausfuhrquoten für Agrarprodukte, z.B. eine fünfzigprozentige Erhöhung der Rindfleischexporte der Mercosur-Länder (229 Millionen Tonnen) und eine fünfhundertvierzigprozentige Erhöhung der Ethanol-Exporte (650 Millionen Tonnen). 

Zivilgesellschaftliche Initiativen im Mercosur und in Europa haben bisher strategisch an Verbraucher und Umweltschützer appelliert und auf die fatalen Folgen für die Umwelt und Kleinbauern im Mercosur hingewiesen, ebenso auf die Kriminalisierung von NGOs und Klimaaktivisten. Dabei blieb im Hintergrund, dass dem Abkommen mit oder ohne Bolsonaro ein koloniales Ungleichgewicht zugrunde liegt, das ein nicht nachhaltiges Monokultur-Agrarmodell in den Mercosur-Ländern verankert und ihre industrielle Benachteiligung verstärkt. 

Die drohende weitere Deindustrialisierung im Mercosur

Der Mercosur wurde 1991 als gemeinsamer Markt zwischen Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay gegründet, um die Wirtschaft der Mitgliedstaaten zu fördern, und zwar durch die Abschaffung von Zöllen unter den Mitgliedern, einen gemeinsamen Außenzoll von 35 Prozent auf bestimmte Einfuhren von Staaten außerhalb des Blocks und eine gemeinsame Handelspolitik gegenüber Drittländern und Handelsblöcken. Praktisch alle Regierungen des südamerikanischen Kontinents nahmen an Lula‘s Amtseinführung und wurden in persönlichen Treffen symbolisch privilegiert. Das Ende der Bolsonaro-Regierung, die Rückkehr von Lula als Präsident in Brasilien und das allgemeine Wiederaufleben des linken Flügels des politischen Spektrums in Lateinamerika eröffnen wichtige Möglichkeiten für die regionale Integration, sozial-ökologische Transformation, Reindustrialisierung und Energiewende. Während einige die regionalen Entwicklungen als gute Ausgangsbedingung für das EU-Mercosur-Abkommen darstellen, befürchten Arbeitervertreter, dass das Abkommen mit Europa diese Pläne, die strategische industriepolitische Maßnahmen einschließen, durch Handelsliberalisierung behindert.

Sowohl Argentiniens Präsident Alberto Fernández als auch Lula streben eine Reindustrialisierung nach drei Jahrzehnten neoliberalem Abbau an. Lula hat eine gezielte staatliche Industrieförderung angedeutet, zuletzt durch die Ernennung seines PT-Kampagnenchefs Aloizio Mercadante als Chef von Brasiliens Entwicklungsbank BNDES. In Brasilien ist der Anteil von Industrieerzeugnissen –Chemikalien, Arzneimitteln, Maschinen, Textilien und Autos – an allen Warenexporten bereits von 59 Prozent im Jahr 1993 auf 25 Prozent im Jahr 2021 gesunken. Staatliche Investitionen in Forschung und Entwicklung könnten beispielsweise Anreize zur Erzeugung von Wind- und Solarenergie setzen, Beschäftigung fördern und soziale Ungleichheiten vor allem im Nordosten des Landes abbauen. 

Die Liberalisierungsauflagen des Handelsabkommens stehen den Reindustrialisierungsplänen entgegen. Zum Beispiel äußerte sich Argentiniens Präsident Fernández besorgt über das Abkommen, weil es ein großes Risiko für die einheimische Autoindustrie darstellt. Tatsächlich drängt die europäische Automobilbranche auf das Abkommen, weil es für sie einen neuen, bisher durch die gemeinsame Mercosur-Automobilpolitik geschützten Markt für Motoren und Autos eröffnet. Außerdem würde es die Erzeugung von Lithium und Aluminium im Mercosur fördern, die für Elektromotoren unerlässlich sind. Die Ausfuhren aus dem Automobilsektor der EU in den Mercosur sollen laut Prognosen zwischen 95 Prozent und 114 Prozent steigen.

Die von der EU-Kommission in Auftrag gegebene Nachhaltigkeitsfolgenabschätzung hat einen Beschäftigungsrückgang von etwa vier Prozent in bestimmten Sektoren des verarbeitenden Gewerbes im Mercosur bestätigt, die angeblich durch Zuwächse in der Landwirtschaft und im Bergbau ausgeglichen werden. In Wahrheit können diese Verluste nicht einfach kompensiert werden, schon gar nicht in einem hochmechanisierten Agrarsektor, dessen Beschäftigungsanteil trotz Rekordprofiten von 13,4 Prozent im Jahr 2009 auf 9,1 Prozent im Jahr 2019 gesunken ist. Weitere europäische Investitionen konzentrieren sich bisher auf den Bergbausektor und würden so keine „grünen“ Jobs im Mercosur fördern. Selbst der offizielle Folgenbericht sagt also Beschäftigungsverluste in verschiedenen Industriebranchen des Mercosur und Beschäftigungszuwächse im Wesentlichen nur in der Landwirtschaft und im Bergbausektor zu. Eine Bilanz der voraussichtlichen Veränderungen muss dabei nicht nur die Beschäftigungszahlen thematisieren, sondern auch die unterschiedlichen Arbeitsbedingungen in den jeweiligen Sektoren berücksichtigen. Beschränkungen der Arbeitnehmerrechte und die realen Kräfteverhältnisse dürften einen Anstieg der Reallöhne oder eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft und im Bergbau in stärkerem Maße als in der Industrie verhindern.

Die Privatisierung der Gemeingüter im Mercosur

Kritiker aus dem öffentlichen Sektor befürchten auch die weitere Privatisierung und der internationale Ausverkauf der Naturschätze und strategischen Sektoren Brasiliens: Wasser, Energie, Land, Gesundheit und Bildung. Brasilien hat in den letzten Jahren und parallel zu den Verhandlungen zwischen der EU und dem Mercosur eine Privatisierungsoffensive durchlebt. Die Bolsonaro-Regierung privatisierte wichtige staatliche Unternehmen des Energiesektors, darunter das brasilianische Energieunternehmen Eletrobras und Tochterunternehmen des halbstaatlichen Mineralölunternehmens Petrobras, z.B. Transportadora Associada de Gás (TAG), Liquigás und Gaspetro. Das 2021 ins Leben gerufene sogenannte "Adoptiere einen Park"-Programm erlaubte Coca-Cola, Carrefour und Heineken sogar, von Gemeinden bewohnte öffentliche Schutzgebiete zu erwerben, um ihr grünes Image zu verbessern. Außerdem versteigerte die Regierung mehrere wichtige Häfen vollständig. Eine größere Dominanz internationaler Großunternehmen in den öffentlichen Versteigerungen im Bereich Energie, Wasser, Abfallwirtschaft und Kommununikation ist sicherlich in deren Interesse, schränkt jedoch die öffentliche Kontrolle und den allgemeinen Zugang ein und verhindert eine demokratische sozialökologische Transformation in der Region. 

Bereits am ersten Tag im Amt ordnete die Lula-Regierung die Aufhebung der Privatisierungsprozesse von acht staatlichen Unternehmen an, darunter Petrobras, die Post und das staatliche Unternehmen für Kommunikation. Auch neue Minister für Häfen und Flughäfen, Márcio França, blockierte sofort die Privatisierung des Hafens von Santos im Bundesstaat São Paulo, die Bolsonaro eingeleitet hatte. Allerdings wurde selbst die hochkontroverse und heftig bekämpfte Privatisierung von Eletrobras unter Bolsonaro, die schnell zu Preissteigerung für Verbraucher*innen geführt hatte, von der Übergangsregierung diskutiert, ohne dass Schritte für eine Wiederverstaatlichung beschlossen wurden. 

Landwirtschaftliche Monokultur und ökologische Zerstörung

Das Abkommen würde die Erreichung weiterer Ziele der Lula-Regierung erschweren, nämlich die Wiederherstellung des Umweltschutzes und die Abschaffung des Hungers in Brasilien. Beide hängen mit dem zerstörerischen Wirtschaftsmodell zusammen, das auf der Ausfuhr von Agrarprodukten und Rohstoffen basiert. Vor allem die Lobbys der Agrarwirtschaft und ihre Verbündeten aus neoliberalen Think Tanks haben sich für das Abkommen stark gemacht, ebenso wie der Bergbausektor. Unternehmen wie Bayer und BASF würden von dem Abkommen profitieren, da die Zölle für den Export von Pestiziden in die Länder des Mercosur wegfallen würden. Strenge Gesundheits- und Umweltstandards - Inspektionen, Haftungsklauseln, mögliche Importstopps - behindern ihre Geschäftsziele. 

Allein durch die im Abkommen vorgesehene Steigerung der Rindfleischproduktion könnte die Entwaldung im Mercosur in den nächsten sechs Jahren um mindestens 25  Prozent pro Jahr zunehmen. Die Zunahme der Entwaldung und Landumwandlung ist in allen Ökosystemen zerstörerisch, zum Beispiel in der Savannenregion Cerrado, wo am meisten Soja produziert wird, während die Rinderzüchter weiter in das Amazonasgebiet vordringen, um dort Weideland zu gewinnen. Im Jahr 2019 gab es die meisten Landkonflikte im Norden, also in Amazonien, was auf das Vorrücken der Agrarindustrie in den Regenwald hinweist. 

Die Ausbreitung der Monokultur bedeutet die Zurückdrängung der Familienlandwirtschaft, die 80 Prozent der Bäuer*innen beschäftigt, die 70 Prozent der Brasilianer*innen ernähren, aber über weniger als 25 Prozent der Landesfläche für die Produktion verfügen. Schon heute ersetzt die Produktion von Soja und Mais für den Export die Produktion von Reis und Bohnen, während über die Hälfte der Bevölkerung in Ernährungsunsicherheit lebt. Indigene, traditionelle und bäuerliche Gemeinschaften bleiben oft auf die Produktion von Nahrungsmitteln in Gebieten beschränkt, die für die Landwirtschaft nicht geeignet sind, was oft zur Abwanderung in prekäre Arbeitsverhältnisse in städtischen Randgebieten führt. Studien über die Auswirkungen des Abkommens deuten daher auf weiter steigende Ungleichheit, Ernährungsunsicherheit, Deindustrialisierung und Umweltzerstörung hin. 

Die Verhandlungsführer tun so, als ob der Ausstieg der Regierung Bolsonaro und ihr Engagement für indigene Völker und Umweltfragen die Nachhaltigkeit der Lieferketten garantieren könnten. Im Gegensatz dazu ist die Agrarindustrie – einer der wichtigsten Unterstützer und Nutznießer des Putsches gegen PT-Präsident Dilma Rousseff in 2016, der Bolsonaro Regierung und auch des jüngsten Putschversuchs – ist noch stärker aus der Wahl herausgegangen und hat nun die einflussreichste Fraktion im Nationalkongress. Neue Agrarfronten inmitten des Regenwalds und Infrastrukturpläne für den Rohstoffexport durch den Amazonas versprechen in den nächsten Jahren Landkonflikte und Interessenskonflikte für die neue Lula-Regierung. 

Mangelnde Demokratie 

Betroffene Gruppen in allen Ländern  ̶ Arbeitnehmerorganisationen, indigene Bevölkerungsgruppen, Kleinbbäuer*innen, Fischer*innen  ̶ wurden von den Verhandlungen ausgeschlossen. Das Abkommen erwähnt zwar die Rechte der indigenen Bevölkerung, verwässert aber ihr Recht auf Konsultation, das bereits international festgeschrieben ist. Arbeitnehmervertreter haben mir berichtet, dass vor allem Bolsonaro in Brasilien die Verhandlungen ohne jeglichen Zugang zu Informationen vorangetrieben hat. Aktivist*innen wandten sich an ihre argentinischen Partner in Europa, um die Verhandlungen zu verfolgen. Im April 2022 unterzeichneten 450 Organisationen einen Brief gegen das Abkommen. Mit anderen Worten, keine Anpassungen können den völligen Mangel an demokratischer Legitimität des Abkommens lösen. 

In diesem Zusammenhang erklärt ein Vertreter von Public Services International in Brasilien, dass der Widerstand gegen das Abkommen mit der EU verhalten ist, weil es mit seinen Risiken fast unbekannt ist und nicht ernst genommen wird. Das Abkommen mit der EU ist die erste Freihandels- und Investitionsschutzvereinbarung, die der Mercosur überhaupt abschließt. Insofern gibt es keine Erfahrung mit diesen Verhandlungen. Während Arbeiterorganisationen und soziale Bewegungen die Attacken der faschistischen Bolsonaro-Regierung abwehrten, erwarteten sie nichts wirklich Schlimmes von der „freundlichen“ EU, bzw. konzentrierten sich auf andere Prioritäten. Die Gruppen, die gegen das Abkommen gekämpft haben, konnten nur wenige PSOL-Abgeordnete für das Thema gewinnen und hatten mehr Erfolg mit Umweltschützern und Parlamentariern in der EU als in Brasilien. Nun sind viele teilweise an der Regierungsbildung in Brasilien beteiligt und haben doch wenig Macht, bereits laufenden Prozessen wie dem Abschluss der Handelsverträge viel entgegenzusetzen. Eine breitere transnationale Mobilisierung und kritische Diskussion des Abkommens ist wichtig und steht nicht im Widerspruch mit der Unterstützung für die progressive Regierung. 

Ein „grüner“ Handelsvertrag

Trotz all der Gefahren wird das Abkommen gern als neuartig und nachhaltig dargestellt. Der EU-Chefdiplomat Josep Borrell behauptete am 24. Oktober 2022: „Selbst für den Schutz von Ökosystemen ist es besser, gegenseitige Verpflichtungen zu haben als gar keine Verpflichtungen – ein Abkommen ist besser als kein Abkommen.“ Er spricht damit indirekt das Vertragskapitel zur Nachhaltigkeit an, das einige brasilianische Gewerkschaftsvertreter als enttäuschend einschätzen. Wie ein Feigenblatt separiert das Kapitel diese „gegenseitigen Verpflichtungen“ vom Rest des Vertragswerks, lässt diese in den wichtigen Texten zur Landwirtschaft aus und weist keinen Mechanismus zu deren Durchsetzung auf. Außerdem sind Verstöße gegen das Nachhaltigkeitskapitel nicht Teil des Schiedsverfahrens, so dass die Rechenschaftspflicht schwach ist. Im Gegensatz dazu gibt es bestimmte Abkommen, mit denen die Handelserweiterung im Widerspruch steht, z.B. das Pariser Klimaabkommen, das Cartagena-Protokoll, das Nagoya-Protokoll und die Aichi-Ziele für biologische Vielfalt.

Manche hoffen, dass die Zusammenarbeit die Produktion von erneuerbaren Energien und grünem Wasserstoff fördern könnte. Tatsächlich gibt es großes Potenzial und bereits Projekte für die Herstellung von Wasserstoff mit Solarenergie im Nordosten Brasiliens. Doch hinter dem Abkommen stehen eher Investoren im Bergbau als im Bereich der erneuerbaren Energien. Viele in der neuen Regierung und in sozialen Bewegungen wünschen sich eine neue Entwicklungsagenda und gesteuerte Dekarbonisierung in Brasilien, die Produktion von Elektroautos und erneuerbaren Energien. Eine festgeschriebene ungleiche Handelsbeziehung mit der EU droht eher die Krise europäischer Firmen in den Mercosur zu verlagern, dessen Staaten Rohstofflieferanten bleiben.

Das Abkommen spiegelt nicht die Bedürfnisse der Arbeitnehmer und der großen Masse der Bürger der EU oder des Mercosur wider, sondern einige wenige mächtige Unternehmensinteressen, die von dem Abkommen profitieren würden. Es steht im Widerspruch mit der Notwendigkeit und dem Bestreben der neuen Lula-Regierung, die Demokratie wieder aufzubauen und den sozialen und ökologischen Rassismus und die Ungleichheit in Brasilien zu bekämpfen. Der Vertrag stärkt ein koloniales Modell von Primärgüterexporten aus dem Mercosur und Industrieexporten aus der EU. Die Probleme des EU-Mercosur-Abkommens können nur dadurch gelöst werden, dass das Abkommen und die ihm zugrunde liegende, falsche Reziprozität gänzlich abgelehnt werden und die EU-Handelspolitik grundlegend geändert wird. So konzentriert sich das derzeitige Abkommen nur auf den Handel und garantiert weder Rechte für südamerikanische Arbeitnehmer und Migranten in Europa noch irgendeine Form von historischem Ausgleich für den europäischen Kolonialismus in Südamerika. Die Stärkung einer Integration der Bevölkerungen und Arbeitnehmerrechte sollten Vorrang vor der weiteren Handelsliberalisierung haben. Eine nachhaltige Handelspolitik muss diese Anliegen berücksichtigen, transparent sein und die Autonomie der Menschen im globalen Süden anerkennen.