Wie eine Kneipenprügelei in Rio de Janeiro zur Gründung des Deutschen Reichsgeschwaders führte

Wie infolge eines Zwischenfalls in Rio im Oktober 1871 begonnen wurde, „deutsche Interessen“ auch in Übersee mittels einer ständigen schnellen Eingreiftruppe militärisch zu vertreten.
| von Christian Russau
Wie eine Kneipenprügelei in Rio de Janeiro zur Gründung des Deutschen Reichsgeschwaders führte
Die SMS Nymphe. Ausschnitt eines Gemäldes von Alexander Kirchner. Lizenz: Gemeinfrei

Im Mittelmeer, im Kosovo, in Afghanistan, im Golf von Aden, in Mali, in Westsahara, im Irak, in Syrien – die deutsche Bundeswehr ist bei einer Reihe von „Out of Area“-Einsätzen beteiligt. Vor knapp 25 Jahren, im Jahr 1992, verabschiedete die SPD die Beschlüsse der sogenannten Petersberger Wende, die die damaligen asyl- und außenpolitischen Verfassungsänderungen im großen Vierklang von CDU, CSU, FDP und SPD erst ermöglichte. Nur wenige aber kennen die Ursprünge des ersten deutschen „Out of Areas“-Einsatzes, vor 145 Jahren, und wissen, was das mit einer Kneipenprügelei in Rio de Janeiro zu tun hatte. Ein kurzer Geschichtsrückblick.

Während der Triple-Allianz-Krieg (1865-1870) zwischen Paraguay auf der einen und Argentinien, Brasilien und Uruguay auf der anderen Seite als erstes modernes Brutalschlachten – auch mit Krupp-Geschossen – in die Geschichte südlich des Rio Grande einging und die Kriegsparteien Soldaten in einem Maße requirierten, dass nahezu alle Regionen Brasiliens in wirtschaftliche Depressionen fielen und erste Sozialrevolten die Runde machten, begann sich der preußische Gesandte und Legationssekretär in Rio de Janeiro, Theodor von Bunsen, Sorgen um Besitz und Leben der in Süd-Brasilien beheimateten „Preußisch-Deutschen Bevölkerung“ zu machen, denn „nach dem Abgange nicht nur der Linien sondern fast sämmtlicher Schutzmannschaften aus den bedeutenden Städten nach dem Kriegschauplatz ist keine genügende Macht zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung vorhanden […]. Bereits fängt man daher an, Besorgnisse vor Sklavenaufständen zu glauben, und Ermordungen sind an einigen Flecken des Landes sehr häufig geworden. Unter diesen Umständen halte ich es für meine Pflicht, Eurer Exzellenz davon Mittheilung zu machen, daß namentlich von den durch die Paraguay ́sche Invasion bedrohten Porto Alegre her der Ruf der Preußisch-Deutschen Bevölkerung nach einem Preußischen Kriegschiff immer lauter wird, und daß ich die Plünderung irgend einer der Hafenstädte Brasiliens durch die jeden Zwanges entbundenen unteren Schichten der Bevölkerung zwar nicht für eine Wahrscheinlichkeit halte, indeß immerhin als Möglichkeit anerkennen muß“. Im September 1865 legte von Bunsen nach und forderte, dass „zum Schutz dieser Interessen ein Kriegsschiff nach Brasilien und den La Plata Staaten entsendet werden möge“.

Das preußische Außenministerium schloss sich der Forderung nach Entsendung eines Kriegsschiffs in die La-Plata-Bucht an, auch der Marineleitung schien kaum etwas lieber, als „diese günstige Gelegenheit zur Erfüllung einer ihrer wichtigsten Aufgaben nicht unbenutzt vorübergehen zu lassen". So erteilte Preußens König Wilhelm dem Kriegsschiff S.M.S. Vineta den Befehl zum Auslaufen aus dem Heimathafen Kiel mit Richtung „La-Plata-Bucht“. Zwischen dem 20. Januar und dem 4. Februar 1866 lag die preußische Korvette zunächst recht unspektakulär vor Rio, die Matrosen hatten Sonntags Ausgang, und der Triple-Allianz-Krieg zog sich derweil in die Länge, wurde noch brutaler und noch unübersichtlicher – zumal für eine vor Rio liegende preußische Korvette. So wurde das Schiff nach Montevideo und dann aber wegen des chilenisch-spanischen Krieges weiter nach Chile und Peru beordert, um die aus Deutschland stammenden Handelsschiffe und ihre Fracht zu beschützen. Denn der Handel mit Peru (Guano) und Chile (Kupfer und Zinn) war aus preußischer Sicht bedeutsamer und schützenswerter – waren doch allein 1864 mindestens 65 deutsche Handelsschiffe aus chilenischen Häfen nach Hamburg und Bremen unterwegs gewesen.

Denn, so wusste der Kapitän der S.M.S. Vineta, Hans Kuhn, in die Heimat zu berichten, „bei einer längeren Dauer des Krieges steht zu erwarten, daß Chili und Peru Kaper ausrüsten, die mit Gesindel aller Nationen bemannt, wahrscheinlich wenig besser Piraten sein dürften und den deutschen Seehandel der Westküste Amerikas gefährden könnten."1 Der Schutz der eigenen Handels- und Investitionsinteressen offenbarte sich schon damals als Fortsetzung der Außenwirtschaftsförderung mit anderen Mitteln. Und nach der deutschen Reichsgründung 1871 legte Deutschland noch einen drauf.

Im Oktober 1871 dümpelte die deutsche Korvette S.M.S. Nymphe der kaiserlichen Marine vor Rio de Janeiro herum, die Besatzung hatte Ausgang. Einige Deck- und Unteroffiziere der S.M.S. Nymphe beteiligten sich an einer Kneipenschlägerei, bei der die Polizei von Rio mit Säbeln gegen die deutschen Seeleute vorging. Die deutschen Seeleute wurden in Haft genommen. Nach Ansicht der Deutschen wurde die Freilassung der Seeleute über Gebühr verzögert.

Schwer erbost über den Vorgang, beschloss Bismarck in Berlin die Bildung eines so genannten „Atlantischen Evolutions-Geschwaders“, das aus den zwei Panzerfregatten „Friedrich Carl“ und „Kronprinz“, aus den zwei Korvetten „Elisabeth“ und „Augusta“ sowie aus dem Kanonenboot „Albatroß“ zusammengestellt wurde, um, wie es der Historiker Gerhard Wiechmann beschrieb, „dem neu gegründeten Reich auch in Übersee den scheinbar notwendigen Respekt zu verschaffen“. Eine Machtdemonstration im klassischen Sinne einer Kanonenbootpolitik sollte dem 1871 gegründeten Reich in aller Welt Respekt verschaffen. Die Entsendung des Geschwaders nach Südamerika bot sich laut Ansicht der deutschen Generäle zudem an, da es dort vermehrt zu Fällen gekommen war, wo „deutsche Interessen“ verletzt worden waren. Deutsche Kaufleute beklagten sich bei den preußischen Gesandten über Kreditausfälle, nicht bezahlte Schulden oder über ihnen zugefügte Schäden, die ihnen durch die dortigen Staaten, teils aber auch durch die Kanonenbootpolitiken anderer europäischer imperialistischer Staaten zuteil wurden. Dazu bedürfte es des „deutschen Schutzes“. Der deutsche Entsandte aus Caracas beschwerte sich darüber, „daß deutsche Angehörige und deren Interessen von einigen südamerikanischen Regierungen nicht mit der Rücksicht behandelt werden, auf welche wir Anspruch machen dürfen“ und forderte, „an der ganzen südamerikanischen Küste nicht, wie bisher nur ein einzelnes Schiff, sondern ein Geschwader zu zeigen“.

Da die Polizei in Rio de Janeiro die Seeleute nach 14 Tagen wieder freiließ, widerrief Bismarck zunächst die Entsendung des Geschwaders gen Südamerika, aber die Idee der Einrichtung des späteren deutschen „Reichsgeschwaders“ für Überseeeinsätze war geboren.2

General Albrecht von Stosch – der Chef der Admiralität – bestand aber wegen der Vorfälle in Brasilien, Venezuela und weiteren Vorkommnissen in Lateinamerika, wo er die „deutsche Interessenssphäre“ verletzt sah, auf der Entsendung. Und so geschah es dann. Mit von Stosch begann die Hochsaison der Entsendung deutscher Marine nach Übersee: „Zu keinem späteren Zeitpunkt war, relativ gesehen zur Gesamtstärke der Marine, der Anteil deutscher Einheiten in Übersee so hoch wie in dieser Epoche“, konstatiert der Historiker Gerhard Wiechmann.3

Das „Atlantische Evolutions-Geschwader“ lief im Oktober 1872 aus, zunächst mit den Zielen Trinidad, Venezuela, Kolumbien, Haiti und Mexiko, bevor es wieder über den Atlantik zu den Kapverdischen Inseln, Kapstadt nach Australien und von dort nach Ostasien und China gehen sollte. Das Geschwader wurde vom Kapitän zur See Reinhold Werner geführt und fuhr nach Bridgetown, Barbados, von dort nach Caracas, wo der deutsche Ministerresident darauf bestand, Schulden für die Deutschen einzutreiben, bevor es weiter nach Sabanilla in Kolumbien ging. Dort ging es um die Eintreibung von Außenständen einer deutschen Eisenbahngesellschaft. Danach dampfte die deutsche Kanonenboottruppe weiter nach Port-au-Prince4, nach Kingston, Jamaika, und Havanna, Kuba, wo ein Telegramm aus Berlin eintraf, das die Rückfahrt nach Europa anordnete, da in Spanien ein Bürgerkrieg ausgebrochen war und „deutsche Interessen“ gefährdet schienen. Teile des Geschwaders wurden dennoch nach Westindien geschickt, aber der Großteil kehrte zunächst nach Europa zurück.

Die Grundidee aber, „deutsche Interessen“ auch in Übersee mittels einer ständigen schnellen Eingreiftruppe militärisch zu vertreten, fand ihren Ursprung in der Marineoffizierskeilerei vom Oktober 1871 in einer Hafenkaschemme in Rio de Janeiro.

1 Zit. n. Wiechmann, Gerhard: Die preußisch-deutsche Marine in Lateinamerika 1866-1914 : eine Studie deutscher Kanonenbootpolitik. Dissertation Uni-Oldenburg, Oldenburg 2000, S. 37.

2 Siehe Wiechmann, Gerhard: Die preußisch-deutsche Marine in Lateinamerika 1866 - 1914 : eine Studie deutscher Kanonenbootpolitik. Dissertation Uni-Oldenburg, Oldenburg 2000, S. 104.

3 Wiechmann, Gerhard: Die preußisch-deutsche Marine in Lateinamerika 1866 - 1914 : eine Studie deutscher Kanonenbootpolitik. Dissertation Uni-Oldenburg, Oldenburg 2000, S. 79.

4 Dort hatte bereits Anfang 1872 die deutsche S.M.S. Vineta ein haitianisches Schiff gekapert, um Kreditzahlungen und Entschädigungen für deutsche Kaufleute einzutreiben. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts drohte Deutschland mit zwei vor Port-au-Prince liegenden Fregatten dem kleinen Haiti mit der Zerstörung der kompletten Flotte und der Bombardierung durch Kanonade der Hafenanlagen und der Hauptstadt Port-au-Prince, sollte der dort inhaftierte und rechtskräftig verurteilte Kaufmann Emil Lüders nicht binnen vier Stunden freigelassen werden. Trotz der von allen Seiten nicht infragegestellten Rechtsstaatlichkeit der Verurteilung Lüders', exerzierte Deutschland dort seine Großmacht-Kanonenpolitik.