Leben mit dem Semi-Árido: 20.000 protestieren in Petrolina, Pernambuco, und Juazeiro, Bahia, für die Beibehaltung aller Rechte

In den Städten Petrolina in Pernambuco und Juazeiro in Bahia haben am 17. November 20.000 Menschen an der Protestkundgebung “Semiárido Vivo, nenhum direito a menos!” (in etwa "Lebendige semi-aride Region, kein einziges Recht weniger!") teilgenommen.
| von Christian Russau
Leben mit dem Semi-Árido: 20.000 protestieren in Petrolina, Pernambuco, und Juazeiro, Bahia, für die Beibehaltung aller Rechte
Foto: http://www.irpaa.org

“Wir aus der semi-ariden Region sind die Erben der Kämpferinnen und Kämpfer des Volkes. Die Quittung für die Krise zahlen nicht wir, sondern das Agrobusiness soll dafür bezahlen. Wir sind hier, um der Gesellschaft und der Regierung zu sagen, dass wir auf kein einziges Recht verzichten", so Yure Paiva, Koordinator des Netzwerks Articulação Semiárido Brasileiro (ASA) für den Bundesstaat Rio Grande do Norte. Hintergrund ist, dass angesichts sinkender Staatseinahmen und steigender Haushaltseinsparungen mehr und mehr Sozialprogramme Kürzungsgefahren ausgesetzt sind. Dazu zählen, so befürchten die über 1.000 im ASA-Netzwerk zusammengeschlossenen Basisgruppen, staatliche Programme wie das Familienstipendiumprogramm Bolsa Família, staatlich garantierte und geförderte Erleichterungen beim Zugang zu Kleinkrediten ebenso wie die Frage des Erhalts des landesweiten Programms zum Lebensmittelaufkauf aus der Produktion kleinbäuerlicher Produzenten durch den Staat, das Programa Nacional de Aquisição de Alimentos (PAA). Und es geht auch um das nationale Schulspeisungsprogramm Programa Nacional de Alimentação Escolar (Pnae), sowie um das Ernteversicherungsprogramm Seguro Safra und auch die Kleinfinanzhilfe für Kleinbäuerinnen und -bauern bei witterungsbedingten Dürreperioden, Bolsa Estiagem. Dazu hatte ASA am 4.11.2015 einen Offenen Brief mit ihrem Protest und ihren Forderungen veröffentlicht.

Brasilien leidet noch immer unter der Dürre. Waren im vergangenen Jahr im Südosten Brasiliens rund 77 Millionen Menschen von der schlimmsten Dürre seit 80 Jahren betroffen und im Nordosten die Quelladern des Rio São Francisco, Lebensader des brasilianischen Nordostens, von den Anwohner/innen liebevoll velho chico genannt, im September 2014 zum ersten Mal seit Menschengedenken zwischenzeitlich ausgetrocknet waren, so trifft es derzeit den bereits ohnehin trockeneren Nordosten noch härter. Jetzt im September 2015 traf es weitere Zuflüsse des Rio São Francisco, den Rio Jequitaí, Guavinipã, São Domingos, Juramento und den Córrego do Onça und nun im November erreichte der vom Rio São Francisco gespeiste (historisch bereits umstrittene) Stausee Sobradinho im Bundesstaat Bahia seinen historischen Tiefststand: unter 3% des Fassungsvermögens von 34 Milliarden Kubikmetern bei Vollstauhöhe. Im Bundesstaat Rio Grande do Norte tauchten im Stausee Armando Ribeiro Gonçalves unlängst die Rest der Kirche des vor über 30 Jahres für den Stausee gefluteten Ortes São Rafael zum ersten Mal sichtbar über der verbliebenen Wasseroberfläche auf – in den Medien als Atlantis des Sertão bezeichnet.

Auch wenn die momentane Dürre im Nordosten schärfer ausfällt als vorherige, so haben die Menschen vor Ort und die Zivilgesellschaft seit Jahren Strategien entwickelt. Denn um sich von der landläufigen Ansicht eines „trockenen“ Nordosten Brasiliens abzugrenzen, nach welcher die Dürre bekämpft werden müsse, haben Basisgruppen über Jahre das Konzept der „Convivência com o semi-árido“, also das Konzept für das „Leben im Einklang mit dem halbtrockenen Klima“ entwickelt. Die Gruppen haben vor Jahren das Netzwerk „Artikulation des Semi-Árido“ (ASA) gegründet, in dem über 1.000 zivilgesellschaftlichen Gruppen vereinigt sind und das das Convivência-Konzept in die Praxis umsetzt. Zusammen haben sie bislang über 400.000 Zisternen gemauert und dabei auf gemeinschaftliche Nachbarschaftshilfe gesetzt. Die gemeinschaftliche Selbsthilfe durch den Zisternenbau ist deshalb eine Lösung für viele verschiedenen Probleme: Familien auf einsamen Grundstücken oder in abgelegenen Dörfern können ihre Wasserversorgung mit einer einzigen Zisterne, die das Regenwasser der wenigen Regenmonate im Jahr auffängt, ein ganzes Jahr lang sichern. Und der gemeinschaftliche Bau der Zisternen stärkt die Nachbarschaftshilfe und sichert das Einkommen der örtlichen Maurer/innen. Familien mit Zisternen werden unabhängig von örtlichen Politiker/innen und Landbesitzer/innen und müssen ihre Stimmen nicht länger für die lebensnotwendige Wasserversorgung verkaufen. Der Bau der Zisternen ist billig, sie können problemlos von den Familien selbst gewartet werden. Mit dem Bau von bereits 400.000 Zisternen ist das von Bundesmitteln unterstützte Programm eine der ganz großen Erfolgstorys der brasilianischen Zivilgesellschaft.

"Als wir noch keine gemauerte Zisterne hatten, da litten wir schlimm unter den Wassereimern, die wir auf dem Kopf trugen", sagte bereits im Vorfeld der gestrigen Demonstration die Kleinbäuerin Juvani de Almeida, die im ASA-Netzwerk aktiv ist. "Aber als die Zisternen kamen, da hatten wir qualitativ einwandfreies Wasser und niemand hörte mehr etwas von der Cholera. Mein Traum ist es, dass hier weiter Zisternen für diejenigen kommen, die noch keine haben."

Dabei ist den im ASA-Netzwerk zusammengeschlossenen Gruppen wichtig, das ihr Convivência-Konzept durch weitere Programme ergänzt wird. Eben durch (die nun auf der Demonstration geforderte Beibehaltung der Rechte von) Bolsa Família, das PAA, Pnae, Seguro Safra und die Bolsa Estiagem. Dafür haben gestern die 20.000 Menschen in Petrolina im Bundesstaat Pernambuco und Juazeiro im Bundesstaat Bahia für die „lebendige semi-ardie-Region“ protestiert und gefordert: „Kein einziges Recht weniger!“ („Semiárido Vivo: Nenhum direito a menos”). Denn nur diese staatlichen Programme, zusammen mit den von der Zivilgesellschaften entwickelten Maßnahmen wie Zisternenbau, können den Menschen helfen, Krisen wie die gegenwärtige Trockenpediode in Brasiliens Nordosten zu bewältigen – im Leben mit der Dürre.