"Wir werden nicht in vier Jahren die Fehler von 500 Jahren beheben"

Interview mit Luiz Inácio Lula da Silva
| von Francesc Relea (El País)

Mit den Augen eines Gewerkschaftsführers sieht man Brasilien anders als mit Präsidentenaugen. Luiz Inácio Lula da Silva ist der einzige Brasilianer, der die beiden Sichtweisen eingenommen hat. Der ehemalige Metallarbeiter und Gründer der Arbeiterpartei PT, der größten Linkspartei Lateinamerikas, musste in 17 Monaten die enormen Regierungsschwierigkeiten und die abgrundtiefe Entfernung zwischen den Wahlversprechen und der Machtausübung entdecken. Mit 58 Jahren hat er sich im Schnellverfahren den Pragmatismus beigebracht, welchen er jetzt großzügig auf dieses Interview überträgt. Der Präsident empfängt El País im beigen Anzug im Amtszimmer des lichtdurchfluteten Regierungspalastes, das darüber hinaus einen spektakulären Blick auf die künstliche Lagune Paranuá bietet. Das Gebäude wurde, wie zahlreiche weitere in Brasilia, von Oscar Niemeyer entworfen. Lula gibt Kostproben seines Sinnes für Humor und strahlt Wärme, Optimismus, Ruhe und die Selbstsicherheit aus, dass er seine Versprechen einlösen wird. "Ich habe noch zweieinhalb Jahre vor mir, ich bin an der Ausarbeitung des zweiten Haushalts, des ersten der wirklich meine Sache ist. Die natürliche Tendenz ist, dass die Situation sich von Jahr zu Jahr bessert, und zwar um einiges." Mitten im Interview tritt die Präsidentengattin Marisa Leticia ein und macht es sich diskret auf einem entfernten Sofa bequem. Alles im Regierungspalast spielt sich mit bester Normalität ab.

F.R.: Dass Sie an die Macht kamen, hat in Millionen Hilfloser nicht nur in Brasilien, sondern in ganz Lateinamerika, eine Hoffnung geweckt. Meinen Sie, dieser Hoffnung auf irgendeine Weise gerecht geworden zu sein?

Lula: Dazu hatten wir keine Zeit. Ich bin nach wie vor überzeugt von dem, was wir an Erwartungen in der brasilianischen Gesellschaft geschaffen haben, und von den historischen Verpflichtungen gegenüber den Allerärmsten. Zugleich bin ich mir der Realität bewusst, die ich beim Regierungsantritt vorfand. Ich werde mein Projekt nur mit einer wachsenden Wirtschaft und dem Geld für nötige Investitionen durchführen können. In unserem erstem Jahr haben wir versucht, Stabilität in die Wirtschaft zu bringen, um in Zukunft mehr investieren zu können. Ich bin zuversichtlich. Ich werde die Verpflichtungen, die ich eingegangen bin, einlösen, doch uns ist bislang noch nicht gelungen, viel von dem umzusetzen, was wir in Bezug auf die Einkommensverteilung erreichen wollten. Wir werden nicht in vier Jahren die Fehler von 500 Jahren beheben.

F.R.: Was war die unangenehmste Überraschung, die Sie beim Regierungsantritt erlebt haben?

Lula: Ich kannte die brasilianische Realität ziemlich gut, doch ich hatte keine Ahnung vom Desaster in der Verwaltung. Der öffentliche Apparat war völlig unstrukturiert. Die zweite Enttäuschung war die wirtschaftliche Situation, die weitaus ernster war als ich dachte. Brasilien hat eine historische Anhäufung von Sozialschulden und alles muss neu aufgebaut werden. Von den Streitkräften bis zu den Ministerien für Planung oder den Datenverarbeitungsunternehmen. Zudem hinterließ die Vorgängerregierung viele Schulden. Wir werden den Haushalt um 14.000 Millionen Reais, d.h. fast 5.000 Millionen Dollar, kürzen. Ich habe immer mit Optimismus gearbeitet, denn ich habe folgende Prämisse: Wäre Brasilien in einem guten Zustand, hätte ich die Wahl nicht gewonnen. Ich habe gesiegt, weil Brasilien in einem so heiklen Zustand war, dass das Volk verstanden hat, dass ich das werde meistern können, wo andere versagen.

F.R.: Was ist die Bilanz Ihrer ersten anderthalb Jahre Führung?

Lula: Wir haben uns entschieden zu tun, was getan werden musste, und ich glaube, dass wir bis heute ziemlichen Erfolg hatten. Wir kamen nicht so schnell voran wie ich es gerne gehabt hätte, aber zum ersten Mal gibt es ein Wirtschaftswachstum mit einer vernünftigen ökonomischen Stabilität. Unser Plan ist an erster Stelle Zuverlässigkeit, wir werden was wir haben in den Bereichen ausgeben, die wir als vorrangig ansehen, und die Zugeständnisse einlösen, die Brasilien in der Vergangenheit erhalten hat, denn das macht uns glaubwürdig. Wir haben mehr Geld für die landwirtschaftlichen Familienbetriebe investiert als dies jemals zuvor in Brasilien der Fall war. Wir haben Übereinkommen mit Arbeitern und Bankleuten getroffen, damit jene Zugang zu Darlehen mit niedrigen Zinsen haben, welche vom Gehalt abgezogen werden. Wir sind einen Kompromiss mit den Landlosen eingegangen und nehmen es auf uns, bis zum Ende unserer Regierungszeit 480.000 Familien anzusiedeln, und von 130.000 Familien die Eigentumstitel zu regeln.

F.R.: Aber jetzt werden Sie mehr von den Finanzmärkten bejubelt als von den Volksfraktionen, die Sie gewählt haben.

Lula: Wir sind entschieden, die eingegangenen Verpflichtungen zu erfüllen. Letztes Jahr mussten wir 140.000 Millionen Reais (47.900 Millionen Dollar) Verschuldungszinsen zahlen. Wir erreichten einen Steuerüberschuss von 4,25% des BIP und damit konnten immerhin 62.000 Reais bezahlt werden, doch für den Rest mussten wir umdisponieren. Das heißt, dass der Überschuss nicht ausreicht, um die hohen Zinsen zu bezahlen. Woher diese monströsen Zinsen? 70 % unserer Schuld liegt bei brasilianischen Kleininvestoren. Würde ich der Pflicht nicht nachkommen, diese Zinsen zu zahlen, würde ich keinem ausländischen oder brasilianischen Unternehmen den Anreiz geben, in unserem Land zu investieren.

F.R.: Der Kampf gegen den Hunger hat Sie Ihr Leben lang begleitet. Ergab die Null-Hunger-Kampagne denn schon etwas?

Lula: Das Ziel ist, dass 2006 von den Programmen Fome Zero (Null-Hunger) und Bolsa Familia (Familienkasse) 11 Millionen Familien profitieren, was bedeutet 44 Millionen Menschen damit zu erreichen. Ich werde mein Versprechen einlösen, dass die Brasilianer jeden Tag frühstücken, mittagessen und abendessen. Doch diese Unterstützungspolitik ist nicht in sich das Ziel; sie ist nur eine Notfallpolitik. Wir wollen die Bedingungen dafür schaffen, dass die Wirtschaft gestärkt wird und die es ermöglichen, Stellen zu schaffen. Wir wollen keine Auf und Abs des Wachstums, sodass es in einem Jahr auf 4 % klettert und im nächsten wieder in die Rezession abstürzt. Ich ziehe diesen Schwankungen eine solide Wachstumsrate von 3 % vor. Dann werden wir 4 % erreichen können und diese Ziffer ab dem nächsten Jahr sogar übersteigen können.

F.R.: Kann denn der Kampf gegen den Hunger gewonnen werden?

Lula: Ich versammle zum 20. September alle Staats- und Regierungschefs, um über die Schaffung eines Fonds zur Welthungerbekämpfung zu diskutieren. Ich vertraue darauf, dass diese Logik die Herzen und Köpfe der anderen Regierenden erweicht. Zu meiner Freude hat der Kollege Zapatero bereits zugesagt, sich mit uns in der UNO für dieses Projekt einzusetzen, wie auch Chirac, Lagos und hoffentlich noch viele andere Präsidenten.

F.R.: Die Dinge mit Weile anzugehen, kostet Sie das nicht einen Verlust an Popularität, die laut Umfragen um 20 Prozentpunkte gefallen ist?

Lula: Meine Arbeit richtet sich nicht nach Kriterien der Popularität. Wenn ich beim Zubettgehen ein ruhiges Gewissen habe, dass ich tue was getan werden muss, bin ich zufrieden. Einer der größten Fehler in Brasilien, sogar in den 30er- bis 80erjahren, als die Wirtschaft auf ein jährliches Wachstum von 7 % anstieg, war, dass wir nicht durchsetzen, an das Land in den folgenden 30 Jahren zu denken. Man denkt höchstes an Brasilien, wenn der nächste Wahlkampf kommt. So kann es zu keiner vernünftigen Politik kommen, weil nur für das Mandat und die eigene Regierung gearbeitet wird und nur an die Wahlen gedacht wird, statt an das Volk. Man muss an das Land in 15 oder 20 Jahren denken und für die zukünftigen Regierungen eine stabile Basis schaffen.

F.R.: Welche von all den durch Ihre Regierung eingeleiteten Reformen bereitete Ihnen am meisten Kopfzerbrechen?

Lula: Die Sozialversicherung. Ich musste mit meinen Freunden aus der Gewerkschaft diskutieren, aber die Leute müssen einfach verstehen, dass man irgendwann einmal reformieren muss. Auf der ganzen Welt ist das eine Tatsache, weil die Lebenserwartung besser geworden ist. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Brasilien liegt bei 71 Jahren. Als die Sozialversicherung eingeführt wurde, lag jene bei knapp über 50 Jahren. Die neuen Umstände rufen nach einer Anpassung der Leistungen. Diejenigen, die von der Sozialversicherung profitieren, wollen natürlich keine Veränderungen, aber ich denke nicht nur an sie, sondern auch an unserer Söhne und Neffen. Wenn wir das, was wir jetzt haben, nicht umverteilen, werden sie überhaupt nichts mehr abbekommen.

F.R.: Entspricht es der Demokratie, wenn man Leute aus der Partei ausschließt, die nicht der offiziellen Richtung folgen, so wie es mit den vier Kongressabgeordneten geschah, die sich der Sozialversicherungs- und Steuerreform widersetzten?

Lula: Wenn Sie in eine Partei eintreten wollen, müssen Sie die Regeln befolgen. Demokratie bedeutet nicht, dass die Macht einer Minderheit über den Interessen der Mehrheit steht. Demokratie beinhaltet Diskussion auf allen Ebenen, aber wenn per Abstimmung eine Entscheidung gefällt wird, muss die von allen respektiert werden. Wenn eine Person nicht einverstanden ist und sich keiner Entscheidung der Parteiinstanzen beugen will, ist ihr Austritt zu begrüßen. Um in Brasilien in einem Staat wie São Paulo gewählt zu werden, braucht man ein Minimum von 300.000 Stimmen. Kein unabhängiger Kandidat erreicht diese Zahl. Kein Abgeordneter kann von sich behaupten, Herr seiner Stimmen zu sein, da er nicht alleine gewählt wurde: er verdankt die Stimmen der Partei. Das ist Demokratie.

F.R.: Die Opposition stellt die Kommunalwahlen vom Oktober als erste Prüfung Ihrer Führung dar. Wenn die PT den landesweit wichtigsten Bezirk von São Paulo verliert, werden Sie das Ergebnis als eine persönliche Niederlage werten?

Lula: Dazwischen gibt es keinen direkten Zusammenhang. Wenn man einen Bürgermeister wählt, stimmt man für denjenigen, von dem man glaubt, dass er am besten für die Stadt sorgen wird, also nicht nach nationalen Belangen sondern nach regionalen.

F.R.: Aber die PT wird ihr bestes tun, Marta Suplicy bei ihrer Kandidatur zur Wiederwahl zu unterstützen.

Lula: Wahrscheinlich. Ich werde an diesem Wahlkampf nicht teilnehmen, weil ich zu einer Parteienkoalition gehöre, die ihrerseits in den Gemeinden Kandidaten stellt. Ich kann ja nicht an einer Kampagne gegen diejenigen teilnehmen, die mich in der Koalition unterstützen! Selbstverständlich verfügt die PT aber über sehr gute Leute, Minister, Abgeordnete, die wohl aktiv am Wahlkampf teilnehmen werden.

F.R.: Sind Sie mit der Koalition zufrieden, abgesehen davon, dass ein Koalitionspartner, die PMDB, mehr und mehr aus Eigenprofit handelt, wie sich bei der letzten verlorenen Senatsabstimmung über den Mindestlohn zeigte?

Lula: Ich kenne niemanden in der Welt, der eine politische Allianz bildet und der damit nicht regelmäßig Probleme hat. Ich glaube, dass die die Regierung unterstützende verbündete Basis unglaublich viel für das Land und die Regierung getan hat. Der Dialog ist das Wichtigste. Das ist Politik.

F.R.: Ist es eine solide Allianz?

Lula: Bis jetzt war sie solide. Selbst in schwierigsten Abstimmungen wurde koordiniert gestimmt.

F.R.: Strebt Brasilien eine Führungsrolle in Lateinamerika an?

Lula: Zu der Führungsrolle kommt es nicht um ihrer selbst willen, sondern in Bezug auf die Arbeitsfähigkeit. Ich bin schon sehr zufrieden mit meiner Rolle an der Spitze Brasiliens. Was ich mir für Südamerika wünsche, ist eine auf einer Vertrauensbasis zwischen Ländern und Regierungen basierende Politik auf die Beine zu stellen. Wir sind auf einem außergewöhnlichen Stand in unseren Beziehungen zu Argentinien, Uruguay, Paraguay, Bolivien, Kolumbien, Peru, Venezuela... Entweder wir schließen uns zusammen, stimmen unsere Politik aufeinander ab und schließen untereinander Abkommen, sodass wir ein Minimum an Infrastruktur für unser Wachstum aufbauen können, oder wir bleiben auf ewig Entwicklungsländer.

F.R.: Wie sehen Sie die Beziehung zu Handelsmächten wie den USA oder der EU?

Lula: 26 % des brasilianischen Außenhandels wird mit den USA abgewickelt, weitere 26 % mit der EU. Wenn ein Land eine sehr starke Handelsbeziehung eingeht, verringert es sein Handlungsfeld und seine Ausbaufähigkeit. Wir haben weder die Technologie noch das Niveau der EU. Sollen wir ein Leben lang die Europäer anflehen, ihre Agrarsubventionen zu reduzieren? Nein. Wir müssen andere, ähnliche Verbündete suchen, die eine komplementäre Politik betreiben. China z.B. hat eine sehr gute Politik, Satelliten auf den Markt zu bringen, und Brasilien, baut gute Flugzeuge. Wir können die Technologie untereinander austauschen. Was für eine ergänzende Politik kann Brasilien mit Argentinien haben? Und mit Südafrika?

F.R.: Was ist der Einsatz der Regierung in den internationalen Handelsbeziehungen?

Lula: Neu ist, gegenseitige Ergänzungsbeziehungen zwischen Entwicklungsländern aufzubauen. Wir haben den G 20 gegründet, ein Zusammenschluss, der es ermöglicht, bei der WTO stärker vertreten zu sein. Ich schlage die Schaffung einer neuen Welthandelsgeografie vor, damit wir vom Potential anderer Länder profitieren können. Andernfalls sind wir alle abhängig von den USA und der EU. Doch die Welt ist viel größer, wir müssen uns andere Räume suchen. Ich möchte eine Beziehung des Friedens und der Sympathie mit den USA und der EU, doch ich will für mich das verteidigen, was sie ebenso für sich verteidigen. Ich kann mich nicht einfach damit zufrieden geben, arm zu sein. Ich muss dafür kämpfen, aus dieser Situation herauszukommen. Deswegen müssen wir in der internationalen Politik wagemutig sein.

F.R.: Zeigt der erzwungene Rücktritt mehrerer lateinamerikanischer Präsidenten in letzter Zeit, dass die Festigung der Demokratie in der Region noch lange nicht der Realität entspricht?

Lula: Ich glaube, dass die Festigung der Demokratie in Lateinamerika sich schnell vollzieht. Man muss verstehen, dass vor 20 Jahren in zahlreichen Ländern hier viele Menschen der Meinung waren, dass der einzige Ausweg in der Revolution, im bewaffneten Kampf bestünde. Heutzutage bestreiten all diese Gruppen demokratische Wahlen. Es gab einen allgemeinen Fortschritt. Südamerika erlebte nie eine derartige demokratische Blüte wie zur Zeit, mit einem Volk, das fortschrittliche und sozial engagierte Regierungen wählt.

F.R.: Glauben Sie, dass sich die Beziehung zu Spanien mit dem Regierungsantritt José Luis Rodríguez Zapateros verbessern werden?

Lula: Ich muss sagen, dass das Verhältnis zu José María Aznar, von Staat zu Staat, nicht auf persönlicher Ebene, hervorragend war. Wir haben ein Abkommen unterzeichnet, nach dem Spanien und Brasilien eine privilegierte, strategische Beziehung eingehen sollten. Diese Beziehung wird sich noch verbessern, so habe ich es mit José Luis Rodríguez Zapatero abgesprochen, und es steht in Aussicht, dass bisherige Errungenschaften perfektioniert werden. Wir stehen in einem historischen Bezug zur PSOE und haben eine ideologische Übereinstimmung, die uns eine Vertiefung unserer Beziehungen ermöglichen sollte.