„Jede Form der Inhaftierung führt zu einer Entmenschlichung“

Interview mit Nana Oliveira und Isabela Corby von der Rechtsberatungsstelle Assessoria Popular Maria Felipa aus Belo Horizonte über die Gefängnissituation in Brasilien, über institutionellen und gesellschaftlichen Rassismus und darüber, wie die Anwältinnen bei Maria Filipa an der Basis sich für die Freilassung von Schwangeren und von Müttern mit Kindern unter zwölf Jahren aus der Untersuchungshaft einsetzen sowie in Gesellschaft und Staat für die Abschaffung des bestehenden Gefängnissystems in Brasilien kämpfen.
| von Interview: Christian Russau
„Jede Form der Inhaftierung führt zu einer Entmenschlichung“
Nana Oliveira [li.] und Isabela Corby [re.]. Foto: privat

In Brasilien sind derzeit rund 725.000 Menschen in Haft. Damit liegt das Land auf Platz 3, nach den USA mit 2,1 Millionen Menschen und China mit 1,6 Millionen Menschen, auf der Liste derjenigen Länder mit der zahlenmäßig größten Anzahl an Gefängnisinsassen. In den vergangenen Jahrzehnten stieg die Zahl in Brasilien kontinuierlich an. Was sehen Sie als Ursachen dafür?
Nana Oliveira: Die Inhaftierung von Menschen ist seit jeher auch ein großes Geschäft. Dazu müssen wir zurückblicken: Die Idee der Verhaftung von Menschen wurde zeitgleich mit der industriellen Revolution geboren, und die ersten Arten von kriminellem, also abweichendem Verhalten standen im Zusammenhang mit der mangelnden Anpassung an das neue Leben, das die industrielle Revolution in den Fabriken bei 14-Stunden-Schichten für die Arbeiterinnen und Arbeiter bedeutet. Daher müssen wir die Inhaftierung, die wir heute erleben, in dem größeren Kontext sehen, als Geschichte eines erzwungenen Versuches, die Körper und Köpfe der Arbeiter einzunormen. Hinzu kommt, dass es eine ganze Industrie um den Gefängnissektor herum gibt, die davon profitiert.
Um die Legitimität der Inhaftierung von Menschen aufrechtzuerhalten, wurde von Anfang an auch ein Narrativ konstruiert, nach dem diejenigen, die eine staatlich geächtete Tat vollbracht haben, bestraft werden mussten. Diese Erzählung, obwohl scheinbar einfach, war und ist sehr kraftvoll und zieht dabei viele Anhänger an, auch unter denen, die eigentlich nicht Teil dieses Gesellschaftsvertrags sind. Hinzu kommt, wir sehen in Brasilien, dass es eine Besonderheit gibt, nämlich dass die Idee und Durchführung der Inhaftsetzung von Menschen in Brasilien im Rahmen eines Projekts einer Nation entstanden ist, das als Zentrum die Auslöschung der schwarzen Bevölkerung hat. Es liegt in der Logik dieses Interesses, die Eliminierung von Menschen in Haft zu ermöglichen. Vergangene Ereignisse wie die Massaker im Carandiru-Gefängnis in São Paulo 1992 oder das jüngste Massaker dieses Jahr, das Ende Juli im Altamira-Gefängnis in Pará geschah, all diese kollektiven Massaker zeugen von dieser brutalen Logik. Die massive Inhaftierung schwarzer Jugendlicher, gepaart mit den alarmierenden Mordraten an Schwarzen, prägt das Bild des Genozids an den Schwarzen in Brasilien.

Die Haftanstalten in Brasilien sind zu 200 Prozent belegt. Auf 423.000 offizielle Plätze kommen 831.000 Gefangene – in anderen Worten: ein zutiefst inhumanes System. Was kann und sollte dagegen getan werden?
Isabela Corby: Zunächst einmal ist es erwähnenswert, dass wir für die Abschaffung der Haftstrafen eintreten, weil jede Form der Inhaftierung zu einer Entmenschlichung führt. Brasilien zeigt das zu Genüge. Es gibt kein gutes Gefängnis, das Gute ist das Zuhause der Menschen, wie es die Vorsitzende der Gruppe der Freunde und Familien der Freiheitsberaubten, Frau Maria Tereza dos Santos, wiederholt zum Ausdruck gebracht hat. Wir brauchen eine politische Entscheidung, die von der gesamten Nation getroffen werden muss, um Menschen eben nicht zu inhaftieren. Dazu brauchen wir gesellschaftliche Räume über eine Debatte über öffentliche Sicherheit und Gewaltprävention. Und wir brauchen dringend eine politische Entscheidung, die sich direkt auf das Projekt der Nation Brasiliens auswirkt. Wir müssen grundlegend darüber debattieren welches Projekt der Nation wir wollen, eines, das für alle und jeden passt, oder werden wir werden das, was wir heute durchleben, als ein Projekt nur für einige wenige beibehalten. In den Rechts- und Sozialwissenschaftlichen werden neue Instrumente und Grundlagen diskutiert und entwickelt, die auf eine Reduzierung und Ersetzung der Inhaftierung durch andere Formen der Konfliktlösung hinauslaufen, eine Konfliktlösung für das, was wirklich Konflikt ist. Wir müssen eine neue Behandlung für den Handel und den Gebrauch von Suchtstoffen schaffen, indem wir statt des Verbots einiger Stoffe einen kontrollierten Gebrauch und Gesundheitsversorgung im Falle eines problematischen oder missbräuchlichen Gebrauchs erreichen.
Es ist auch dringend notwendig, das gegenwärtige System der Untersuchungshaft zu ändern. Denn Menschen, die vorübergehend inhaftiert sind und auf ihre Verurteilung warten, stellen etwa 40 Prozent der brasilianischen Gefangenenpopulation dar, was fast 290.000 Menschen entspricht, was im übrigen der Schließung des Defizits von 356.000 Stellen sehr nahe kommen würde. Wenn dies zeitgleich ergänzt werden würde durch eine Aussetzung aller bis auf vier Jahre determinierten Haftstrafen – allein diese stehen für 23 Prozent der Gefängnisinsassen in Brasilien – , sowie durch alternative Strafformen wie kommunitäre Sozialdienste für die Gesellschaft, dann würde dies ein Ende der unmenschlichen Überbelegung der Gefängnisse bedeuten. Und dazu bräuchte es nicht einmal einer Gesetzesänderung, es müsste nur beispielsweise die Liste der als illegal eingestuften Drogen geändert werden. Dazu bedürfte es auch eines koordinierten und energischen Vorgehens.

Die Inhaftsetzung in Massen betrifft auch Frauen, mit in der Vergangenheit steigenden Zahlen. Wie reagiert ihr bei der Beratungsstelle Assessoria Popular Maria Felipa darauf?
Nana Oliveira: Unsere Rechtsberatungsstelle Assessoria Popular Maria Felipa hat seit 2017 das Projekt „Lasst meine Mutter frei“ entwickelt. Wir nutzen die Instrumente, die in der Struktur des brasilianischen Strafrechtssystems zur Verfügung stehen, um eine Reduzierung der Zahlen der weiblichen Gefangeneninsassen zu erreichen. Wir haben das Projekt mit der Arbeit an Fällen von bereits verurteilten Frauen in drei Strafvollzugsanstalten in der Metropolregion von Belo Horizonte begonnen und im Rahmen der beiden Begnadigungsdekrete, die am Tag der Mutter 2017 und 2018 mit Blick auf Frauen veröffentlicht wurden, Anträge auf Straffreiheit gestellt. Trotz der Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2018, die die Möglichkeit vorsieht, dass Schwangere oder Mütter von Kindern bis zu zwölf Jahren statt in Untersuchungshaft im Hausarrest verbleiben könnten, stellen wir noch immer fest, dass eine große Anzahl von Frauen, auf die diese Kriterien zutreffen, inhaftiert bleiben. Nach der ersten Phase unseres Projekts – der diesbezüglichen Datenerhebung – widmen wir uns in der zweiten Phase des Projekts der Umsetzung des Rechtsgrundsatzes in der Praxis. Wir widmen uns den schwangeren, ihrer Freiheit beraubten Frauen in der Haftanstalt Vespasiano im Bundesstaat Minas Gerais, mit dem Ziel, die vorgenannte Entscheidung des Obersten Gerichtshofs endlich wirksam zu machen und die gesetzlich eigentlich vorgesehenen Rechte endlich zu garantieren.
Hinzu kommt, dass es bei den gerichtlichen Untersuchungen oft zu Ungenauigkeiten kommt, dass die Justiz sich vor allem im Bereich von Drogendelikten nicht hinreichend Mühe gibt. Vor allem Frauen, die dieser Straftaten angeklagt sind, erhalten oft nicht genügend Rechtsbeistand. Dagegen leisten wir unsere Arbeit.

Wie wird denn die Konstruktion neuer rechtswissenschaftlicher Erkenntnisse in der Praxis umgesetzt? Was sind die Hindernisse?
Isabela Corby: Das Haupthindernis liegt unserer Ansicht nach wie vor in der Kultur der Inhaftierung als einer Struktur, die vermeintliche Sicherheit für die Gemeinschaft schaffen kann. Der Aufbau neuer Erkenntnisse über die Rechtsprechung hängt von der materiellen Möglichkeit ab, dass Anwältinnen ebenso wie Pflichtverteidigerinnen von der Idee der Abolition des Haftsystems überzeugt sein müssen. Wir müssen daran arbeiten, dass ein neues Verständnisses der Rechtsprechung sich durchsetzt, dass gleichzeitig Ressourcen und strategische Prozessführungen gegenüber dem Obersten Gerichtshof und dem Obersten Bundesgerichtshof sowie den Internationalen Systemen zur Verteidigung der Menschenrechte durchgeführt werden, damit wir dort hingelangen, dass es zu einer neuen, anderen Rechtspraxis kommt.

Wie könnte eine gesellschaftliche Debatte erreicht werden, um das Gefängnissystem in Brasilien zu verändern?

Nana Oliveira: Es handelt sich dabei um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, eine grundlegend strukturelle Debatte. Es ist nicht nur eine Sammlung von Erzählungen über Schmerz und Leid. Es ist notwendig zu verstehen, dass das Problem der Inhaftierung in Brasilien existiert, dass es ein Instrument des strukturellen Rassismus ist. Es ist unerlässlich für die politische Debatte, dass tatsächlich auf die Ursache fokussiert und nicht nur auf die Folgen reagiert wird. Die Ursache für die Inhaftierung ist nicht Armut oder soziale Ungleichheit, sondern Rassismus ist die Ursache von Armut, sozialer Ungleichheit und Inhaftierung. Die meist armen schwarzen Bevölkerungsgruppen unterliegen einer Superüberwachung, dieses bestehende System lässt jede geringfügige Abweichung sofort erkennen und löst somit das Räderwerk des Strafrechtssystems aus. Das bedeutet nicht, dass nur Schwarze verhaftet werden, auch nicht, dass Weiße nicht auch arm sind. Es bedeutet aber, dass der Rassismus als Produzent beispielhafter Gewalt die Schwarzen verfolgt und so gesellschaftliche Gewalt – wie das inhumane Gefängnissystem – vor allem gegen die Schwarzen letztlich hervorruft.

Vielen Dank für das Gespräch.

// Interview: Christian Russau


Nana Oliveira ist Rechtsanwältin für Kriminalrecht und arbeitet seit zehn Jahren in den Bereichen Menschenrechte, Öffentliche Sicherheit und im Kampf für die Durchsetzung der Rechte von Frauen. Im Rahmen ihrer Masterarbeit an der Bundesuniversität von Ouro Preto forscht sie zu Masseninhaftierungen und institutionellem Rassismus, bei Sorgerechtsverhandlungen. Nana Oliveira ist Vorsitzende der Rechtsberatungsstelle Assessoria Popular Maria Felipa und koordiniert dort das Projekt „Lasst meine Mutter frei“.
Isabela Corby ist Doktorantin der Rechtswissenschaften an der Bundesuniversität von Minas Gerais (UFMG) und forscht zur Geschichte brasilianischen Kolonialrechts. Sie ist Mitglied der Forschungsgruppe zu Afrikanischen und Postkolonialen Studien der UFMG und arbeitet als Dozentin für Rechtswissenschaften. Als Rechtsanwältin arbeitet sie für die Rechtsberatungsstelle Assessoria Popular Maria Felipa im Bereich Menschenrechte und Konflikte, fokussiert dabei auf institutionelle Rechtsbrüche und Gewaltsituationen, worunter auch das im Interview erwähnte Projekt „Lasst meine Mutter frei“ fällt, das vom brasilianischen Menschenrechtsfonds Fundo Brasil de Direitos Humanos gefördert wurde.