Offener Brief der Zivilgesellschaft zur Biodiversitätskonvention (CBD)

Über 60 zivilgesellschaftliche Organisationen haben der brasilianischen Regierung einen umfassenden Empfehlungskatalog mit Impulsen für die offizielle diplomatische Verhandlungslinie zur UN Biodiversitätskonvention überreicht.
| von Ulrike Bickel
Offener Brief der Zivilgesellschaft zur Biodiversitätskonvention (CBD)
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Text: Ulrike Bickel

Brasilia, 17. November 2016. VertreterInnen von über 60 zivilgesellschaftlichen Organisationen haben der brasilianischen Regierung bei einer Sitzung zur Vorbereitung der bevorstehenden Tagung der UN Biodiversitätskonvention (Convention on Biological Diversity, CBD) einen umfassenden Empfehlungskatalog mit Impulsen für die offizielle diplomatische Verhandlungslinie überreicht.

Vom 4.-17. Dezember 2016 tagt die 13. CBD-Vertragsstaatenkonferenz im mexikanischen Cancún. Im Vorfeld hatte die brasilianische Regierung zu einer Vorbesprechung ins Außenministerium geladen.

Der offene Brief prangert an, dass die mit demokratischer Mehrheit wiedergewählte Präsidentin Dilma Roussef Ende August durch Betrug vom Parlament aus dem Amt geputscht wurde. Er stellt in Frage, dass die Übergangsregierung unter Präsident Temer die nötige Legimitität besitze, um Brasiliens Interessen in der internationalen Gemeinschaft zu repräsentieren. Die Artikulationsmöglichkeiten der Zivilgesellschaft hätten sich durch die zunehmende Kriminalisierung sozialer Bewegungen stark verschlechtert, dazu zählten die polizeiliche Repression gegen studentische Proteste sowie die gewaltsame Razzia in der nationalen Schule der Landlosenbewegung MST ‘Florestan Fernandes’ Anfang November, bei der Anführer der sozialen Bewegungen willkürlich inhaftiert wurden.

Zudem werden die Rückschritte beim Erhalt der biologischen Vielfalt in Brasilien kritisiert, die durch Haushaltskürzungen und Schwächung öffentlicher Politiken z.B. im Bereich der Umweltverträglichkeitsprüfung verursacht werden. So missbilligt der Brief Versäumnisse der Regierung, die inkompatibel mit den von Brasilien eingegangenen internationalen Verpflichtungen sind, und zeigt dringenden Korrekturbedarf auf:

Die Verabschiedung des Gesetzes 13.123 über der Zugang zu Biodiversität und gerechten Vorteilsausgleich 2015 öffne Tür und Tor für kommerzielle Biopiraterie und die Patentierung traditionellen Wissens. Das Gesetz ignoriere die Rechte indigener Völker und lege keinerlei Verfahren für transparente Konsultationen und eine freie, vorherige und informierte Zustimmung traditioneller Völker bei der Nutzung der Biodiversität von ihren Territorien fest. Die Regierung müsse endlich das CBD-Protokoll von Nagoya (über den Zugang zu genetischen Ressourcen und gerechten Vorteilsausgleich aus ihrer Nutzung) ratifizieren und respektieren.

Kritisiert wird zudem, dass der Oberste Rechnungshof plane, das nationale Agrarreformprogramm unter dem Vorwand von Kostengründen abzuschaffen. Ohne sicheren Landzugang für Kleinbauernfamilien und Indigene gebe es keinen Schutz der Biodiversität.

Falsch sei auch die Verabschiedung des neuen Waldgesetzes ‘novo Código florestal (Lei 12.651)’ 2015, in dem die früher obligatorische Schutzzone (Reserva ambiental legal) durch Marktmechanismen handelbar werde. Internationale Ansätze wie die ‘Zahlung für Umweltdienstleistungen’, darunter der REDD+-Ansatz zum Kohlenstoffhandel unter der Klimarahmenkonvention (Reducing Emissions from Deforestation and Forest Degradation) drohten, dass lokalen Gemeinden ihre tradionellen Nutzungsrechte an ihren biologischen Ressourcen verlören. Instrumente wie das TEEB-Vorhaben (The Economies of Ecosystems and Biodiversity) zur monetären Valorisierung der biologischen Vielfalt, initiiert von der EU und den G7/G8, werden daher abgelehnt.

Skandalös sei das Fehlen vorgeschriebener Risikoanalysen für die Zulassung von Pestiziden und die kommerzielle Freisetzung genveränderter Organismen (GVO) in Brasilien. Die nationale Biosicherheitsbehörde CNTBio verstoße bei der Liberalisierung des kommerziellen Anbaus von inzwischen 58 GVOs und den damit im Verbund eingesetzten Pestizidpaketen eklatant gegen das Vorsorgeprinzip – so z.B. jüngst beim Import zweier genveränderter US-Maissorten - MON 87460 von Monsanto und Syngenta-Mais 3272, indem keinerlei Sicherheitsanalysen hinsichtlich der Auswirkungen auf Ökosysteme und keine vorherige freie informierte Zustimmung erfolgten.

Brasilien hält den fragwürdigen Welt’rekord’ im Konsum von Pestiziden – aktuell über 5 Liter pro Jahr und Person (insgesamt 1 Milliarde Liter) –; 29 der 50 meist gebrauchtesten Pestizide seien in anderen Ländern verboten. Aus dem exzessiven Einsatz resultierten Pestizidvergiftungen, erhöhtes Vorkommen von Krebs, Miss- und Fehlgeburten, Depressionen und Suizide, Kontaminierung und Verlust der biologischen Vielfalt und des natürlichen Gleichgewichts von Ökosystemen.

Die staatliche Forschung an neuen Gentechnologien wie gezielte Erbgutveränderung (“Genome-Editing”) sei unbedingt dem Cartagena-Protokoll über Biosicherheit zu unterwerfen und das internationale CBD-Moratorium gegenüber Terminator-Technologien anzuerkennen.

Der offene Brief bildet sehr umfassend die Positionen der Zivilgesellschaft im Bereich Agrarpolitik und Schutz der Biodiversität ab. Er ist HIER zu finden.

Der offene Brief ist Produkt eines weit reichenden Diskussionsprozesses unter sozialen Bewegungen, Kleinbauernverbänden, Umwelt- und Agrarökologie-Organisationen, die in der Biodiversitäts-Arbeitsgruppe der nationalen Agrarökologie-Netzwerkes (GT Bio) zusammen arbeiten und die Position der Zivilgesellschaft im Vorfeld der CBD-Konferenz abgestimmt haben. Er wurde bereits von über 60 NGOs unterzeichnet und steht weiteren interessierten Organisationen bis Ende November zur Unterzeichnung offen.

Die Biodiversitätskonvention CBD ist seit ihrer Verabschiedung beim UN-Gipfel für nachhaltige Entwicklung 1992 in Rio (UNCED) international das Haupt-Instrument zum Schutz der biologischen Vielfalt. Alle 2 Jahre versammeln sich rund 190 Länder der Welt bei der CBD-Vertragsstaatenkonferenz, um Strategien zum Schutz der biologischen Vielfalt auf globaler wie auf lokaler Ebene zu diskutieren. Parallel hierzu finden Sitzungen über abgeleitete juristische Dokumente statt, wie das Cartagena-Protokoll über Biosicherheit, das die Handhabung gentechnisch veränderter Organismen behandelt, sowie das Nagoya-Protokoll, mit dem ein völkerrechtlicher Rahmen für den Zugang zu genetischen Ressourcen und gerechten Vorteilsausgleich geschaffen wurde.