Oberster Gerichtshof STF urteilt in weiterem Fall gegen Stichtagsregelung Marco Temporal

Oberster Richter:innen sprachen sich mehrheitlich gegen das im Bundesstaat Bahia seit 2013 geltende Gesetz zur verpflichtenden Anspruchsmeldung traditioneller Gemeinschaften der Fundo e Fecho de Pasto auf ihr traditionell genutztes Land zum Stichtag 31. Dezember 2018 aus.
| von Christian.russau@fdcl.org
Oberster Gerichtshof STF urteilt in weiterem Fall gegen Stichtagsregelung Marco Temporal
Ausschnitt aus "KoBra: Brasilicum" 238-239, 2015)

Während in Bezug auf die juristisch und legislativ noch offene, aber übereinstimmend auf jeden Fall als von äußerst einschneidender und von daher von eminenter Bedeutsamkeit für Landrechte traditioneller Völker und Gemeinschaften in Brasilien angesehene Frage der sogenannten Stichtagsregelung "Marco Temporal" in Brasília sowohl im Obersten Gerichtshof STF als auch im Nationalkongress (siehe ausführlichen Hintergrundbericht beim FDCL „Unsere Geschichte begann nicht erst 1988!“ Indigener Widerstand in Brasilien gegen Kodifizierung des Landraubs durch Stichtagsregelung „Marco Temporal“) noch anhält, gibt es einen weiteren nicht minder bedeutsamen Fall vor dem Obersten Gerichtshof STF in Brasília, der die Frage des "Marco Temporal" zum Gegenstand hat und der nun aber schon entschieden wurde: und zwar als Sieg für die traditionellen Gemeinschaften der Fundo e Fecho de Pasto auf ihr traditionell genutztes Land in Bahia.

Brasiliens Oberster Gerichtshof STF tagte am vergangenen Mittwoch, dem 6. September, im Fall der von der Generalbundesstaatsanwaltschaft PGR eingereichten Verfassungsbeschwerde Ação Direta de Inconstitucionalidade (ADI) 5783. Dabei geht es um das Landesgesetz 12.910/2013 des Bundesstaates Bahia, welches im Jahre 2013 vom Bundesstaat Bahia verabschiedet wurde und das den traditionellen Gemeinschaften des Fundo e Fecho de Pasto (traditionelle Gruppen, die von der kleinbäuerlichen gemeinschaftlichen Weidehaltung in ländlichen Gebieten des bahianischen Hinterlandes leben, wobei es sich meist um kleine Gebiete, in denen gerodete Weiden allmählich in nichtgerodetes Land übergehen) eine Frist für die Einreichung von Anträgen auf Legalisierung ihrer Gebiete setzte. Diese Frist sollte laut dem Gesetz mit Stichtag 31. Dezember 2018 ablaufen. In seiner Beschwerde argumentierte der PGR, dass es verfassungswidrig sei, den Gemeinden Fundo e Fecho de Pasto eine Frist für die Beantragung von Bescheinigungen über die Selbstanerkennung und die Legalisierung von Grundstücken zu setzen, und forderte daher die Aufhebung dieser Fristtagsregelung in Bahia und forderte den STF auf, dieses Gesetz für ungültig, da verfassungswidrig zu erklären. Laut den Anwält:innen der betroffenen traditionellen Gemeinschaften gibt es im Bundesstaat Bahia rund 1.500 Fundo-e-Fecho-de-Pasto-Gemeinschaften, von denen allerdings nur 130 bereits über ihre Landtitel verfügen und weitere 192 sich noch im Zertifizierungsprozess befänden.

In der Verfassungsklage ADI 5783 argumentierte die Generalstaatsanwaltschaft PGR, dass die in Artikel 3 Absatz 2 des Staatsgesetzes 12.910/2013 vorgesehene Frist für die Einreichung des Antrags auf Landregularisierung mit Stichtag 31. Dezember 2018 das Recht auf Identifizierung und Schutz dieser traditionellen Gemeinschaften beeinträchtige, die eine echte angestammte Beziehung zu den von ihnen bewohnten Gebieten haben.

Dieser Ansicht folgte die der Verfassungsklage vorsitzende Richterin Rosa Weber, die auch Berichterstatterin des Falles ist. Sie erklärte, dass die Landesvorschrift nicht mit dem territorialen Schutz vereinbar sei, der den traditionellen Gemeinschaften zustehe. Nach Ansicht Rosa Webers seien die kollektiven Ländereien nicht einfach nur Eigentumstitel, sondern Teil der Existenz dieser Gemeinschaften und von daher als ein notwendiges Element für ihre physische und kulturelle Reproduktion anzusehen. Die Verweigerung der Garantie für traditionell besetzte Ländereien würde daher bedeuten, die Identität dieser Gemeinschaften selbst zu leugnen. Rosa Weber erklärte ferner, dass die durch das Gesetz eingeführten Beschränkungen unangemessen, unnötig und unverhältnismäßig seien, da sie nicht zur Beendigung von Landkonflikten und zur sozialen Stabilisierung beitrügen. Im Gegenteil, die fehlende Regulierung führe zu noch mehr Konflikten und böte mehr Raum für Landraub und Immobilienspekulation. Rosa Weber fügte hinzu, dass die angestrebte Stabilisierung von Landkonflikten durch weniger restriktive und wirksamere Mittel gefördert werden kann. Die Richter:innen Cármen Lúcia, Cristiano Zanin, Alexandre de Moraes, Edson Fachin, Luís Roberto Barroso und Luiz Fux schlossen sich dieser Urteilsbegründung an. Der Richter Nunes Marques wich von der Mehrheitsmeinung ab. Seiner Meinung nach sei die Frist des Gesetzes (31.12.2018) zwar verfassungsgemäß gewesen, aber angesichts des Ausbruchs der Covid-19-Pandemie nicht einzuhalten gewesen. Er schlug daher vor, den Beginn der Fünfjahresfrist auf das Datum der Veröffentlichung des Protokolls des ADI-Urteils zu verschieben. Dieser Ansicht folgten die anderen Obersten Richter:innen nicht. Die traditionellen Gemeinschaften der Fundo e Fecho de Pasto haben einen Sieg erstritten - und die Stichtagsregelung "Marco Temporal" musste in diesem Fall eine klare Niederlage einstecken.

// Christian Russau