Aide-Mémoire aus Anlass des Gespräches mit Außenministerin Annalena Baerbock am 29.8.2022

Am 29.8. findet ein Gespräch des Forums Menschenrechte mit der Außenministerin Annalena Baerbock und der Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung Luise Amtsberg statt. Brot für die Welt, die Gesellschaft für bedrohte Völker, Misereor, Terre des Hommes Deutschland (in Zusammenarbeit mit Deutscher Caritasverband e.V., Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile Lateinamerika FDCL, Kooperation Brasilien KoBra e.V.) haben aus diesem Anlass ein Aide-Mémoire eingereicht, das die aktuelle Menschenrechtsproblematik in Brasilien und Empfehlungen für die deutsche Politik zusammenfasst.
| von Uta Grunert
Aide-Mémoire aus Anlass des Gespräches mit Außenministerin Annalena Baerbock am 29.8.2022
Rio de Janeiro, Gerechtigkeit für die ermordeten Dom und Bruno; Foto: Uta Grunert

Beschreibung der Menschenrechtsproblematik:


Die Situation von Menschenrechtsverteidiger:innen (MRV) in Brasilien hat sich unter der Regierung Bolsonaro eindeutig verschärft. Laut Bericht des Brasilianischen Komitees für MRV (CBDDH) kam es 2021 zu einer Erhöhung der Anträge auf Unterstützung durch das Komitee. Insgesamt wurden 21 Nothilfemaßnahmen eingeleitet.
Diese Entwicklung kontrastiert jedoch mit der sehr niedrigen Ausschöpfung des Budgets des Nationalen Programms zum Schutz von MRV, Medienschaffende und Umweltschützer:innen (PPDDH) in den Jahren 2020 und 2021. 2020 wurden lediglich 10 % des vorgesehenen Betrags ausgeschöpft und es kam zu Verzögerungen bei Überweisungen der nationalen auf die bundesstaatliche Ebene sowie zu Kürzungen des technischen Personals.
Der weltweit für Empörung sorgende Fall der Ermordung des britischen Journalisten Dom Philipps ist ebenso
kein Einzelfall wie der des ehemaligen Mitarbeiters der staatlichen Stiftung für indigene Angelegenheit FUNAI,
Bruno Pereira im Juli 2022. MRV von Umweltrechten und Territorien von indigenen und afrobrasilianischen Gemeinschaften stehen stark im Fokus von Diffamierungskampagnen, Drohungen, Kriminalisierung, physischen
Angriffen und Morden.

Besonders unter Druck stehen Organisationen, die sich mit den negativen Auswirkungen des Bergbaus und den Folgen von Bergbaukatastrophen (Bruch der Rückhaltebecken in Mariana 2015 und Brumadinho 2019) beschäftigen und sich für die Entschädigung der Opfer einsetzen.
Die brasilianische Vereinigung für Investigativjournalismus ABRAJI hat zwischen Januar und April 2022 über 150 Fälle von physischen und verbalen Aggressionen sowie andere Versuche, journalistische Arbeit zu behindern, verzeichnet. Das ist eine Steigerung von 27 % gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Von den 450 Angriffen, die sich 2021 gegen Medien und Medienschaffenden ereigneten, gingen 69 % von Behörden aus. Die Wahlkämpfe 2018 und 2020 waren von körperlichen Angriffen, Belästigungskampagnen und rechtlicher Zensur gekennzeichnet.
Ein solches Szenario ist auch im Vorfeld der am 2. Oktober anstehenden Wahlen zu befürchten. Besorgnis über die staatlichen Garantien für einen freien Wahlprozess äußerte auch der UN Sonderberichterstatter für Versammlungsfreiheit. Während seines Länderbesuchs im April 2022 stellte er fest, dass die zunehmenden Angriffe auf Führungskräfte der afrobrasilianischen und der LGBTI+-Communities die demokratischen Grundprinzipien in Frage stellen.
Die Übergriffe gegen MRV gehen in vielen Fällen von nicht-staatlichen bewaffneten Akteuren aus, die häufig mit staatlichen Sicherheitskräften zusammenarbeiten oder von diesen geduldet werden. Zivilgesellschaftliche Organisationen berichten zudem von der Präsenz von Banden der organisierten Kriminalität (OK) und des Drogenhandels in ländlichen Gemeinden und marginalen Stadtvierteln, die immer stärker versuchen, soziale und territoriale Kontrolle mit Hilfe von Gewalt auszuüben. Teilweise rekrutiert sich die OK aus ehemaligen und aktiven Beamten des Sicherheitsapparats.
Besonders besorgniserregend ist die nahezu vollständige Straflosigkeit der Übergriffe gegen MRV. Auch wenn in Einzelfällen die materiellen Täter:innen ermittelt werden, bleiben die Befehlsstrukturen hinter den Morden und Übergriffen in der Regel im Dunkeln. Im Umfeld von Landkonflikten im Bundesstaat Maranhão hat es zwischen 1988 und 2022 mindestens 146 Morde gegeben. Ermittelt wurde lediglich in sechs Fällen, ein Urteil gibt es bisher in keinem einzigen. Die Verhandlung des Massakers an 185 Mitgliedern der Landlosenbewegung aus dem Jahr 2000 vor dem Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof verweist auf die historische Dimension der Problematik.

Unter der Regierung Bolsonaro haben die Rechtsverletzungen von indigenen Völkern und Quilombola-Gemeinschaften in Brasilien ein besorgniserregendes, existenzbedrohendes Niveau erreicht, die in einem engen Zusammenhang mit der exorbitanten Umweltzerstörung (besonders im Amazonasgebiet) stehen. Zentrale Behörden, welche für den Schutz der Rechte der indigenen Völker und Quilombola-Gemeinschaften sowie der Umwelt verantwortlich sind (FUNAI, Fundação Palmares, IBAMA etc.), wurden geschwächt und deren Schlüsselpositionen mit Militärs bzw. Personen besetzt, die sich offen gegen den Schutz der genannten Bevölkerungsgruppen bzw. der Umwelt aussprechen. Gleichzeitig wurde und wird mittels einer Reihe von Gesetzesvorhaben (u. a. PL 191/2020, PL 490/2007) versucht, die Rechte der Gemeinschaften und Völker einzuschränken und destruktive wirtschaftliche Aktivitäten (Bergbau, Agroindustrie etc.) in Schutzgebieten zu befördern.
Komplementär dazu wird eine zielgerichtete Kommunikationsstrategie (Fokus auf sozialen Medien) umgesetzt, die Rechtsverletzungen und Gewalt gegen indigene Völker und Quilombola-Gemeinschaften befördert.
Neben all den genannten Aspekten wurde der Zugang zu Informationen von staatlichen Behörden eingeschränkt, was die Erfassung von Rechtsverletzungen erschwert. Trotzdem sind die dramatischen Auswirkungen dieser Entwicklungen klar zu erkennen. Unter anderem stieg die Anzahl ermordeter indigener Führungspersönlichkeiten in den letzten Jahren exponentiell an (z. B. von 2019 auf 2020 um 62 %) und auch die illegale Abholzung des Regenwalds erreicht jährlich neue Höchststände. Multinationale – auch deutsche Unternehmen – sind oftmals direkt oder indirekt an den Rechtsverletzungen und der Umweltzerstörung beteiligt. Selbst Bundesstaatliche Regierungen, die sich von der nationalen Regierung abgrenzen und ein nachhaltiges Entwicklungsmodell propagieren (u. a. im Norden und Nordosten), ordnen die Rechte indigener Völker und von Quilombola-Gemeinschaften wirtschaftlichen Interessen unter. Es werden weiterhin destruktive wirtschaftliche Praktiken gefördert und auch Großprojekte zur Erzeugung von erneuerbaren Energien führen in vielen
Fällen zu Rechtsverletzungen der Völker und Gemeinschaften.
Die nationale Indigenenorganisation APIB hat 2021 eine Anzeige beim Internationalen Strafgerichtshof gegen die Regierung Bolsonaro wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und multiplem Genozid auf der Grundlage einer „ausdrücklich, systematisch und intendiert gegen die Indigenen gerichteten staatlichen Politik“ gestellt.
In diesem Zusammenhang wurde auch die starke Zunahme an Kriminalisierung ihrer Führungskräfte durch unberechtigte Anzeigen und Inhaftierungen dokumentiert. Hinter den Anzeigen stehen oft Unternehmen, die ihre Interessen auf diesem Weg durchsetzen wollen.

In Brasilien wurden im Jahr 2020 50.000 Menschen gewaltsam getötet, 6.416 davon (13 %) durch Polizei, Militär oder andere staatliche Sicherheitskräfte - absolut als auch prozentual einer der höchsten Werte weltweit.
In Teilen Brasiliens herrscht seit vielen Jahren Krieg, einer von 40 Kriegen weltweit nach dem Heidelberger Konfliktbarometer (Kategorie „limited war“), die Zivilbevölkerung steht bei den Gefechten zwischen kriminellen Banden und Polizei zwischen den Fronten.
Die Polizei geht brutal mit Kriegswaffen in dicht besiedelten Vierteln vor, dabei werden regelmäßig deutsche Kleinwaffen und Munition eingesetzt, ebenso Hubschrauber des deutsch-französischen Herstellers Airbus und andere deutsche Rüstungsgüter. Es kommt immer wieder zu Massakern. Der neue Höchstwert für Polizeigewalt von 2020 liegt fast dreimal höher als der Wert von 2013. 99 % der Opfer von Polizeigewalt sind männlich, 79 % sind Schwarze, 25 % (1.540) sind Kinder und Jugendliche bis 19 Jahre – d. h. die Polizei in Brasilien tötet täglich im Schnitt 4 Kinder und Jugendliche.
Die Polizei geht gegen Kinder und Jugendliche oft brutaler vor als gegen Erwachsene. Im Bundesstaat São Paulo z.B. werden Kinder und Jugendliche bei Festnahmen durch die Polizei fast doppelt so oft getötet wie Erwachsene: 6,1 bei 1.000 Festnahmen im Vergleich zu 3,4 Erwachsenen. Misshandlungen, Gewalt und willkürliche Verhaftungen von Kindern und Jugendlichen sind an der Tagesordnung. Die Polizeigewalt wird durch Politiker wie Staatspräsident Jair Bolsonaro oder São Paulos Gouverneur João Dória rhetorisch angeheizt und mit Dekreten und gesetzlichen Regelungen gefördert, die die hohe Straflosigkeit bei Polizeigewalt weiter begünstigen.
Zudem wurde durch die Regierung Bolsonaro sowohl der Waffenimport als auch der Erwerb von Waffen für Zivilist:innen stark erleichtert. Viele der Waffen von Polizei und Militär stammen von deutschen Herstellern, v. a. von Heckler & Koch und SIG Sauer. Laut SIPRI hat Deutschland zwischen 2008 und 2018 Rüstungsgüter im Wert von 544 Millionen US-Dollar nach Brasilien exportiert, darunter viele Kleinwaffen und Munition, und war damit der größte Rüstungsexporteur nach Brasilien. In den letzten 3,5 Jahren (2019 – Juli 2022) hat die deutsche Regierung Rüstungsexporte nach Brasilien im Wert 425 Mio. Euro genehmigt, alleine im 1. Halbjahr 2022 im Wert von 85 Mio. Euro.
Der Mord an der Stadträtin Marielle Franco aus Rio de Janeiro im Jahr 2018, einer Kritikerin von Polizeigewalt, wurde nach Ermittlungen der Staatsanwaltschaft mit einer MP5-Maschinenpistole von Heckler & Koch verübt.
Die Studie „Polizeigewalt gegen Kinder und Jugendliche in Brasilien und Waffenhandel“ (2021) belegt, dass
deutsche und europäische Waffen bei vielen weiteren Gewalttaten eingesetzt wurden.


Konkrete Anfragen bzw. Empfehlungen: Wir bitten die Bundesregierung


• Neuverhandlungen zum EU-Mercosur-Abkommen anzustrengen und auf die Stärkung der bisher mangelhaften Bestimmungen zu Menschenrechten und Nachhaltigkeit hinzuwirken, anstelle der Durchsetzung einer Zusatzvereinbarung. In seiner jetzigen Form schafft das geplante Abkommen Anreize für Entwaldung, Ausbreitung des Agrobusiness und Vertreibung von kleinbäuerlichen Familien und indigenen und traditionellen Gemeinden.


• In bilateralen Verhandlungen mit der brasilianischen Regierung einzubringen, dass die aus dem Ukraine-Krieg resultierende Krise der Energieversorgung nicht als Vorwand genutzt werden sollte, um die Expansion von Bergbauaktivitäten zu unterstützen. Besonders besorgniserregend sind in diesem Kontext der von Bolsonaro eingebrachte Eilantrag, den Gesetzesentwurf PL 191/2020 als besonders dringlich einzustufen sowie der ins Leben gerufene „Nationale Düngemittelplan“, der die Abhängigkeit Brasiliens von diesen Betriebsmitteln verringern und die heimische Produktion von Düngemitteln fördern soll. Dies ist v. a. vor dem Hintergrund der offensiven Einflussnahme von Bergbauunternehmen zwecks Erhalt von Genehmigungen für die Betreibung von Minen u. a. in Amazonien, von besonderer Relevanz.


• Sich dafür einzusetzen, dass Brasilien eine angemessene Konsultation und eine freie, vorherige und informierte Zustimmung der indigenen Völker und traditionellen Gemeinschaften und ihre Beteiligung an allen sie betreffenden legislativen/administrativen Maßnahmen sicherstellt. Auch sollen der Schutz der Bevölkerungsgruppen insbesondere ihrer Land- und Umweltrechte und die Wiederaufnahme von Demarkierungsprozessen gewährleistet und die Funktionsfähigkeit dafür wichtiger Behörden gefördert werden.


• Einen sofortigen Stopp aller Exporte von Rüstungsgütern nach Brasilien umzusetzen, eine Überprüfung des Endverbleibs der bereits gelieferten Rüstungsgüter vorzunehmen, insbesondere von Kleinwaffen und Munition, sowie sich konsequent für Rechtstaatlichkeit und Ende der hohen Straflosigkeit in Brasilien einzusetzen, v. a. bei Strafverfolgung staatlicher Akteure (Polizei, Militär).


• Einen gesetzlich verankerten Stopp von Rüstungsexporten in Länder mit bewaffneten Konflikten und schweren Menschenrechtsverletzungen (wie Brasilien) einzuführen.


• Das im vergangenen Jahr im deutschen Bundestag beschlossenen Lieferkettengesetz nachzubessern und sich für ein solches Gesetz auf EU- und UN-Ebenen einzusetzen.