„WIR MÜSSEN POLITISCHE RÄUME EROBERN“

Interview mit der Aktivistin Luciana Araújo zu Schwarzem Feminismus und Lulas Kandidatur. Dieses Interview erschien zuvor in leicht gekürzter Version in der September-2022er-Ausgabe der Lateinamerika Nachrichten Nr. 579.
| von Christian.russau@fdcl.org
„WIR MÜSSEN POLITISCHE RÄUME EROBERN“
Foto: Marcha das Mulheres Negras

Interview mit Luciana Araujo, Marcha das Mulheres Negras São Paulo. Das Interview führte Susanne Schultz.

Luciana Araujo ist Journalistin und Aktivistin der Marcha das Mulheres Negras von São Paulo. Als junge Frau verließ sie die katholische Kirche, als diese sich von der Befreiungstheologie abwandte, engagiert sich seit den 1990er Jahren im Movimento Negro Unificado, und ist Mitglied der Partei PSOL.



Die Marcha das Mulheres Negras 2015 in Brasília gilt für viele als Auftakt einer neuen Stärke des Schwarzen Feminismus in Brasilien. Inzwischen ist aus der Marcha ein dauerhaft arbeitendes Netzwerk geworden. Wie organisiert Ihr Euch in São Paulo?

Tatsächlich hat sich die Marcha gegründet, um die große Demo im November 2015 in Brasília zu organisieren, mit 50.000 Schwarzen Frauen; das war eine Idee der Aktivistin Nila Bentes, die dafür seid 2011 warb. Aber die Planung brauchte ihre Zeit. Schließlich ist es nicht einfach, dass Frauen, die hart arbeiten und Kinder zu versorgen haben, drei Tage für eine Demo unterwegs sind. Für viele war diese Erfahrung in Brasília sehr motivierend; und wir beschlossen nach der Marcha, weiter zusammenzuarbeiten. Etwas mehr als zwei Jahre später wurde Marielle Franco im März 2018 ermordet. Auch das war eine Botschaft an Schwarze Frauen, die bisher nicht an politischem Aktivismus interessiert waren : Wir müssen politische Räume erobern und uns Gehör verschaffen, wenn wir nicht umgebracht werden wollen.

Heute ist die Marcha in São Paulo ein Bündnis mehrerer Coletivas, also Frauengruppen. Manche von uns sind autonome Feministinnen, andere sind wie ich auch noch im Movimento Negro Unificado oder in linken Parteien aktiv. Seit 2016 organisieren wir am 25. Juli eine Demo am Tag der Tereza de Benguela. Dieser Kampftag des Schwarzen Feminismus erinnert an die Anführerin eines Quilombo im 18. Jahrhundert im heutigen Mato Grosso. Die letzte Demo haben wir dieses Jahr nach zwei Jahren Unterbrechung wegen der Pandemie wieder mit 5.000 Schwarzen Feministinnen im Zentrum von São Paulo organisiert. Aus Sicherheitsgründen haben wir die Demoroute etwas abgekürzt und an einer Metro-Station enden lassen, nicht wie bisher an der Kirche Nossa Senhora Rosario dos Homens Pretos, die von versklavten Menschen gegründet wurde. Und wir haben alle dazu aufgerufen, nicht alleine in ihre peripheren Stadtteile zurückzufahren. Schließlich hat die politische Gewalt in Zeiten des Bolsonarismo zugenommen und nicht alle finden es gut, wenn so viele Schwarze Frauen durchs Zentrum von São Paulo ziehen. Den Mães de Santo, die mit all ihrer besonderen Kleidung der afrobrasilianischen Religionen anreisten, um die Demo zu eröffnen, haben wir deswegen auch ein Uber bezahlt.



Macht Ihr über die Demo hinaus alltägliche Organisierungsarbeit?

Diese Marchas sind für viele Frauen sehr emotional berührend. Sie dachten bisher, Demonstrationen seien etwas für Querulant*innen. Manche schließen sich danach den Aktivitäten der Bewegung an. Für sie organisieren wir in der Peripherie Fortbildungsprogramme, jedes Jahr in einer anderen Region von São Paulo. Derzeit sind wir im Stadtteil Tiradentes aktiv, 35 km vom Stadtzentrum von São Paulo entfernt, einer der Regionen mit dem schlechtesten Human Development Index und dem höchsten Anteil schwarzer Bevölkerung. Diese Nachbarschaften entstanden mit der Vertreibung der Schwarzen Bevölkerung aus dem Zentrum, und sind sie sind Nachfahren der Quilombola-Bevölkerung. In Tiradentes machen wir die Fortbildung im Frauenhaus Anastacia. Anastacia war eine versklavten Frau, die heute als Santa gilt, weil sie Widerstand leistete gegen Folter und Vergewaltigung. Das Frauenhaus gibt es schon 15 Jahre. Aber derzeit greifen Bolsonaristas aus der Nachbarschaft es an und überhäufen es mit polizeichen Anzeigen wegen Lärm oder weil sich hier die „Vagabundinnen“ des Viertels versammelten. In der Fortbildung legen wir über die übliche feministische Bildungsarbeit zu Frauenrechten hinaus großen Wert darauf, die Geschichte der Schwarzen Kämpfe in Brasilien zu lehren. Wir fordern dazu auf, sich damit zu konfrontieren, was es heißt in Brasilien Schwarz zu sein. Auch wenn die Schwarze Bevölkerung inzwischen über die Hälfte der brasilianischen Bevölkerung ausmacht, haben wir seit Jahrhunderten gelernt, unser Schwarzsein zu leugnen, um überhaupt Zugang zu vielen Rechten zu bekommen. Aber die eigene Identität zu negieren, ist genau eine oftmals unbewußte Art und Weise, den Rassismus in Brasilien aufrechtzuerhalten.



Wie konnte es Deiner Meinung nach zu dem Einfluss des Bolsonarismo auch in diesen peripheren Stadtteilen kommen?

Meiner Meinung nach hat die Linke mit den Themen, die sie als „identitätspolitisch“ abqualifiziert hat, wie der Kampf gegen Rassismus und Sexismus, viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die Kirchen, und ganz besonders die evangelikalen, die in dieser Bevölkerung inzwischen sehr einflussreich sind, tun dies dagegen sehr direkt, indem sie sagen: Frauen sollen sich unterordnen und in Brasilien gibt es keinen Rassismus. Das ist mir erst neulich wieder klargeworden, als ich mit einem 20jährigen jungen Schwarzen Mann aus einer Favela der Zona Sul von São Paulo diskutiert habe. Er war Mitglied des rechtsliberalen Movimento Brasil Livre und evangelikal. Und er hat Rassismus auf eine Art und Weise geleugnet, die ich wirklich erschreckend fand. Die starke Überzeugung, mit der er das Offensichtliche leugnet, ist nur damit zu erklären, dass er sein Leben lang diese Erzählungen der Kirche zu hören bekommen hat: Wenn Du Dich nur genug anstrengst, wirst Du Erfolg haben und mit Deinem Glauben allen Notlagen und Erniedrigungen trotzen. Zudem ersetzen diese Kirchen ganz besonders in Zeiten der Pandemie den abwesenden Staat, indem sie Cestas Básicas verteilen oder sich um Krankenhauseinweisungen kümmern. Die Linke hat darin versagt, zwischen den religiösen Bedürfnissen und den evangelikalen Institutionen und ihren Strategien zu unterscheiden. Sie hat sich von diesen Gläubigen zurückgezogen, statt den Austausch zu suchen – und hat lange noch nicht einmal den enormen Rückschritt im politischen Bewusstsein der Menschen wahrgenommen. Ohne einen solchen Dialog wird es jedoch in Brasilien keine gesellschaftlichen Veränderungen geben.



Wie gestaltet sich denn das alltägliche Zusammenleben in den peripheren Nachbarschaften in diesen politisch polarisierten Zeiten?

Auf der einen Seite gibt es in der breiten nichtorganisierten Bevölkerung inzwischen viele junge Leute, die sich für den Schwarzen Feminismus begeistern. Wir sehen das in den öffentlichen Schulen. Da gibt es wirklich keinen Weg zurück! Die Schüler*innen sind heute wesentlich freier von Scham Schuldgefühlen, als wir das damals waren. Sie bekennen sich offen dazu, Lesben, Trans, Feministinnen und Antirassistinnen zu sein. Ihre Lebenshaltungen sind radikaler geworden, sie haben mehr Wissen über ihre Rechte. Dennoch gibt es weiter viele Formen der alltäglichen Solidarität, über diese Spaltungen hinweg. Wenn ich arbeite und mein Kind bei jemand lassen muss, ist es egal, ob die Nachbarin, die sich kümmert, Feministin oder Evangelikale ist. Im Alltagsleben, organisieren die Leute ganz besonderes in den peripheren Stadtteilen weiter ihr Zusammenleben, auch wenn allen diese unvereinbaren Positionen durchaus sehr bewusst sind. Zudem halten sich die Leute, deren politische Überzeugung gegen Bolsonaro ist, sich zurück. Es gibt immer noch eine gewissen Angst davor, über Politik zu sprechen, das ist das Erbe von 21 Jahren Militärdiktatur. Besonders zu Beginn von Bolsonaros Amtszeit waren die Gräben zudem sogar weitaus weniger tief, als ich mich noch aus Zeiten der Militärdiktatur erinnere. Selbst damals haben wir uns in der Familie und Nachbarschaft nicht völlig zerstritten, auch wenn wir viel diskutiert haben. Inzwischen sind die Konflikte allerdings nach vier Jahren Bolsonaro, nach Pandemie und seinen Drohungen mit einem Putsch stärker geworden. Die politische Gewalt geht weiter von rechts aus: Die Morde an der Capoeirista Moa do Katendê, an Mose Kabamgabe und an etlichen Transfrauen sind dafür sehr symbolhaft. Letztendlich ist die rechte Gewalt jedoch für uns nichts Neues, sie reicht weit in die Geschichte zurück: Brasilien entstand schließlich auf der Grundlage der Sklaverei, der Vergewaltigungen, der Folter und der Verstümmelung, auch wenn es sich immer gerne als friedlich, demokratisch und nicht rassistisch versteht.



Wirkt sich die Stärke des Schwarzen Feminismus heute auf intersektionale feministische Allianzen aus? Ist der Feminismus in Brasilien heute ein anderer als vor zehn Jahren?

Jein. Für uns sind Bündnisse mit anderen Feminismen zentral. Im Grunde machen wir heute aber das weiter, was Schwarze Feministinnen schon seit den 1970er Jahren tun: Wir beteiligen uns an allen 8. März-Demos und sonstigen Kampagnen. Aber wir fordern ein, gegen einen strukturellen Rassismus einzutreten, der oftmals reproduziert wird, ohne dass es viele überhaupt merken. Wir dagegen spüren das sehr deutlich! Es ist eine permanente Herausforderung und braucht viel Zeit. Wir müssen immer noch einfordern, dass es nicht diese typischen Zuschreibungen einer „spezifischen Frage“ in den feministischen Deklarationen und Reden gibt: Erst wird „allgemein“ gesprochen und dann wird hinzugefügt: „Auch die Schwarzen Frauen…“ Auch wenn sich ein bisschen was bewegt hat, bleibt es ein harter Kampf. Ebenso gibt es immer noch bestimmte Sektoren des Feminismus, die keine Trans-Frauen akzeptieren. Eine solche Haltung ist innerhalb des Schwarzen Feminismus sehr minoritär. Ich denke, das liegt daran, dass wir selbst Formen der Entmenschlichung erfahren haben und mehr Empathie entwickeln können. Neulich hat mir eine Mitarbeiterin der Schwarzen feministischen NGO Geledés genau dies erzählt: In einem Projekt mit Familienangehörigen von Jugendlichen, die von der Polizei erschossen wurden, war eine sehr bekannte Transfrau aktiv. Anfangs waren diese Mütter, die ohne jede aktivistische Erfahrung mitmachten, etwas irritiert darüber, aber diese Skepsis verflog unglaublich schnell. Dasselbe gilt auch für unsere Zusammenarbeit mit indigenen Frauen, mit denen wir Allianzen aufbauen, auch wenn wir unterschiedlich sind. Die gemeinsame Geschichte der Kolonisierung, Sklaverei und der Vergewaltigungen macht uns zu Geschwistern.

Der Schwarze Feminismus entwickelt zu vielen feministischen Themen zudem eine andere Perspektive, zum Beispiel wenn in den Kämpfen für Abtreibungsrechte oft relativ abstrakt von Wahlfreiheit gesprochen wird. Wir fordern eine Perspektive der reproduktiven Gerechtigkeit ein, also wahrzunehmen, dass sich die Entscheidung für oder gegen Kinder nicht trennen lässt von den sozioökonomischen Lebensbedingungen der Frauen, egal ob sie sich dringend eine Abtreibung wünschen oder Mutter sein wollen. All dies geschieht in einem Kontext, in dem es der brasilianische Staat armen und Schwarzen Frauen erschwert oder gar unmöglich macht, Mutter zu sein. Manche verlieren ihre Kinder wegen Polizeigewalt, andere sind gezwungen, ihre Kinder alleine zuhause zu lassen, wenn sie arbeiten gehen. Wenn wir nicht diskutieren, dass es oft harte Lebensbedingungen sind, in denen Frauen reproduktive Entscheidungen treffen, wird aus der Abtreibungsforderung ein beschränktes liberales Programm.



Das Konzept der reproduktiven Gerechtigkeit, das von Schwarzen Feministinnen aus den USA vorgeschlagen wurde, ist also für Euch auch eine wichtige Referenz?

Ja, für die Marcha ist das eine wichtige Debatte. Eine Forderung unserer „Carta de Principios“ ist weiterhin die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs. Erstaunlicherweise sind die Diskussionen in unseren Versammlungen dazu sehr entspannt und friedlich, auch wenn zur Marcha evangelikale Frauen, Frauen aus dem Candomblé, Pfarrerinnen ebenso wie Atheistinnen gehören. All diese Frauen kennen Erfahrungen alltäglicher Gewalt und Ungleichheit. Sie ziehen ihre Kinder alleine auf; sie halten den Haushalt mit einem einzigen Mindestlohn aufrecht; beim Gesundheitsposten bekommen sie weder Medikamente noch Kondome; und sie erleiden Gewalt und ungewollte Schwangerschaften. Und wenn ihr Ehemann gewalttätig wird und sie sich bei der nächsten Polizeidienstelle beschweren, wird ihnen dort gesagt, sie sollten ihren Mann lieben, er sei doch schließlich der Vater ihrer Kinder. Auch Frauen die nicht politisiert sind, wissen, dass es hier um etwas ganz Essentielles geht, selbst wenn viele kein Mikrophon in die Hand nehmen würden, um für die Legalisierung der Abtreibung einzutreten.

Auch das Thema Sterilisation wird heute wieder wichtiger. Die Situation ist zwar nicht vergleichbar mit der Zeit der Diktatur, als es massive Sterilisationskampagnen gab. Gerade hat der Kongress für ein Gesetz gestimmt, das es unter anderem erlaubt, Sterilisationen wieder während der Geburt, also bei einem Kaiserschnitt zu machen. Dagegen waren Schwarze Feministinnen in der Vergangenheit eingetreten und hatten 1996 eine Gesetzesreform unterstützt, die dies verboten hat. Denn in einer solchen verletzlichen Situation geschieht viel Machtmissbrauch. Gleichzeitig sehen viele, auch sehr junge Frauen weiter in der Sterilisation die einzige Lösung, weil es keine Sexualaufklärung, keinen Zugang zu gesundheitsverträglichen und reversiblen Verhütungsmitteln gibt und viel sexualisierte Gewalt.



Das Konzept der reproduktiven Gerechtigkeit integriert ja auch das Recht, Kinder unter guten sozialen Bedingungen aufziehen zu können – welche Kämpfe sind dafür wichtig?.

Mütter und Eltern bekommen keinerlei Unterstützung vom Staat. Es gibt keine Kindergärten und auch der Schulunterricht fällt sehr oft aus, weil es an Stellen und an Lehrer*innen fehlt, und nur sehr wenige Direktor*innen engagieren sich für Nachmittagsunterricht. Wenn eine Frau ihr Kind alleine lässt, weil sie arbeiten geht, und es passiert ihm was, wird sie zur Verantwortung gezogen. Und wenn sie nicht arbeiten geht, ist sie eine „Vagabundin“. Egal was sie macht. Ihr wird individuell die Schuld zugeschrieben, während der Staat keinerlei Verantwortung übernimmt. Auch dass armen Familien oft das Sorgerecht zu entzogen wird, nur weil sie arm sind, ist ein unbeschreiblicher Akt institioneller Gewalt. Als ich als 2008 bis 2011 als Referentin für einen Abgeordneten im Parlament des Bundesstaats São Paulo gearbeitet habe, kamen uns so viele Fälle von Kindesentzug durch die Jugendämter zu Ohren, dass wir eine Untersuchungskommission eingefordert haben. Den zumeist Schwarzen Familien wurde das Sorgerecht entzogen, auch ohne dass es Anzeigen wegen Gewalt oder Vernachlässigung gab - einfach nur weil sie arm waren. Statt für angemessene materielle Bedingungen, Gesundheitsversorgung und Schule zu sorgen, nahmen sie die Kinder weg; und es gab Adoptionsverfahren unter undurchsichtigen Umständen. Die Untersuchungskommission kam trotz genug Zustimmung dafür im Parlament letztendlich nie zustande, aber unsere Bewegungsnetzwerke haben solche Fälle weiter öffentlich angeklagt. Auch für Frauen in den Gefängnissen ist Kindesentzug ein wichtiges Thema: Zwar hat der Oberster Gerichtshof 2018 beschlossen, dass Frauen mit Kindern unter 12 Jahren auf ihr Urteil in Hausarrest warten können. Und in einem anderen Urteil hat er verfügt, dass es mildere Strafen geben sollte als Gefängnis für Leute, die im Bereich des Drogenhandels zum ersten Mal angeklagt werden, wenn es um kleine Mengen geht und die Leute nicht Teil der organisierten Kriminalität sind. Dennoch nimmt die Zahl der Frauen, die im Gefängnis sitzen, auch mit kleinen Kindern, im Kontext des Drogenhandels weiter zu.. Ihre Kinder landen in Waisenhäusern oder werden zur Adoption freigegeben, wen es keine Angehörigen gibt, die sich kümmern können. Auch sind es vor allem Mütter, die sich als Familienangehörige von Gefangenen organisieren und die Gewalt, Überbelegung der Zellen, verfaultes Essen oder die Verlegung der Inhaftierten ohne Information an die Angehörigen anklagen. Immer noch ist Brasilien weltweit das Land mit dem drittgrößten Anteil Inhaftierter nach China und den USA.



Wie positioniert Ihr Euch derzeit in diesen sehr angespannten Zeiten des Wahlkampfs in Brasilien?

Wir von der Marcha unterstützen ganz klar die Kandidatur von Lula. Das ist eine Überlebensstrategie, auch wenn nicht alle von uns PT-Anhänger*innen sind. Bereits 2015 übergaben wir bei der Marcha in Brasilia 2015 an die damalige Präsidentin Dilma Rousseff einen Forderungskatalog, der weiterhin gültig ist; schließlich hatte sie kaum Zeit darauf zu reagieren, es war kurz vor dem Impeachment. Hier zeigen wir alle Problemlagen auf, mit denen die Schwarze Bevölkerung und insbesondere die Schwarzen Frauen - sozusagen als Basis der Basis - alltäglich konfrontiert sind. Selbst wenn sich damals nach 12 Jahren progressiver Regierungen unsere Situation in mancher Hinsicht verbessert hatte; die strukturellen Bedingungen des Rassismus sind gleich geblieben. Wir fordern Reparationen für viele Dimensionen der Gewalt und eine Politik der Abschaffung von Gefängnissen Und wir sprechen weiterhin von Genozid, was inzwischen auch von der Linken mehr anerkannt wird als früher. Dazu trug auch eine Pandemiepolitik bei, die mehr als 600.000 Tote in Kauf genommen hat. Der Genozid trifft die Schwarze Bevölkerung mit Waffengewalt, aber auch durch den Ausschluss aus vielen sozialen Rechten. Wir müssen wieder ansetzen an den Reformen unter den PT-Regierungen und diese wieder einfordern und ausweiten: Von der Bolsa Familia, die viel zu gering war, aber immerhin unter dem Druck der sozialen Bewegungen an Frauen ausgezahlt wurde und es manchen ermöglichte, aus Zyklen häuslicher Gewalt auszubrechen. Viele fortschrittliche Politiken müssen überhaupt erst implementiert und der Schwarzen Bevölkerung zugänglich gemacht werden, von der Maria da Penha-Politik gegen Feminizde ist bis zum System der öffentlichen Gesundheitsversorgung, das unter Bolsonaro mehr oder weniger völlig kollabiert ist. Um einer enorm ungleichen Sterblichkeit bei vielen Krankheiten entgegenzuwirken, braucht es rassismus- und geschlechtersensible Ansätze in der Gesundheitsversorgung. Und es braucht das Ende einer rassistischen Schulbildung, die weiter dazu führt, dass es niemanden interessiert, wenn Schwarze Menschen ermordet werden.



Was für Aktivitäten plant Ihr im Wahlkampf?

Es wird Demos geben und auch die Unterstützung von Wahlkampagnen diverser Kandidaturen. Wir haben auch eine Carta dos Movimentos Sociais mit formuliert und verbreiten sie. Ich unterstütze in der Partei PSOL, für deren Gründung ich mich eingesetzt habe, zwar seit vielen Jahren die Kandidaturen verschiedener Leute, und die institutionelle Politik bleibt wichtig für unsere Bewegungen. Aber ich sehe meine Rolle eher darin, auf der Seite der Bewegungen aktiv zu sein und Gegenmacht gegenüber den Leuten in den Institutionen aufzubauen. Ohne diesen Druck von außen ist nichts zu erreichen. Wir brauchen immer einen Fuß außerhalb der Regierungen, Parteien, Parlamente und Behörden – sonst weiß der Fuß, den wir da drin haben schnell nicht mehr, in welche Richtung er gehen soll.



// Interview: Susanne Schultz