Flussableitung São Francisco: Die sozialen Bewegungen auf der Suche nach einem alternativen Entwicklungsansatz

Nach dem Beginn der Bauarbeiten für die Ableitung des São Francisco Flusses im Nordosten Brasiliens hatte der kollektive Widerstand gegen dieses Megaprojekt mit der Besetzung der Baustelle, Massenprotesten in Brasília und den Mobilisierungen rund um den zweiten Hungerstreik von Bischof Luiz Cappio Ende 2007 seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Seitdem hatten sich die Kämpfe der indigenen Gruppen, KleinbäuerInnen und Landlosen, Fischergemeinschaften und der Nachfahren von Sklavengemeinschaften (Quilombolas), der Gewerkschaften, Studentengruppen und kirchlichen  Organisationen mehr auf die alltäglichen, lokalen Auseinandersetzungen konzentriert.
| von Brasiliennachricht - Tobias Schmitt

So war es laut Ruben Siqueira, Koordinator des Zusammenschlusses der Basisbewegungen des São Francisco und Mitarbeiter der Landpastorale von Bahia, nun an der Zeit, dass „die Organisationen und Basisbewegungen den Kampf gegen die großen Zerstörer des São Francisco Flusses wieder aufnehmen: gegen die Regierungen und das Kapital.“

So trafen sich Ende August in Carnaíba do Sertão, im Bundesstaat Bahia, über 100 Personen von unterschiedlichen sozialen Bewegungen, die aus dem gesamten Einzugsgebiet des São Francisco-Flusses und den nördlichen Empfängerstaaten der Flussableitung angereist waren, um die Ereignisse der letzten Jahre gemeinsam Revue passieren zu lassen und die aktuellen Konfliktlinien zusammenzutragen. Dabei zeichnete sich ein Bild der weiteren Aneignung und Zerstörung der Natur und der sozialen Exklusionsprozesse ab. Vor allem die Ausweitung der Minenprojekte, der Bau von zahlreichen weiteren Staudämmen, die Ausdehnung der Monokulturen zur Holz- (Eukalyptus) und Energieproduktion (Zuckkerrohr) und der Bewässerungslandwirtschaft bis hin zu Plänen für den Bau von Atomkraftwerken am Unterlauf des Flusses machen deutlich, wie die Inwertsetzung der Natur im Namen des vermeintlichen Fortschritts immer weiter vorangetrieben wird. Auch in den Bundesstaaten, die das Wasser der Flussableitung erhalten sollen, können die Folgen dieses Entwicklungsmodells bereits heute beobachtet werden: Vertreibung von indigenen Gruppen und traditionellen Gemeinschaften durch den Bau von Stauseen, Ableitungskanäle und Industriekomplexen, Zurückdrängung der Nahrungsmittelproduktion, Verstärkung der Landkonzentration, Proletarisierung und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse auf dem Land durch die Ausweitung der industriellen Bewässerungslandwirtschaft und erhebliche gesundheitliche Bedrohung der LandarbeiterInnen und der ländlichen Bevölkerung bis hin zu Todesfällen durch den intensiven Chemaikalieneinsatz in den Monokulturen. Besonders deutlich wird der Gegensatz zwischen der Regierungsrhetorik und den tatsächlichen Entwicklungen im Bundesstaat Ceará. Im Gegensatz zur erklärten Absicht der Regierung Lula, 12 Mio. Menschen im Nordosten Brasiliens mit dem Wasser des São Franciscos zu versorgen, wird der ländlichen Bevölkerung der Zugang zur Ressource Wasser weiterhin verwehrt. So wird der Kanal der Integration, der das Wasser der Ableitung in die Hauptstadt Fortaleza und den Hafen von Pecém transportieren soll, von Überwachungskameras und bewaffneten Patrouillen kontrolliert, während die Bevölkerung entlang des Kanals weiterhin auf die unregelmäßig auftretenden Regenfälle angewiesen ist.

Als einer der Erfolge der letzten Jahre kann somit die verstärkte Zusammenarbeit und der gemeinsame Kampf gegen das Megaprojekt zwischen den Gruppen aus dem São Francisco Tal und den Empfängerstaaten angesehen werden. Darüber hinaus waren die Forschritte bei der Anerkennung der traditionellen Territorien der indigenen Gruppen Trukás und Tumbalala und der Beginn der Kampagne Operá, die die Auswirkungen des Ableitungsprojektes auf 33 indigene Gruppen denunziert und einen sofortigen Stopp der Bauarbeiten fordert (s. http://www.rettet-den-regenwald.de/protestaktion.php?id=403), wichtige Meilensteine des Widerstandes. Durch den Zusammenschluss der lokalen Bürgerinitiativen entstanden Synergien im Widerstand gegen Staudamm- und Minenprojekte in Bahia und Minas Gerais und gegen die Ausweitung der Zuckerrohrplantagen in Areia Grande (Bahia). Lokale Maßnahmen zur Revitalisierung von Zuflüssen, wie des Cochos in Minas Gerais machen Schule. Die Verleihung des Weltbürgerpreises der Kant Stiftung an Bischoff Cappio und die internationale Anerkennung der Widerstandsbewegungen wurden ebenfalls als Erfolge hervorgehoben.

Das dreitägige Treffen war geprägt durch einen reichhaltigen Austausch zwischen den unterschiedlichen Bewegungen angereichert mit Musik- und Theatereinlagen und der Ausweitung des neu gegründeten Kommunikations- und Bildungsnetzwerkes. Besonders angeheizt wurden die Diskussionen durch drei Teilnehmer, die sich vehement für das Ableitungsprojekt aussprachen und sich dabei immer wieder der in den Medien verbreiteten Argumentationslinien bedienten, was für viel Unverständnis und Aufregung unter den Anwesenden sorgte. Erst am letzten Tag des Treffens stellten sich ihre Interventionen als ´unsichtbares Theater´ heraus, das die Positionen und Argumente der sozialen Bewegungen weiter stärken und zuspitzen sollte, was eine erhebliche Erleichterung unter den TeilnehmerInnen zu auslöste.

Auch in Zukunft bleibt der Widerstand gegen das dominierende Entwicklungsmodell und konkret gegen die Ableitung des São Francisco ein Schwerpunkt der Kampagnen der sozialen Bewegungen im Nordosten Brasiliens. Auch wenn bisher erst 4,9% des Nordkanals und 6,9% des Ostkanals fertig gestellt werden konnten und verschiedene Skandale – wie  beispielsweise Falschabrechnungen der beteiligten Unternehmen – das Megaprojekt immer wieder in Frage stellen, scheint ein Festhalten an der Flussableitung auch nach der Amtszeit von Präsident Lula mehr als wahrscheinlich. Insbesondere die designierte Nachfolgerin Lulas und Präsidentschaftskandidatin der Arbeiterpartei PT Dilma Rousseff, die auch als Mutter des Wirtschaftswachstumsprogramms PAC bezeichnet wird, steht für eine Fortsetzung des Entwicklungsmodells und eine Ausweitung der Großprojekte besonders im Nordosten und im Amazonas.

Diesem neoliberalen Entwicklungsmodell wollen die sozialen Bewegungen ein alternatives Projekt entgegensetzen. Eckpunkte dieses ´Projeto Popular´ stellen unter anderem eine umgehende Agrarreform und die Anerkennung der Länderreien der traditionallen Gemeinschaften, eine Demokratisierung der Wasserressourcen und eine Einstellung der Megaprojekte, eine ökologische Revitalisierung mit einer wahren Partizipation der Betroffenen und eine kritische Evaluierung der bestehenden Minen- und Energieprojekte dar. Umstritten blieb, ob mit der Kandidatur der ehemaligen Umweltministerin Marina da Silva als Präsidentschaftskandidatin für die Grüne Partei, der Wahlkampf im kommenden Jahr dazu instrumentalisiert werden kann, die Problematik des Entwicklungsmodells und dessen negative Auswirkungen wieder verstärkt in die Öffentlichkeit zu rücken. Auch blieb die Frage offen, ob man sich, wie etwa auf dem Welt-Sozial-Forum in Belém angeregt, für einen Öko-Sozialismus aussprechen soll, so dass am Ende die Formulierung eines „Sozialismus, der sich um die ökologischen Belange kümmert, ohne sich jedoch in einen „Grünen Kapitalismus“ zu verfangen“ in die Abschlusserklärung einging.

Bei der Abschlusszeremonie am Ufer des São Francisco, bei der die Teilnehmer die Erklärung von Carnaíba in einer ausgehöhlten Kalebasse als symbolische Flaschenpost mit dem Fluss verschickten, wurde die Hoffnung geäußert, dass von diesem Treffen neuer Schwung für die künftigen Aktionen ausgehen und der gemeinsame Widerstand wieder gestärkt werden kann. Die bereits geplanten Aktionen, wie etwa die Informationstour in den Empfängerstaaten Ende November diesen Jahres, werden zeigen, ob sich diese Hoffnungen erfüllen können.