Editorial

Liebe Leser_innen,

vor einigen Monaten erschütterten Brasilien heftige Unruhen. Über soziale Netzwerke wurden erfolgreich viele Menschen mobilisiert und lokale Demonstrationen entwickelten sich zu einer landesweiten Protestwelle. Das Land hat auf einmal ein Problem mit seinem Image. In den vergangenen Jahren inszenierte sich Brasilien erfolgreich als Global Player, holte internationale Großereignisse wie die Fußball-Männer-WM 2014 und Olympia 2016 ins Land, plante Mega-Staudammprojekte und wurde international für seine Wirtschafts- und Sozialpolitik gelobt. Derartige Großprojekte haben jedoch ihren Preis, den vor allem sozialmarginalisierte Gruppem zu zahlen haben.  Menschen in urbanen Zentren werden wegen der Baumaßnahmen für die sportlichen Großereignisse zwangsumgesiedelt, ohne angemessen entschädigt zu werden. Favelas werden von Polizeieinheiten „befriedet“. Staatliche Gelder fließen in Infrastrukturmaßnahmen und Stadienaus- und neubauten anstatt in das marode Bildungs- und Gesundheitswesen.

Brasiliens (Selbst-)Inszenierung wird nicht nur von der Politik der regierenden Parteien, sondern auch von machtvollen Medien bestimmt. Nur zehn große Unternehmer_innen-Familien teilen sich das Medienmonopol im Print- und Rundfunkbereich. Die Medienlandschaft konnte sich seit den Zeiten der Militärdiktatur nicht vielfältig und demokratisch entwickeln. Als Antwort darauf hat sich über die Jahre eine alternative Medienlandschaft etabliert. In alternativen Printmedien, Blogs, Filmen und Freien Radios werden kritische Töne laut. Soziale Netzwerke spielen eine wichtige Rolle für die Verbreitung von Nachrichten. Neben die massemediale Öffentlichkeit tritt eine bewusste Gegenöffentlichkeit. Es werden soziale Reformen, bessere Bildungschancen, Investitionen in die Infrastruktur des Landes und eine gerechtere Verteilung gefordert.

Das vorliegende Heft widmet sich diesen Fragen, beleuchtet die Hintergründe der heterogenen Protestwelle und nimmt speziell die Medien in den Blick. So resümiert der erste Text von Dawid Bartelt die Motive für die Proteste, wobei er vor allem auf Brasiliens neue Mittelklasse und die politische Lage des Landes eingeht. Mit der monopolisierten Massenmedienlandschaft in Brasilien und ihrer historischen Entwicklung beschäftigt sich Frederico Füllgraf. Die Glosse von Itamar Silva kommentiert die mediale Inszenierung einer Nation bei der Fußballberichterstattung. Das Interview mit Daniel Fonsêca stellt Fragen zur Rolle der Medien während der Juni-Proteste, der „Medienguerilla“ Mídia Ninja und dem neuen Mediengesetz. Leonardo Sakamoto analysiert die heterogene Zusammensetzung der Demonstrationen und den Einsatz von New Social Media. Im Interview mit Itamar Silva geht es um die in den Medien inszenierte Sicherheit und das Bild von Favelas. Dieses Thema greift Nils Brock von der anderen Seite auf: Wie nutzen Favelabewohner_innen selbst die Medien? Welche Rolle spielen Blogs, Community Radios und Zeitungen? Nach einem Text von Frei Luciano Bruxel zur Rolle von Jugendlichen in den Medien schließt unser Heft mit einem Essay von Tainã Mansani, der einige der vorherigen Themen streift und speziell auf die  Rezeption der Proteste in den deutschen Medien eingeht. Themen, die uns auch auf der diesjährigen Tagung des Runden Tisch Brasilien vom 22.-24. November 2013 in Weimar beschäftigen werden.