Zivilgesellschaft will mehr soziale Umweltgerechtigkeit und Teilhabe für Infrastrukturprojekte in Brasilien

Mehr als 100 Organisationen fordern in einem Offenen Brief an die neue brasilianische Bundesregierung mehr Sensibilität, neue Wege, vorsichtigere Planung, bessere Risikoabschätzung und zivilgesellschaftliche Teilhabe bei anstehenden Infrastrukturprojekten in Brasilien.
| von Christian.russau@fdcl.org
Zivilgesellschaft will mehr soziale Umweltgerechtigkeit und Teilhabe für Infrastrukturprojekte in Brasilien
Der Staudamm Belo Monte am Xingu-Fluss in Pará. Krasses Beispiel, wie Infrastrukturvorhaben in den politischen Zentralen des Landes über die Köpfe der lokal Betroffenen vor Ort hinweg entschieden wurde. Foto: Christian Russau [2016]

Die Erfahrungen der brasilianischen Zivilgesellschaft und Betroffenengruppen mit Großprojekten der Infrastruktur in Brasilien wie Staudämmen zur Wasserkraftgewinnung, Bergbau, Überlandstraßen und Eisenbahnlinien durch geschützte Gebiete mit oft traditioneller Bevölkerung, Fabriken und Ausweitung der agroindustriellen Landwirtschaft waren in den letzten Jahrzehnten keine Guten. Nun mit den Antritt der neuen Bundesregierung in Brasília, Lula 3, hat sich deshalb die Arbeitsgruppe Infrastruktur und sozial-ökologische Gerechtigkeit (GT Infra) mit einem Offenen Bief an die neue brasilianische Bundesregierung zu Wort gemeldet, in dem sie mit Nachdruck mehr Sensibilität, neue Wege, vorsichtigere Planung, bessere Risikoabschätzung und zivilgesellschaftliche Teilhabe bei anstehenden Infrastrukturprojekten in Brasilien fordern. GT Infra ist ein Netzwerk brasilianischer zivilgesellschaftlicher Organisationen, das sich seit 2012 für sozial-ökologische Nachhaltigkeit bei Infrastrukturmaßnahmen, -programmen und -projekten einsetzt, insbesondere im Verkehrs- und Energiesektor, mit Schwerpunkt auf dem Amazonasgebiet. Die Erklärung in voller Länge von Mitte März dieses Jahres kann hier nachgelesen werden.

"In Anbetracht der von Präsident Lula und seinen Ministern gemachten Zusagen, Umweltfragen als Querschnittsaufgabe in die Regierungspolitik aufzunehmen, auch mit Blick auf eine Null-Abholzung im Amazonasgebiet und andere Maßnahmen zur Bewältigung des Klimawandels, stellen wir im Folgenden eine Reihe von Empfehlungen für strategische Maßnahmen vor, um effektiv in diese Richtung zu gehen. Wir betonen, dass dieser Offene Brief eine Aktualisierung der Korrespondenz darstellt, die wir am 25.11.22 an Ihre Exzellenzen und das Übergangsteam Ihrer Regierung geschickt haben und die von etwa 100 Mitgliedern und Verbündeten der AG Infrastruktur unterzeichnet wurde. Wir müssen die alte, immer noch vorherrschende Vorstellung überwinden, dass Infrastruktur gleichbedeutend ist mit großen, sehr teuren und gut sichtbaren Ingenieursarbeiten, die von der Regierung und großen Unternehmen definiert und ausgeführt werden, ohne die Notwendigkeit von Transparenz und aktiver Beteiligung der Gesellschaft", heißt es zu Beginn des Offenen Briefes.

Die unterzeichnenden des Offenen Briefes haben bei der Erstellung desselben mit lokalen Gemeinschaften, insbesondere im Amazonasgebiet, zusammengearbeitet, um Antworten auf die Frage zu finden: "Welche Infrastruktur brauchen wir, um unsere Lebensqualität zu verbessern und unsere Umwelt zu erhalten?" Die mehr als 100 unterzeichnenden Organisationen sind der Meinung, dass "eine neue Konzeption der Infrastruktur unerlässlich ist, um die Politik der neuen Regierung zur Einbeziehung von Umweltthemen in die Praxis umzusetzen", heißt es in dem Brief. Dazu bräuchte es unter anderem eine neue Vision der Infrastruktur für eine nachhaltige Entwicklung - die Autor:innen des Schreibens betonen dabei, dass es notwendig sei, die Vorstellung zu überwinden, dass Infrastruktur gleichbedeutend mit Großprojekten ohne aktive Beteiligung der Gesellschaft sei. Im gegenteil: Teilhabe sei unerlässliche Vorbedingung für Infrastrukturvorhaben jedweder Größe. Die Gruppen fordrn zudem die Stärkung der strategischen Planung sektoraler Politiken und Programme - das Schreiben schlägt dazu die Einrichtung einer interministeriellen Arbeitsgruppe vor, an der die Ministerien für Umwelt und Klimawandel, Planung, Verkehr, Bergbau und Energie, indigene Völker und Menschenrechte ressortübergeeifend beteiligt sind. Auch die Einbeziehung von Organisationen der Zivilgesellschaft wird vorgeschlagen. Mit dieser Empfehlung solle ein "robustes System von Kriterien, Indikatoren und Instrumenten für die Bewertung von Chancen, sozio-ökologischen Risiken und Alternativen bei der strategischen Planung von Infrastrukturarbeiten in der Vorprojektphase" entwickelt werden, so der Brief. Das Schreiben geht auch auf die Verbesserung der Projektmanagement-Instrumente und -Prozesse ein: Die Arbeitsgruppe Ifrastruktur GT Infra betont, dass die vorherige Analyse der Risiken und der sozio-ökologischen Auswirkungen durch technische, wirtschaftliche und ökologische Durchführbarkeitsstudien ebenso wie die Umweltverträglichkeitsstudien dringend verbessert werden müssten. Außerdem müssten diese Studien auf Transparenz und sozialer Beteiligung bei der Festlegung der Aufgabenstellung und anderen Phasen der Studien beruhen. Konkret werden Räume für Bürgerbeteiligung gefordert. Die Autor:innen raten zur Ausweitung und Stärkung der Bürgerbeteiligung in der Gesellschaft, einschließlich der potenziell betroffenen lokalen Gemeinschaften, wenn es um Entscheidungen über politische Maßnahmen, Programme und Infrastrukturprojekte geht.

Der offene Brief enthält auch Empfehlungen zur Stärkung der territorialen Governance, zur Überprüfung von Hochrisikoprojekten und zur Behebung von Schäden und sozioökologischen Verpflichtungen, zu Amazonasstädten, zur Rolle der Finanzinstitute, zur Infrastruktur und zu Plänen zur Bekämpfung der Entwaldung.

// Christian Russau