Der Absturz

Ein Versuch, die brasilianische Krise zu verstehen
| von Thomas Fatheuer
Der Absturz
Foto: Eurico Zimbres 2006 CC BY-SA 2.5

Es ist schwierig, mit der Geschwindigkeit der Ereignisse in Brasilien Schritt zu halten. Der einst reichste Mann des Landes, Eike Batista, sitzt im gefürchteten Gefängnis von Bangu, ebenfalls in Haft befinden sich die ehemaligen Gouverneure von Rio de Janeiro, Cabral und Garotinho, sowie fast die gesamte Führung von Odebrecht, dem größten Baukonzern Brasiliens. Brasilien wird von einem politischen Erdbeben erschüttert, dessen Ausmaß kaum zu erfassen ist. Natürlich war der Sturz der gewählten Präsidentin Dilma Rousseff durch ein fadenscheinig begründetes Impeachmentverfahren der Höhepunkt dieser Krise, aber keineswegs der einzige Aspekt. Das Hauptopfer der politischen Krise steht jedenfalls fest, die Arbeiterpartei (PT) und ihr politisches Projekt. Damit steht die brasilianische Linke vor einem Scherbenhaufen. Ein widersprüchliches politisches Projekt, das aber unbestritten seine Wurzeln in linken Traditionen und Werten hat, ist gründlich gescheitert. Dies kann auch die deutsche Solidaritätsbewegung nicht unberührt lassen. Die PT und ihr Umfeld waren immer ihr Bezugspunkt. Die Frage „Wie konnte das passieren?“ ist daher zentral auch für die Perspektiven der Solidaritätsarbeit in Europa.

Diese Debatte ist nicht einfach, insbesondere dann, wenn sie nicht nur das Agieren der reaktionären Kreise und der Presse anklagen will, sondern nach den eigenen Fehlern fragt. Diese Perspektive ist meines Erachtens dringend notwendig. Die brasilianische Krise ist nicht nur, aber auch das dramatische Scheitern eines der wichtigsten linken Projekte der Welt. Dies zu benennen und zu reflektieren heißt nicht, den Putsch zu unterstützen oder den reaktionären Kräften in die Hände zu arbeiten. Es heißt auch nicht, die unbestreitbaren Errungenschaften der Ära Lula/Dilma zu leugnen. Angesichts einer heftigen reaktionären Offensive ist der Versuch, die eigenen Reihen wieder zu schließen (etwa hinter einer Kandidatur Lulas bei den nächsten Präsidentschaftswahlen), verständlich, aber nicht befriedigend. Die Interpretationen der Krise entfalten sich oftmals entlang zweier Grundlinien. Für die einen sind Lula und Dilma vor allem wegen ihrer Erfolge und der sozialen Errungenschaften ihrer Regierungen gestürzt worden, für die andern vor allem wegen ihrer fundamentalen Fehler. Die beiden Ansätze sind nicht unvereinbar, eine so schwere Krise ist offensichtlich eine komplexe Gemengelage, die nicht monokausal zu erklären ist. Im Folgenden wird versucht, zentrale Elemente, die zu dieser explosiven Mischung beitrugen, zu diskutieren. Der Fokus liegt dabei auf der Frage, wo linke Politik aufgrund ihrer eigenen Fehler und Verfehlungen gescheitert ist.

Bis etwa März 2013 war die Welt der PT in Ordnung, ja mehr als das. Brasilien schien, wie Lula es ausdrückte, einen „magischen Moment“ zu erleben. Zwei Amtsperioden von Lula, Dilma als seine Nachfolgerin gewählt, Brasilien als Austragungsort der Olympischen Sommerspiele und der Fußball-WM ausgewählt, die globale Finanzkrise einigermaßen gemeistert – Brasilien und seine Regierung schienen hervorragend dazustehen. Tatsächlich waren auch Dilmas Umfragewerte bis März 2013 hervorragend, dann begannen sie zu fallen. Jeder Erklärungsversuch der brasilianischen Krise muss diesen ersten Absturz fokussieren. Aber Dilma gelingt es, wenn auch knapp, die Präsidentschaftswahlen 2014 zu gewinnen. Unmittelbar nach den Wahlen beginnt der zweite Einbruch ihrer Beliebtheit, abrupter und radikaler als der erste. Es handelt sich also um ein Drama in zwei Akten.

Schaut man auf die langjährigen Statistiken, fällt auf, dass der Popularitätsverlust der Regierung Dilma mit einer Wende in der Wachstumsdynamik Brasiliens zusammenfällt. Ab 2012/13 beginnt das Wirtschaftswachstum einzubrechen. Allerdings ist dieser Effekt zunächst nicht spürbar beziehungsweise konnte durch antizyklische Maßnahmen abgeschwächt werden. Die Regierung Dilma versucht wie viele Regierungen dieser Welt, auf die sich abschwächende Konjunktur mit sinkenden Leitzinsen zu reagieren. Von 10,25 Prozent Anfang 2012 sinkt der Leitzinssatz auf 7,25 Prozent im Oktober und bleibt bis April 2013 mit leichten Schwankungen auf diesem Niveau, um dann wieder kontinuierlich zu steigen. Bereits im November 2013 erreichten die Zinsen wieder die 10-Prozent-Marke, um bis Juli 2015 auf exorbitante 14,25 Prozent zu steigen.

Die misslungene Zinssenkungspolitik ist der Ausgangspunkt für eine der einflussreichsten Erklärungen der brasilianischen Krise. André Singer, ehemaliger Pressesprecher der Regierung Lula, hat die erfolgreiche Zeit der Lula-Regierung als das Resultat eines breiten gesellschaftlichen Bündnisses gesehen. Die Politik der nationalen Versöhnung hinter einem Wachstumsmodell hat er als „Lulismo“ bezeichnet. Der Regierung Lula war es gelungen, nicht nur Kapital und Arbeit in sein Wirtschaftsmodell einzubinden, sondern auch verschiedene Kapitalfraktionen. Hier nun kommt eine Besonderheit des brasilianischen Kapitalismus ins Spiel. Die Hochzinspolitik, die seit vielen Jahren Brasilien prägt, hat einen Rentenkapitalismus begünstigt, der bequeme Gewinne am Kapitalmarkt einfahren konnte, ohne sich auf produktive Risiken einzulassen. Die Macht des Finanzkapitals ist keine brasilianische Besonderheit, wohl aber, dass sie die enormen Zinsen der Staatsverschuldung als ihre Basis hat. Aufgrund dieser besonderen Lage ist der brasilianische Kapitalismus, so Singer, durch eine tendenzielle Spannung zwischen dem produktiven Kapital (das an niedrigen Zinsen interessiert ist) und dem Finanzkapital gekennzeichnet. Die voluntaristische und überstürzte Zinssenkungspolitik der Regierung Dilma ruiniert nun die fragile Allianz zwischen produktivem und Finanzkapital und damit eine der zentralen Säulen des „Lulismo“. Wichtige Teile der brasilianischen Elite wenden sich nun von Dilma ab.

Lula hatte wiederholte Male versichert: „Die Reichen sind es, die am meisten in meiner Regierung verdient haben.“ Aber 2013 verliert die Grundannahme (oder Illusion) des „Lulismo“ ihre Kraft, dass Reiche und Arme gleichzeitig von den Segnungen des Wachstums profitieren können.

Aber die wirtschaftspolitischen Wirrungen der Regierung Dilma beschränken sich nicht auf die Zinspolitik. In dem Bestreben, Wachstum zu forcieren, greift die Regierung zu zwei Strategien.Firmen werden durch öffentliche Kredite und Steuererleichterungen massiv gefördert. Diese Politik erweist sich als Milliardengrab und völliges Desaster. Zu den wichtigsten EmpfängerInnen der staatlich geförderten Kredite gehörten der schon erwähnte Häftling Eike Batista (Kredit der staatlichen Entwicklungsbank BNDES: 10 Milliarden Reais) und die Telefongesellschaft Oi, der größte Telekommunikationskonzern Brasiliens, der 2016 mit der unglaublichen Schuldensumme von 65 Milliarden Reais ein Konkursverfahren einleiten musste.

Teuer wurde auch die verordnete Deckelung des Benzinpreises. Das Dramatische aber war, dass diese Maßnahmen insgesamt keinen Effekt hatten, sie konnten weder den Niedergang des Wachstums noch die Krise des Industriesektors vermeiden. Eine Zahl macht die Dimension des Desasters deutlich: Die Beteiligung des Industriesektors am Bruttoinlandsprodukt sank von 15 Prozent im Jahr 2010 auf 11 Prozent im Jahr 2015. Für weite Teile der Bevölkerung war dies aufgrund der gestiegenen Löhne, gedeckelten Preisen und einer florierenden Binnennachfrage zunächst nicht so stark spürbar und so gelang es Dilma, die Wahlen 2014 noch zu gewinnen. Aber es war mehr als deutlich, dass die Wirtschaftspolitik über den Wahltermin hinaus keinen Bestand haben konnte; die Kosten liefen aus dem Ruder, ohne Effekt zu zeigen. Und so kam es, wie es kommen musste. Dilma ernannte den Bankmanager Joaquim Levy zum Wirtschaftsminister, der den Bruch mit der bisherigen Wirtschaftspolitik und die Notwendigkeit eines „Anpassungsprogramms“, sprich Sparmaßnahmen, verkündete. Im Wahlkampf hatte Dilma noch genau das Gegenteil versprochen. Dies erklärt den zweiten, abrupten Niedergang ihrer Popularität. Anfang 2015 steht die Regierung Dilma jedenfalls vor einem Scherbenhaufen. Ein antizyklisches Wirtschaftsprogramm ist trotz hoher Staatsausgaben gescheitert, die Wirtschaftskrise verschärft sich und die Popularität der Präsidentin erreicht einen Tiefpunkt. Vom Glanz des „Lulismo“ ist zu diesem Zeitpunkt nichts mehr übrig geblieben.

Der zweite wesentliche Faktor für den Absturz ist die schier endlose Enthüllung von Korruptionsskandalen während der Regierung Dilma. Zwar sind Korruptionsskandale wahrhaft keine Neuigkeit, aber mit der 2014 beginnenden Operation Lava Jato erlangt das Vorgehen gegen die Korruption eine neue Dimension, die das politische System Brasiliens zutiefst erschüttert. Die wichtigste Neuigkeit ist dabei, dass das Justizsystem zu einem politischen Faktor und Akteur wird. Insbesondere der ermittelnde Richter Sérgio Moro wird zu einer populären und umstrittenen Figur. An ihm machen sich die unterschiedlichen Bewertungen von Lava Jato fest. Die PT, aber auch weite Kreise einer linken, kritischen Öffentlichkeit, werfen Moro Einäugigkeit und politische Motivation vor. Moro ermittelt insbesondere gegen die PT und die mit ihr verbündeten Parteien, verschont aber die Opposition und PolitikerInnen der ehemaligen Regierungspartei PSDB.

Politisch nützt der PT die Kritik an der Einäugigkeit wenig, denn diese leugnet ja nicht den Wahrheitskern der Anschuldigungen. Dass die PT und ihre Verbündeten in schwerste Korruptionsaffären verwickelt sind, ist inzwischen unbezweifelbar. Umstritten ist die politische Bewertung. Hat die PT einfach das gemacht, was die anderen Parteien seit Jahrzehnten auch gemacht haben, oder hat sie die Korruption auf neue systemische Höhen getrieben? Jedenfalls ist es mehr als tragisch, dass eine Partei, die einstmals für die Ethik in der Politik angetreten war, nun im Zentrum der größten Korruptionsaffären in der Geschichte Brasiliens steht.

Die Linke hat traditionell Schwierigkeiten, mit dem Thema Korruption umzugehen. Korruption ist ein beliebtes Thema der populistischen Rechten und in der Geschichte unzählige Male missbraucht worden. Außerdem hat die Linke eine Tendenz, gezielt „Korruption“ in der Form der illegalen Parteienfinanzierung durchaus nicht nur zu praktizieren, sondern auch zu legitimieren. So argumentierte die bekannte PT-nahe Philosophin Marilena Chaui im Kontext des ersten Korruptionsskandals in der Regierung Lula, des Mensalão1, dass es für die Linke nicht auf die Ethik der Mittel, sondern auf die Ethik der Ziele ankomme. Wenn man zur Durchsetzung der Sozialprogramme eben konservative Parteien kaufen müsse, so sei das bedauerlich, aber legitim.

Solche Überlegungen wie auch die sicher berechtigten Zweifel an der Unparteilichkeit der Ermittlungen helfen aber wenig. Lava Jato hat die PT in eine Zwickmühle gebracht. Jede Kritik am Lava Jato erscheint als Ablenkung von der eigenen Schuld.

Die Ära Lula/Dilma endet in der größten Wirtschaftskrise und dem größten Korruptionsskandal in der jüngeren Geschichte Brasiliens. Dies erklärt den drastischen Verlust an Unterstützung für die Regierung Dilma, rechtfertigt aber in keiner Weise das Impeachment der Präsidentin. Die offizielle Begründung des Verfahrens hat nichts mit den Ermittlungen von Lava Jato zu tun, sondern mit Verstößen gegen das Haushaltsgesetz. Diese Verstöße sind unbestritten, aber nur in der hier beschriebenen politischen Situation konnten sie zu einem Amtsenthebungsverfahren genutzt werden. Das Verfahren war ganz deutlich politisch motiviert und damit illegal, aber es war der unglaubliche Absturz der Regierung Dilma, der es politisch ermöglichte.

Natürlich haben viele Faktoren zum Ende der Regierung Dilma beigetragen, aber jede Analyse muss die Änderungen seit 2013 fokussieren. Denn auch vorher gab es eine reaktionäre Presse, Machismo und konservative Grundströmungen in der Gesellschaft. Für die Solidaritätsbewegung in Deutschland ist es manchmal unfassbar, welche reaktionäre Welle Brasilien überspült. Gegen sie gilt es, viele Elemente der Zeit Lula/Dilma zu verteidigen, ohne damit aber die notwendige Reflexion über Fehler beiseite zu schieben.

 


Freitag – 21. April 2017

18:30 Uhr Podiumsgespräch: Soziale Kämpfe in schwierigen Zeiten. Schwindende Spielräume für Zivilgesellschaft in Brasilien

Mit:

Verena Glass (Journalistin, Rosa-Luxemburg-Stiftung, São Paulo, Brasilien), Kelli Mafort (Bundeskoordination der bras. Landlosenbewegung MST, Brasilien), Barbara Unmüßig (Vorstand Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin)

Moderation: Luciano Wolff (Brot für die Welt, Leiter des Referats Lateinamerika)

Veranstaltungsort: Heinrich-Böll-Stiftung, Schumannstr. 8,10117 Berlin

Eine Anmeldung für die Abendveranstaltung ist nicht erforderlich. Die Veranstaltung wird simultan übersetzt.