„Herzliche diplomatische Beziehungen mit Diktaturregimen“

Interview mit Prof. Marijane Lisboa, Mitbegründerin der Initiative Nunca Mais – Nie Wieder.
| von KoBra für die Initiative Nunca Mais – Nie Wieder
„Herzliche diplomatische Beziehungen mit Diktaturregimen“
Marijane Lisboa (Photo ALSP)

Marijane, welches sind deine Motive, den Militärputsch in Brasilien vor 50 Jahren im Rahmen von Veranstaltungen der Nunca Mais Brasilientage zu thematisieren?
Marijane: In der Welt von heute kann sich eine Diktatur, die so lange an der Macht war, nur halten, wenn sie Unterstützung oder zumindest die Gleichgültigkeit wichtiger Länder der internationalen Gemeinschaft erfahren hat. Andererseits kann auch kein Kampf um Wiederherstellung der Demokratie ohne Solidarität und Unterstützung anderer Länder, seiner Organisationen und Bewegungen erfolgreich sein. Die BRD war eines dieser Länder, die die Diktatur unterstützten – wenngleich ihre Rolle und Bedeutung nicht mit der der USA verglichen werden kann. Gleichzeitig gab es aber in Deutschland auch zahlreiche Organisationen und Bewegungen, die die Verbrechen jener Diktatur anprangerten, Flüchtlinge aufnahmen und aktiv den Kampf für die Redemokratisierung Brasiliens unterstützten.

Warum ein Projekt im Kontext der Militärdiktatur zu den deutsch-brasilianischen Beziehungen organisieren? Inwiefern könnte diese Debatte in Deutschland die Arbeit in Brasilien gegenwärtig beeinflussen?
Marijane:
Im Vergleich zu Argentinien und Chile gibt es in Brasilien immer noch großen Widerstand gegen die Aufarbeitung dessen, was damals während der Diktatur geschah. Es gibt Widerstände, die Verbrechen, die von staatlichen Akteuren begangen wurden, vor ein Gericht zu bringen. Die Tatsache, dass auch in anderen Ländern solche Verbrechen geächtet werden, sollte den Gedanken unter uns stärken, mit dieser Vergangenheit ins Reine zu kommen, damit sich solche Verbrechen nie wiederholen mögen. Aber ich glaube, dass ein Nachdenken über die deutsch-brasilianischen Beziehungen auch in Deutschland Früchte zeigen wird, eine Reflexion über seine Verantwortung für die Einhaltung der Menschenrechte. Es kann nicht sein, dass eine Demokratie wie Deutschland herzliche diplomatische Beziehungen mit Diktaturregimen pflegt, nur um seine kommerziellen Interessen zu verfolgen, und dabei die Augen schließt vor den Verbrechen, die im betreffenden Land gegen die Menschenrechte begangen werden.

Welches sind Deine persönlichen Beziehungen zu Deutschland? Unter welchen Umständen kamst Du nach Deutschland?
Marijane:
Ich lebte als Flüchtling in Chile, als die Militärs 1973 gegen Allende putschten, flüchtete dann weiter nach Deutschland. Wer uns bei Ankunft aufnahm und unterstützte, das waren Mitglieder von Amnesty International Deutschland, Peter Klein und Britta Lützow. Pfarrer Hans Dressel, damals Direktor des Ökumenischen Studienwerks in Bochum, kümmerte sich um eine große Anzahl an brasilianischen, chilenischen und uruguayischen Flüchtlingen, denen er Stipendien besorgte, um Deutsch zu lernen und um sich auf ein Studium an einer deutschen Universität vorzubereiten. Ich studierte am LAI der FU-Berlin, wo ich das Diplom in Soziologie machte. Ende 1979 kehrte ich nach Brasilien zurück. Ich bin einige Male nach Deutschland zurückgekehrt, wo ich Freunde habe, ich pflegte Verbindungen zu deutschen Einrichtungen in Brasilien wie dem vormaligen Deutschen Entwicklungsdienst (DED, in Brasilien hieß der SACTES), die Friedrich-Ebert- und Heinrich-Böll-Stiftung. Ich habe Rosa Luxemburg übersetzt, Anna Seghers, Christa Wolf, Hans Jonas und Jean Améry und in letzter Zeit habe ich mich immer mehr für die neuere deutsche Geschichte interessiert und die Debatte zu einer Erinnerungskultur im Zusammenhang mit dem Nazismus und der DDR verfolgt.

// Interview: Júlia Dócolas und Sara Fremberg
Übersetzung: Werner Würtele, ehem. Landesdirektor des Deutschen Entwicklungsdienstes Brasilien

Marijane Lisboa:
Dr. Marijane Lisboa wurde 1947 in Rio de Janeiro, Brasilien geboren. Im September 1969 wurde sie wegen Mitgliedschaft in einer politischen Organisation, die die Militärdiktatur bekämpfte, verhaftet. Nach mehreren Gefängniswechseln wurde sie im November 1970 freigelassen, und suchte politisches Asyl in der Botschaft Chiles. In Chile lebte sie bis zum Militärputsch 1973. Nach kurzen Aufenthalten in Mexiko und Belgien suchte sie schließlich Asyl in der Bundesrepublik Deutschland. In Berlin studierte sie am Lateinamerika-Institut der FU Berlin, ein Studium, das sie 1978 mit dem Diplom in Soziologie abschloss. Zurück in Brasilien war sie ab 1980 als Professorin an der Päpstlichen Katholischen Universität von São Paulo (PUC-SP) tätig. 1991 ließ sich Frau Lisboa dort freistellen, um beim Aufbau  von Greenpeace Brasilien mitzuwirken. Mit Greenpeace organisierte sie Kampagnen gegen giftige und genmanipulierte Substanzen in Lebensmitteln. Zu diesen Themen begleitete sie auch Greenpeace International bei internationalen Verhandlungen.
2003 übernahm Frau Lisboa die Leitung des Sekretariats für umweltbezogene Qualität in menschlichen Siedlungen im Bundesumweltministerium in Brasília unter Ministerin Marina Silva. Zwischen 2007 und 2011 war sie Berichterstatterin für Umwelt- und Menschenrechte der Plattform für Wirtschaftliche, Soziale und Kulturelle sowie Ökologische Menschenrechte (Plattform DHESCA) wieder, die Fälle massivster Verletzung von Umweltrechten untersucht.
Dr. Lisboa ist Mitglied der Nationalen Technischen Kommission für Bio-Sicherheit (CTNBio). Die Kommission ist verantwortlich für die Prüfung von genmanipulierten Lebensmitteln auf ihre Biosicherheit. Frau Lisboa beteiligt sich zudem am Brasilianischen Netz für Umweltgerechtigkeit aus sozialen Bewegungen, NGOs und Wissenschaftler_innen. Dieses Netz bemüht sich, die hinter den gesellschaftlich-ökologischen Konflikten stehenden Fragen nach politischer und ökonomischer Macht sichtbar zu machen. Seit Juni 2013 ist sie Mitglied in der Wahrheitskommission „Rektorin Nadir Gouveia“, die die Gewalt gegen Mitglieder der PUC-SP während der Diktatur untersucht.

Marijane Lisboa wird in Berlin, São Paulo und Rio de Janeiro an folgenden Veranstaltungen der Nunca Mais Brasilientage teilnehmen:

SO, 6. APRIL 2014, 18:00 | ORT: WERKSTATT DER KULTUREN, BERLIN
BRASILIENSOLIDARITÄT – DAMALS UND HEUTE
ZEITZEUG_INNEN UND AKTEUR_INNEN IM GESPRÄCH: MIT MARIJANE LISBOA, HEINZ F. DRESSEL, OSMAR GOGOLOK, PETER KLEIN, CLEMENS SCHRAGE; MODERATION: LUIZ RAMALHO
Ort: Werkstatt der Kulturen | Seminarraum 1 | Wissmannstraße 32, 12049 Berlin
Sprache: Deutsch | Eintritt frei
Eine Veranstaltung des Weltfriedensdienst e.V., Berlin, im Rahmen der Nunca Mais Brasilientage

MO, 7.4. - DI, 8.4.2014 | 9:00 UHR | ORT: LAI, BERLIN
„NUNCA MAIS!“ BRASILIEN 50 JAHRE NACH DEM MILITÄRPUTSCH
Ort: Lateinamerika-Institut der FU Berlin, Raum 201 (2. Stock) Rüdesheimer Str. 54-56, 14197 Berlin - U-Bahnhof Breitenbachplatz | Veranstaltung öffentlich, ohne Anmeldung | Sprachen: deutsch und englisch

DI, 08. APRIL 2014 | 19.30 UHR | HEINRICH-BÖLL-STIFTUNG, BERLIN
Diskussionsabend mit Chico Whitaker (Architekt, Mitglied der brasilianischen Kommission Gerechtigkeit und Frieden), Marijane Vieira Lisboa (Soziologin, Pontifícia Universidade Católica de São Paulo), Jürgen Trittin, (MdB, Bündnis 90/Die Grünen, ehemaliger Umweltminister) und Dawid Bartelt (Leiter des Brasilienbüros der Heinrich-Böll-Stiftung, Rio de Janeiro). Gezeigt wird auch der Doku
mentarfilm „Gelber Kuchen, gelbe Kekse. Anwohner_innen der Uranmine von Caetité im Gespräch“, Dokumentarfilm von Thomas Bauer (CPT Bahia), Brasilien 2013, 12 min.
Ort: Großer Saal, Heinrich-Böll-Stiftung, Schumannstr. 8, 10117 Berlin | Sprache: Simultanübersetzung Deutsch-Portugiesisch | Eintritt: frei
Eine Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung in Kooperation mit medico international im Rahmen der Nunca Mais Brasilientage.
5. MAI – 7. MAI 2014 IN SÃO PAULO | 8. MAI 2014 IN RIO DE JANEIRO