Marijane Lisboa berichtet

Veranstaltung „Brasiliensolidarität – Damals und heute“ vom 06.04.2014 in Berlin. Redebeitrag von Marijane Lisboa, Soziologin, Pontifícia Universidade Católica de São Paulo, Mitinitiatorin der Nunca Mais Brasilientage.
| von Initiative Nunca Mais - Nie Wieder
Marijane Lisboa berichtet

„Ich gehörte zu der Gruppe von Brasilianern, die als Flüchtlinge in Chile gelebt haben und die wegen des Putschs gegen  Allende ein zweites  Asyl  suchen mussten. Wir haben uns in die mexikanische Botschaft geflüchtet und sind dann nach Mexiko geflogen, wo wir hofften, es wäre möglich, ein neues Leben zu beginnen. Leider war die mexikanische Regierung anderer Meinung und hatte uns das Asyl verweigert.

Dann gab es eine Zeit, in der wir systematisch alle Botschaften besucht haben, um ein Einreisevisum zu bekommen. Aber auch diese Länder wollten uns nicht aufnehmen. Da wir Freunde hatten, die schon in Deutschland lebten, dachten wir, dass es vielleicht weniger schwierig sein könnte, dort Asyl  zu bekommen als in Frankreich, wo damals schon zu viele Brasilianer  waren und wo die Arbeitslosigkeit wegen der Ölkrise sehr hoch war.

Durch diese Freunde kamen wir in Kontakt mit Britta Lützow, von Amnesty International in Berlin, mit der wir Briefe austauschten und die sich für uns um Plätze in den Universitäten und vor allem um Stipendien bemühte. Aber das eigentliche Rätsel war, wie wir Mexiko ohne eine Pass verlassen und in Deutschland ohne einen Pass und ein Eingangsvisum ankommen könnten  Bei der deutschen Botschaft in Ciudad de Mexico waren wir immer eingeladen, in der „sala da esperanca“ (Wartesaal) auf eine Antwort von Bonn zu warten, die niemals kommen sollte. Schließlich haben die Mexikaner uns einen Pass gegeben, was nicht sehr gut war, weil in ihm geschrieben war, dass wir keine Mexikaner waren. Da dies aber auf Spanisch und auf einem Blatt in der Mitte des Passes geschrieben war, sollte es bei der Passkontrolle von Beamten, die kein Spanisch konnten, unbemerkt bleiben.

Der andere Teil des Rätsels wurde durch ein Eingangsvisum von Jugoslawien gelöst, was der mexikanischen Regierung ermöglichte, uns einen Flug nach Brüssel zu kaufen, da es damals keinen Direktflug nach Belgrad gab es. Auf dem Brüsseler Flughafen wartete dann schon die belgische Sektion von Amnesty International auf uns. Wie in Deutschland hatte sie ein Netzwerk von Familien und Personen organisiert, das den Flüchtlingen Unterkunft gab.

Einige Tage danach fuhr uns das Ehepaar, bei dem wir geblieben waren,  nach Köln, dort erwartete uns Peter Klein von Amnesty International und brachte uns zur Polizei, um Asyl zu beantragen. Wir haben dann einen Flüchtlingsausweis beantragt, der während zwei Jahren unser einziges Dokument war.
Die neue Herausforderung war dann, wie wir überleben  konnten, während wir auf die Antwort auf unseren Antrag warteten. Und nach allen Auskünften konnte dies Jahr dauern. In diesem schwierigen Moment wurden wir mit Pastor Dressel bekannt gemacht. Damals war Pastor  Dressel der Leiter des Ökumenischen Studienwerks (ÖSW),  einer Institution, die Stipendien und Sprachkurse für Studenten der Dritten Welt vergab. Pastor Dressel schuf dann ein besonderes Programm für Flüchtlinge aus Chile und hat viele von uns in Bochum empfangen. Aus Gründen, die  bis heute nicht geklärt sind, hat Pastor Dressel die Stipendien für die Frauen vergeben und die Männer haben nur einen Zuschuss bekommen. Wahrscheinlich wusste er, dass Frauen normalerweise bessere Studenten sein könnten. Alle Funktionäre und Lehrer des ÖSW waren auch sehr nett zu uns und haben versucht, unser Leben leichter zu machen.

Während des Weltmeisterschaft 1974 wurde uns trotzdem von der Polizei befohlen, viele Male täglich zur nächsten Polizeistation zu kommen, weil sie sich Sorgen machte, dass wir, die nur mit Deklinationen und den trennbaren und untrennbaren Verben kämpften,   Anschläge gegen die Stadien machen könnten. Pastor Dressel hat damals gegen diese Maßnahme protestiert, aber wir mussten diese täglichen Spaziereingänge machen, wollten wir nicht aus Deutschland ausgewiesen  werden.

Anne Marie Bartelt, eine sehr liebenswürdige Frau, die mit ihre Mann und ihren vier Kindern, auf dem ÖSW Campus lebte, hat mich viele Male zur Polizeistation gefahren, weil ich hochschwanger war. Anne Marie also fuhr mich zur Frauenklinik Bochum, wo meine Tochter, Barbara, geboren ist.

Endlich, wir hatten die deutsche Sprachprüfung bestanden und sind nach Berlin ungezogen, um  die Universitäten hier zu besuchen. Da ich meine Soziologiestudien fortsetzen wollte, aber kein richtiges Deutsch sprechen konnte, besuchte ich das Lateinamerikanische Institut, wo so viele Leute spanisch oder eben portugiesisch sprechen konnten. Clarita Müller Plantemberg war meine erste Professorin  und sie war sehr geduldig, mir zu helfen und Probleme, die ich nicht verstanden habe, zu erklären.

Für unsere politischen und juristischen Probleme in Berlin war dann Britta von Lützow verantwortlich. Sie und der Amnesty Rechtsanwalt, Siegfried, mussten uns gegenüber der deutschen Justiz  verteidigen, weil wir beschuldigt wurden, Deutschland ohne eine reguläres Eingangsvisum betreten zu haben.

Nach einem Jahre war unser prächtiger mexikanischer Pass abgelaufen und wir fanden uns in West-Berlin eingesperrt, weil wir keine Antwort auf unseren Asylantrag bekommen hatten. Dieses Asyl kam eigentlich erst, nachdem eine von uns, unsere Freundin Maria Auxiliadora Barcelos Dora Selbstmord begangen hatte.

Selbst nachdem wir Zuflucht bekommen haben, wurden wir einige Male von den deutschen Sicherheitsdiensten und der deutschen Polizei belästigte. Häufig, wenn wir im Zug fuhren, wurden wir gestoppt und verhört. Pastor Dressel und Amnesty Deutschland haben wiederholt dagegen protestiert, aber es scheint, dass die deutsche Polizei lieber auf die Informationen der brasilianischen Polizei  und  der deutschen Organisationen, die freundschaftliche Beziehungen mit der brasilianische Diktatur hatten, vertraut hat.

Glücklicherweise gab es in Deutschland viele liebenswürdige Leute, die uns geholfen haben, unser Leben hier zu rekonstruieren. Studenten und Professoren der Universität, aber auch Deutsche, die keine Intellektuellen waren oder Angestellte des Deutschen Entwicklungsdienstes, wo ich nach meinem Diplom gearbeitet habe. Wir kamen auch in Kontakt mit neuen politischen Themen und Ansichten, die für uns wirklich eine Revolution bedeuteten: Umweltkampf, insbesondere gegen Atomenergie, Frauenkampf, Pazifismus, Konsumkritik usw und wir haben die Geburt der Grünen Partei miterlebt. Die Nähe zur DDR half uns auch, unsere letzten Illusionen über den Sozialismus zu verlieren, obwohl ich die 3 Bände des Kapitals mit Luiz Ramalho und dann mit einem ganzen Kollektiv von Marx- Spezialisten studiert habe.

Als die Kampagne für eine Amnestie in Brasilien wuchs, wurde hier und wahrscheinlich in anderen deutschen Städten, ein deutsches Komitee für Amnestie gebildet. Wir haben sehr spannende Feste gemacht, mit viel brasilianischem Essen und Samba, um Geld für die Kampagne zu sammeln.

Eines Tages, endlich, konnten wir nach Brasilien zurückkehren. In unserem Gepäck brachten wir sehr viel mehr zurück, als wir damals in Deutschland hatten: einen richtigen brasilianischen Pass, deutsche Freunde, neue Ideen, eine schöne Sprache, weil es ein wirkliches Privileg ist, Marx, Freud, Adorno und Thomas Mann im Original zu lesen. Aber vor allem die Erfahrung, dass wir nur physisch und psychisch überlebt hatten, weil wir die Solidarität von so vielen Deutschen und Organisationen hatten, trotz der feindseligen Haltung der deutschen Regierung gegen uns damals.“

Quelle: Weltfriedensdienst. Nunca Mais Brasilientage - Dokumentation. Juli 2014