Neuer Bericht der Nationalen Gefängnispastoral in Brasilien erschienen

Folter in Haftanstalten stieg innerhalb von 19 Monaten zwischen 2021 und 2022 um 37,65 Prozent im Vergleich zum gleichen Zeitraum zwischen 2019 und 2020.
| von Christian.russau@fdcl.org
Neuer Bericht der Nationalen Gefängnispastoral in Brasilien erschienen
Symbolbild Gitterstäbe an Gefängniszelle in Brasilien. [hier: historische Zelle des DOPS in São Paulo] Foto: christian russau

Die Nationale Gefängnispastoral hat am vergangenen Dienstag den Bericht "Vozes e Dados da Tortura em Tempos de Encarceramento em Massa" veröffentlicht. Die Zahl der Berichte über Fälle von Folter in Haftanstalten stieg innerhalb von 19 Monaten zwischen 2021 und 2022 um 37,65 % im Vergleich zum gleichen Zeitraum zwischen 2019 und 2020.

Die Nationale Gefängnispastoral ist mit der Nationalen Konferenz der Brasilianischen Bischöfe (CNBB) verbunden und arbeitet mit Gefangenen und ihren Familien. Mit Vertreter:innen in allen Bundesstaaten des Landes verfolgt die Gefängnispastoral täglich die Realität in den brasilianischen Gefängnissen. Brasilien hat derzeit die drittgrößte Gefangenenpopulation der Welt und verzeichnet seit Anfang der 1990er Jahre einen kontinuierlichen und exorbitanten Anstieg, der - so die Nationale Gefängnispastoral - "die perverse Politik der Masseninhaftierung im Lande offenbart, die sich gegen marginalisierte und verarmte soziale Gruppen richtet, insbesondere gegen Jugendliche, Schwarze und Bewohner der Peripherie und der städtischen Gebiete, die sich in sozialer Not befinden."

Dem neuen Bericht zufolge wurden zwischen dem 1. Januar 2021 und dem 31. Juli 2022 223 Fälle von Rechtsverletzungen registriert und insgesamt 369 Anzeigen erstattet. Zwischen dem 1. Januar 2019 und dem 31. Juli 2020 wurden dagegen 162 Fälle registriert. Ein einziger Fall, der eine bestimmte Strafvollzugsanstalt betrifft, kann dabei auf mehr als eine Beschwerde zurückgehen. Nach Ansicht der Nationalen Gefängnisseelsorge könnte der Anstieg der Zahl der offenen Fälle möglicherweise im Zusammenhang stehen einerseits mit der institutionellen Anerkennung der Gefängnisseelsorge sowie mit der Rückkehr der seelsorgerischen Besuche nach der Covid-19-Pandemie. Es könne aber auch sein, dass der gemessene Anstieg mit einer zunehmenden Brutalität des Strafvollzugs im Zusammenhang stehen könne. "In den letzten Jahren hat die Gewalt gegen Gefangene durch verschiedene Folterinstrumente täglich zugenommen", heißt es in dem Bericht.

Unter den bis zum letzten Jahr (2022) registrierten Beschwerden gibt es eine Reihe von verschiedenen Verstößen und Folterungen. In vielen Fällen handelt es sich um mehr als eine Art von Verstoß. Die Gefängnispastoral konstatierte 123 Fälle von Vernachlässigung der materiellen Unterstützung, 116 Fälle von körperlicher Gewalt, 106 Fälle von Vernachlässigung der medizinischen Versorgung, 81 Fälle von erniedrigender oder entwürdigender Behandlung, 67 Fälle von Verstößen gegen Familienangehörige von Gefangenen, wie z. B. Verweigerung des Besuchsrechts, 41 Fälle von verbaler Gewalt und 37 Fälle von erniedrigenden Haftbedingungen, wie z. B. Überbelegung. Darüber hinaus wurden Fälle von Vernachlässigung des Rechtsbeistands, Fälle von Opfern kollektiver Bestrafung, der Einsatz von Eingreiftruppen, schikanöse Durchsuchungen, Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe und/oder der ethnischen Zugehörigkeit, der Geschlechtsidentität oder der sexuellen Ausrichtung sowie Fälle von sexueller Gewalt durch Gefängnispersonal registriert. Folter ist Teil der Struktur des Strafvollzugssystems, so die Gefängnispastoral. Es gebe zahlreiche Formen von Gewalt, die bei den Gefangenen und ihren Familien Leiden verursachen würden, die mit Rassismus, Frauenfeindlichkeit, Homophobie und anderen Unterdrückungen in Verbindung stehen, heißt es in unter anderem in dem Bericht. Ähnliches hatte KoBra in einem Interview mit Nana Oliveira und Isabela Corby von der Rechtsberatungsstelle Assessoria Popular Maria Felipa aus Belo Horizonte berichtet, in dem es über die Gefängnissituation in Brasilien ging, über institutionellen und gesellschaftlichen Rassismus und darüber, wie die Anwältinnen bei Maria Filipa an der Basis sich für die Freilassung von Schwangeren und von Müttern mit Kindern unter zwölf Jahren aus der Untersuchungshaft einsetzen sowie in Gesellschaft und Staat für die Abschaffung des bestehenden Gefängnissystems in Brasilien kämpfen.

Aus dem neuen Bericht der Gefängnispastoral geht hervor, dass im genannten Zeitraum die fünf Bundesstaaten mit den meisten von der Pastoral Carcerária eröffneten Fällen waren: Sao Paulo mit 71 Fällen (31,83 %), Minas Gerais mit 31 Fällen (13,90 %), Goias mit 17 Fällen (7,62 %), Rio Grande do Sul mit 13 Fällen (5,82 %) und Ceará mit 11 Fällen (4,93 %). São Paulo hat die größte Gefängnispopulation des Landes, mit mehr als 200.000 Menschen im Gefängnis. "Diese Zahlen zeigen, dass der Bundesstaat São Paulo nach wie vor ein Gebiet extremer Grausamkeit und Brutalität gegenüber Gefangenen ist. In den letzten Berichten, die von der Pastoral Carcerária veröffentlicht wurden, wurde dieser Bundesstaat ebenfalls an die Spitze der am meisten angeprangerten Staaten gesetzt", heißt es in einem Auszug aus dem Dokument.

Laut Carol Dutra, Mitglied des juristischen Sektors der Nationalen Gefangenenpastoral, kommen viele der Beschwerden durch Berichte von Familienangehörigen und Ordensleuten, die die Anstalten besuchen und Zeugen der verschiedenen Verstöße sind, denen die Gefangenen ausgesetzt sind. "Im Laufe dieser Jahre hat sich ein kollektives Bewusstsein dafür entwickelt, dass Folter nicht nur das ist, was im Gesetz beschrieben wird, sondern auch der Mangel an Wasser, Nahrung, Schlafplätzen und anderen Rechtsverletzungen", erklärte Carol Dutra den Journalisten von Alma Preta.

Die Gefängnispastoral führt in ihrem Bericht zudem aus, dass die geringe Zahl der in bestimmten Staaten eingeleiteten Verfahren nicht bedeutet, dass es verhältnismässig wenig Verstöße gebe oder dass die Rechte der in diesen Gebieten inhaftierten Personen gewahrt werden würden. "Im Gegenteil, die niedrige Zahl der Fälle kann das Ergebnis der punitiven Atmosphäre sein, die den Gefängnisbereich umgibt und die die Angst der Informanten, die zum Schweigen gezwungen werden, bedroht und nährt. Dieses Szenario der Angst und der Bestrafung behindert den soliden Aufbau von Kanälen für Whistleblowing vor Ort".

Dem veröffentlichten Bericht zufolge ist eine der offenkundigsten Erscheinungsformen der Gefängnisfolter der Mangel an Bereitschaft des Staates, die möglichen Urheber der Gewalt zu untersuchen oder zur Verantwortung zu ziehen. In dem Dokument wird berichtet, dass in 16 % der gemeldeten Fälle die zuständigen Stellen nicht auf die Beschwerden der Seelsorger:innen reagiert haben. In 80 % der Fälle, in denen eine Reaktion erfolgte, war die wichtigste von der zuständigen Stelle ergriffene Maßnahme die Einrichtung eines internen Verfahrens, das als erster Schritt betrachtet wurde. Nach Angaben der Seelsorger:innen der Gefängnispastoral aber zeige die Analyse der Fälle jedoch, dass die ergriffenen Maßnahmen unwirksam seien. "Der Staat hat eine Vorliebe dafür, auf die Verwaltung selbst zu hören und die Opfer zu ignorieren", so die Gefängnispastoral. Diese Entscheidung, dem Staat statt dem Opfer zuzuhören, offenbart dem Dokument zufolge die rassistische Struktur, die das brasilianische Strafrechtssystem aufrechterhält. "Die Opfer sind meist schwarz und werden inhaftiert, verurteilt oder angeklagt. Ihre Stimmen und ihr Schmerz werden vom Staat wahrscheinlich nicht gehört, so dass die Todesmaschinerie der Gefängnisse weiterläuft", so die Gefängnispastoral.

// Christian Russau