Brasiliens Innen- und Außenpolitik: Konferenztag bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin

Wissenschaftler*innen und Akteure aus Politik, Rechtswesen, Wirtschaft, Internationale Beziehungen und Zivilgesellschaft trafen sich zu einem Austausch über die aktuelle Einschätzung der innenpolitischen und außenpolitischen Lage Brasiliens. Die Perspektive der Diskussion wechselte vom Blick nach innen, zu Aktivitäten Brasiliens in der Region hin zum globalen Maßstab, um schließlich bei der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit zwischen Deutschland bzw. EU und Brasilien zu landen.
| von Uta Grunert
Brasiliens Innen- und Außenpolitik: Konferenztag bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin

Michel Temer hat seine Politik neoliberal ausgerichtet, die geschwächte Wirtschaft soll über sogenannte Reformen neu in Schwung gebracht werden. Innerhalb eines Jahres legte die Regierung Maßnahmen zur Deckelung der Ausgaben des Öffentlichen Haushalts für 20 Jahre sowie zahlreiche Eingriffe ins Arbeitsrecht vor. Außerdem wurden Einsparungen in der Sozialversicherung beschlossen.

Unstrittig waren die Expert*innen in der Einschätzung, dass eine Überarbeitung der Staatsausgaben nötig geworden war, weil das System sonst kollabiert wäre. Die Art und Weise und die Zielrichtung der aktuellen Austeritätspolitik wurde jedoch scharf kritisiert, ihre Folge sei ein neuer Anstieg der Ungleichheit innerhalb der Gesellschaft. Brasilien gehört weltweit zu den zehn Ländern mit der größten Ungleichheit. Verwunderung äußerten europäische Beobachter*innen darüber, dass der Widerstand aus der Bevölkerung trotz Generalstreik zahlenmäßig eher verhalten ausgefallen sei – angesichts der folgenschweren Eingriffe. Dies wurde auf eine steigende Politikverdrossenheit und den Vertrauensverlust in politische Lösungsansätze zurückgeführt. Schließlich werden im Rahmen der Korruptionsuntersuchungen um den Lava Jato Skandal derzeit Politiker aller Parteien, Unternehmer der größten brasilianischen Unternehmen stark belastet, wenn sie nicht schon im Gefängnis sitzen. Einzig auf Lula werden nach wie vor Hoffnungen gesetzt, auch wenn juristisch noch ungeklärt ist, ob er bei den Wahlen 2018 antreten wird. Außerdem wurde auf die zunehmende Repression im universitären Bereich verwiesen.

Die Entwicklung der brasilianischen Wirtschaft wurde allgemein als auf einem guten Weg eingestuft, wobei Temer strukturelle Veränderungen, die nachhaltig der brasilianischen Gesellschaft zu Gute kommen, vermissen lasse. Der Profit der neoliberalen Ansätze käme allein Unternehmen zugute, in vielen Fällen fließe dieser ins Ausland ab. Für das kommende Jahr sind eine Reihe von weitreichenden Privatisierungen angekündigt.

Der Umgang mit den Erdölfeldern vor Brasiliens Küste wurde in diesem Zusammenhang beispielhaft erwähnt. Noch 2010 wurde der halbstaatliche Erdölkonzern Petrobrás als Hauptunternehmen in der Vergabe der Förderlizenzen gehandelt. 30% der Einnahmen sollten in das Bildungs- und Gesundheitssystem fließen und damit einen Mehrwert für die brasilianische Bevölkerung bedeuten. Es kam zur Krise – wirtschaftlich für Petrobás und politisch für die Führung der PT Regierung. Der Plan wurde geändert. 2015 wurden die Fonds ausgelöscht. Heute erhalten ausländische Firmen vom brasilianischen Staat Steuererleichterungen dafür, dass das Pré-Sal-Gebiet wirtschaftlich ausgebeutet werden soll. Die brasilianische Bevölkerung geht leer aus.

Die unbefriedigende und perspektivlose Situation äußert sich auch in anderen Bereichen. Die Arbeitslosenzahlen waren 2016 erneut angestiegen, die Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut aus der PT-Zeit waren nicht strukturell verankert und damit nicht nachhaltig. Temer sei ohne weitere politische Perspektive der ideale Mann, um die unliebsamen Sparmaßnahmen durchzupeitschen. Über einen Coup d´Ètat sei er an die Macht gekommen (darüber gingen die Meinungen auseinander), für sein politisches Agieren fehle ihm die Legitimation der Wählerschaft. Dies könne zu weiteren gesellschaftlichen Unruhen führen, zumal der Wahlkampf weitere gesellschaftliche Grabenkriege erwarten ließe. Brasilien sei instabiler geworden und erweise sich gerade als schwache Demokratie. Eine politische Reform sei dringend nötig, allerdings nicht absehbar, wer diese vorantreiben könne.

Nach außen gerichtet sei Brasilien weiterhin vor allem um Autonomie und Entwicklung bemüht. Eine regionale Führungsrolle wegen seiner Größe gegenüber den südamerikanischen Nachbar-Ländern sei nach diversen politischen Wechseln eher im Rückgang begriffen. Wirtschaftliche Zusammenschlüsse für Handelsverbesserungen seien ohne große Auswirkung geblieben, Brasilien derzeit zu schwach und visionslos für eine Führungsrolle. Vorsichtige Annäherungen gab es zu den konservativen Regierungen Argentiniens und Mexikos. Das Wirtschaftsbündnis UNASUR wird derzeit ignoriert, weil es mit Lulas Initiative identifiziert wird. Brasilien war zuletzt nicht mehr in der Lage, bei politischen Konflikten schlichtend einzugreifen. Weder bei den kolumbianischen Friedensverhandlungen noch in den Konflikten in Venezuela konnte Brasilien sich einbringen.

Im globalen Maßstab sei schon unter der Regierung von Dilma Rousseff das politische Engagement auf wirtschaftliche Interessen beschränkt worden. Die angebahnte Süd-Süd-Kooperation ihres Vorgängers Lula sei aus haushalterischen Gründen eingestellt worden. Sie habe vor allem dem Zweck gedient, Brasilien einen Sitz im Weltsicherheitsrat zu ermöglichen. Auch die Aktivitäten innerhalb der BRICS seien eher pragmatisch wirtschaftlich ausgerichtet. Für Brasilien zählt weiterhin China, mit dem derzeit 16,5% der Handelsbeziehungen im Bereich commodities stattfindet. Auch in dem Bereich hat es keine strukturellen Veränderungen gegeben. Brasiliens wirtschaftliche Zukunft wird als stark abhängig von den Entwicklungen in Asien (v.a. China und Indien) eingeschätzt, ohne dass dies einen eigenen starken Input im Wirtschaftsbündnis erfordert.

Sicherheitspolitisch hat vor wenigen Monaten der Einsatz der internationalen Friedenstruppe unter militärischer Führung Brasiliens auf Haiti geendet. Für das brasilianische Militär war dieser Einsatz ein willkommener Anlass zur Legitimierung von Ausgaben im Verteidigungshaushalt. Das originär brasilianische Konzept rechtfertigte Waffengeschäfte, neue Ausrüstung sowie den Bau und Erhalt eines großen Ausbildungszentrums für friedenserhaltende Maßnahmen in Rio de Janeiro. Das brasilianische Konzept wird erfolgreich vermarktet, gegenüber Vorwürfen aus der eigenen Bevölkerung genauso wie nach außen. Es soll zu einem Exportprodukt werden. Um dem Vorwurf zu entgehen, in angespannter Haushaltslage unnötig Mittel zu verschlingen, wird derzeit ein neuer Einsatzort gesucht. Die Zentralafrikanische Republik Kongo ist dabei im Gespräch. Die Zügel im Geschehen halten nach Einschätzung der Forscher*innen die Militärs selbst in der Hand. Der junge brasilianische Verteidigungsminister sei derzeit lediglich ihr Sprachrohr, das Außenministerium und der Präsident hingegen blieben hier eher sprach- und konturlos.

Die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und seinem strategischen Partner Brasilien wurde als überwiegend positiv eingeschätzt. Allerdings seien die bilateralen Regierungsgespräche von Merkel und Temer nicht zustande gekommen. Deutschland liegt an vierter Stelle, wenn man brasilianische Handelsbeziehungen anschaut. Brasilien ist außerdem der wichtigste Partner der EU in Lateinamerika. Deutschland und die EU betonten, dass sie sich ihrer Verantwortung in Menschenrechtsfragen bewusst seien. So habe der brasilianische Botschafter zuletzt den Direktor der Indigenenbehörde FUNAI und indigene Vertreter*innen empfangen.