Wankt Bolsonaros Macht?

Corona-Krise bringt Politgefüge in Brasilien nahe an den Schmelzpunkt.
| von Christian Russau
Wankt Bolsonaros Macht?
Bolsonaro bei seiner Stimmabgabe zum Impeachment gegen Dilma Rousseff 2016. Foto: Christian Russau

"Ihre Regierung ist vorbei"
Diese Worte musste sich Jair Bolsonaro in aller Öffentlichkeit anhören. Das Video der Szene machte Mitte März Furore in den sozialen Netzwerken in Brasilien. Brasiliens rechtsextremer Präsident stand vor seinem Regierungspalast, tat so, als würde er die Worte nicht verstehen. "Ihre Regierung ist vorbei." Eigentlich ist dies mittlerweile der Mehrheit der Brasilianer*innen bewusst geworden. Nur hatte es bislang noch niemand so nüchtern beschrieben, wie der Sprecher dieser gleichsam prophetischen Worte.

Etwas mehr als eine Woche später wankt die Regierung Bolsonaro. Acht Abende in Folge erhallte in Brasiliens Städten der ohrenbetäubende Lärm der "panelaços", millionenfach standen die Brasilianer*innen auf ihren Balkonen, an ihren Fenstern, um ab 20 Uhr, mit Töpfen und Pfannen und Kochlöffeln ausgerüstet, gegen die Bolsonaro-Regierung zu protestieren. Aus den drei großen Millionenmetropolen, São Paulo, Rio de Janeiro und Belo Horizonte, zeigten unzählige Videos in den sozialen Netzwerken, wie der über die Stadtviertel hinwegdröhnende Proteststurm besonders auch - und das ist das für Bolsonaro eigentlich Brisante - in den Reichenvierteln ertönte, dort, wo man zu den Wahlen 2018 mit deutlicher Mehrheit zum ehemaligen Fallschirmspringer und Hauptmann a.D, Jair Bolsonaro, gehalten hatte. Wenn die Elite sich abwendet, war es bisher immer ein untrügliches Zeichen, dass eine Regierung in Südamerikas größtem Staat an ihr Ende gelangt ist.

Einzig Bolsonaro scheint dies noch nicht so richtig mitbekommen zu haben. Er plaudert weiter Unsinn, verbreitet Lügen und fake news, kopiert Trumps Aussagen jeweils einen Tag später, verharmlost Corona als "gripezinha".

"Kleine Grippe" als "omissídio" (I)

So auch gestern Abend in seiner geschnittenen Videoaufzeichnung an das brasilianische Volk. Bolsonaro beschuldigte die Medien, alles zu übertreiben. "Wenn ich mich mit dem Virus infiziere, bekomme ich nur eine 'gripezinha' (kleine Grippe) oder ein 'resfriadinho' (leichte Erkältung)." Warum das bei ihm so sein würde, erläuterte er auch gleich: „Meine Geschichte als Athlet.“ Und kurz darauf keilte er gegen die Bundesstaaten und deren Gouverneur*innen. Es könne nicht sein, dass die Gouverneur*innen solch ein "Konzept der verbrannten Erde" durchzögen, einfach Schulen schließen und die Wirtschaft aufgeben. Am Samstag hatte sein einstiger Verbündeter und mittlerweile einer seiner ärgsten politischen Feinde, der Gouverneur des Bundesstaates São Paulo, João Doria, weitgehende Ausgangsbeschränkungen für die mehr als 40 Millionen Einwohner*innen verhängt, vorerst für 15 Tage. "Die Risikogruppe sind Personen über 60 Jahre. Wozu also Schulen schließen?", blafft Bolsonaro.

In Brasilien kursiert die Tage der Begriff „omissídio“, eine kombinierende Wortneuschöpfung aus "omissão" ("Unterlassung", "Leugnung") und "homicídio" ("Mord") oder in diesem Fall treffender "genocídio" ("Genozid", "Völkermord") ist. Das Virus zu ignorieren, den "normalen Alltag" zu verlangen, kommt angesichts der Letalitätsrate einem vorsätzlichen Genozid gleich, vor allem der Armen.

Zwist mit Gouverneur*innen und dem größten Außenhandelspartner

Dabei hatte Bolsonaro der öffentliche Druck erst vorgestern dazu bewogen, den Anschein der Dialogfähigkeit zu erwecken, er konferierte mit den Gouverneur*innen, - um ihnen durch seine gestrige Rede an die Nation gleich wieder in den Rücken zu fallen. Leicht durchschaubar dabei, ist, dass er so in Zukunft sagen kann, wenn Millionen von Brasilianer*innen ihren Job verloren haben, er habe ja davor gewarnt.

Die Krise, die ein Bolsonaro in Brasilien noch massiv verschlimmert, zeitigt zudem auch Zwist in der Außenpolitik. Wenige Tage zuvor hatte Bolsonaro verlauten lassen, China sei schuld an Corona. Sekundiert von seinem Sohn Eduardo Bolsonaro, der den Virus als "chinesischen Virus" bezeichnet, was den chinesischen Botschafter in Brasília zu einer harschen Antwort herausforderte, eine Entschuldigung fordernd, was wiederum Brasiliens Außenminister Ernesto Araújo als Affront wertete, so dass China offiziell erklärte, das Ganze werde Folgen haben. Wer diese Twitter-Gefechte vor allem fassungslos-schockiert verfolgte, war Brasiliens Agrobusiness, vor allem die Soja-Farmer*innen. Diese bemühten sich, die Wogen zu glätten, woraufhin Bolsonaro selbst offensichtlich etwas mulmig wurde und er sich zu erklären beeilte, sein Sohn Eduardo Bolsonaro sei doch nur Abgeordneter, trotz des Namens stehe er ja nicht für die Regierung. China ist Brasiliens größter Außenhandelspartner. 75 Prozent der ganzen Sojabohnen, die Brasilien exportiert, geht nach China.

Eingeschleppt durch die Reichen, wer daran stirbt, werden zumeist die Armen sein

Während die ersten Corona-Fälle die obere Mittelklasse trafen, die sich auf ihrem Europa- und USA-Urlaub angesteckt hatten, war einer der ersten Todesfälle eine Hausangestellte, deren Chefin sich in Italien angesteckt hatte, die auf Corona positiv getestet wurde und ihre Hausangestellte weder davon informierte, noch ihr freigab, geschweige denn ihr Atemschutzmasken oder Ähnliches bereit gestellt hätte. In Brasilien arbeiten über 6,3 Millionen Frauen als Hausangestellte, deren Söhne und Töchter haben nun ein hundertausendfach geteiltes Manifest veröffentlicht, in dem sie fordern, dass ihren Müttern angesichts der Corona-Gefahr sofort dienstfrei gegeben werden müsse, bei vollem Lohnausgleich. Aussicht, damit bei Bolsonaro auf Verständnis zu stoßen. De jeito nenhum, nem pensar.

Mittlerweile haben alle Angst vor Corona, und was die größte Befürchtung war, dass es das Virus in die Favelas der Städte schaffen würde, dort, wo oft weniger als die Hälfte der Menschen über fließend Wasser verfügen, das ist am Wochenende eingetreten: Im Stadtviertel Cidade de Deus in Rio de Janeiro ist ein Bewohner positiv auf Corona getestet worden. Die Obdachlosenbewegung MTST sammelt dringend benötigte Spenden, denn viele der Obdachlosen haben gar kein Wasser, auch keine Seife. Nicht auszudenken, was Corona anrichten wird, sobald es die indigenen Territorien erreicht. Pressemeldungen von Ende vergangener Woche deuten darauf hin, dass es bei den indigenen Pataxó im Bundesstaat Bahia den ersten Corona-Infektions-Fall gebe.

"Kleine Grippe" als "omissídio" (II)

Und was schlägt Bolsonaro gegen Corona vor? "Werden durch den Virus ein paar sterben? Ja, klar, die werden sterben", so Bolsonaro im Fernsehgespräch vor wenigen Tagen. "Wenn es da wen falsch erwischt, dann ist das eben so. Sorry." Und legt auch gleich dazu seine Beweggründe offen: "Aber wir können da nicht so ein Klima schaffen. Das schadet der Wirtschaft." Da es ihm nicht um Menschen, sondern um die Aufrechterhaltung der Wirtschaft geht, ließ er sein Kabinett auch gleich zur Tat schreiten. Firmen dürfen ab sofort wegen der Corona-Krise die Gehälter und Löhne ihrer Beschäftigten, Angestellten und Arbeitenden um die Hälfte kürzen. Kurz danach ging das Kabinett noch einen Schritt weiter: Angesichts der Corona-Krise dürfen Firmen nun ihre Angestellten und Arbeiter*innen für bis zu vier Monate einfach außer Dienst stellen, - klar, ohne Lohnfortzahlung. Den Letzten beißen die Hunde, die Krise wird so den Arbeiter*innen komplett zugeschoben. Das ging der Öffentlichkeit dann aber auch auf, und Bolsonaro zog noch am gleichen Nachmittag (dem Montag) den Präsidialerlass wieder zurück. Seine Erklärung dazu: Den habe sein Wirtschaftsministerium erarbeitet, er habe den Erlass, den er unterzeichnet hat, gar nicht gelesen.

Dabei ist klar: die Zeche zahlen die Armen. Amerika21 hat dies gut zusammengefasst in einem Bericht von heute Morgen: "Gleichzeitig strich die Regierung entgegen ihrer bisherigen Ankündigungen in 158.000 Fällen die Sozialhilfe ‚Bolsa Familia‘. Inmitten der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Krise trifft das die Ärmsten der Armen. Über 30 Millionen neue Arbeitslose werden wegen der Corona-Welle vor allem in den unteren Einkommensgruppen erwartet. Insbesondere Tagelöhner wie Straßenverkäufer und Hausangestellte sind von Kontaktsperren und Quarantäne besonders betroffen. Laut einer Studie können 72 Prozent der Favela-Bewohner auf keine Ersparnisse zurückgreifen. Jeder Dritte werde in der Quarantäne Probleme bekommen, ausreichend Lebensmittel zu kaufen, warnt das Institut Data Favela."

Wirtschaft schon vorher am Rande des Kollaps
Doch selbst all diese über die Maßen unternehmerfreundlichen Maßnahmen dürften der brasilianischen Wirtschaft aus Sicht der Reichen, Wohlabenden und Vermögenden derzeit nicht viel weiterhelfen. Bereits vor Corona stagnierte die Wirtschaft, während die brasilianische Landeswährung Real im Tauschwert gegen Dollar und Euro weiter auf historische Stände fiel, nun mussten erstmals in der Geschichte des Landes für einen US-Dollar über 5 Reais hingeblättert werden. Und dennoch zeitigte diese Währungsabwertung so gut wie keine spürbare Exportnachfrage bei Industriegütern, obwohl durch den im Tauschwert sinkenden Real Brasiliens Industrieproduktion doch eigentlich - der Theorie des neoliberalen Wirtschaftsminister und Chicago-Boys Paulo Guedes nach - wettbewerbsfähiger werden sollte. Einzige Ausnahme ist das weiterhin boomende Agrobusiness der Soja- und Fleischexporte, die brennenden Flächen in den Trockensavannen des Cerrados und Amazoniens geben ein beredtes Beispiel davon.

Nun aber mit Corona breitet sich auch in der Mittelklasse und Elite Panik aus, zumal brasilianische Staatspapiere wieder unsicherer werden und damit die rund 18.000 Familien im Lande, die sich seit Generationen über die Zins- und Zinseszinszahlungen trefflich finanzieren, nun Angst um ihre Pfründe bekommen. Auch ausländische Investor*innen fassen Brasilien, so als sei es ein heißes Eisen, bereits nicht mehr an, im Gegenteil: Zogen ausländische Kapitalbesitzer*innen im Gesamtjahr 2019 netto noch 44,5 Milliarden Reais von Brasiliens größter Börse Bovespa in São Paulo ab, so waren es bis 4. März dieses Jahres (also bevor Brasilien langsam klar wurde, was da für ein Corona-Tsunami auf das Land zurast), also in etwas mehr als nur zwei Monaten, satte 44,8 Milliarden Reais (derzeit umgerechnet acht Milliarden Euro). Solche Zahlen treibt selbst die kapitalbesitzenden Schichten auf die Balkone und Terrassen, der Kochlöffel kreist nun auch über der Teflon-Pfanne.

Durchspielen der Varianten eines Machtwechsels im Lande
So nimmt es mittlerweile nicht wunder, wenn übers Wochenende erste konkrete Spekulationen über das baldige Ende der Regierung Bolsonaro die Runde machten. Die Zeitung Congresso em Foco geht davon aus, dass Bolsonaro schneller als gedacht aus dem Amt gedrängt werden könnte und sieht dafür drei Wege: 1) Bolsonaro werde auf dem Weg über eine notwendige (oder vorgeschobene) medizinische Behandlung (sei es wegen Corona, sei es wegen Krebs, sei es wegen Spätfolgen des Messerattentats auf seine Person während des Wahlkampfs 2018) von der de facto-Machtzentrale entfernt. 2) Bolsonaro werde über die Aktionen eines an die Schalthebel der politischen Handlungszentrale rückenden Parlamentarismus zunehmend ausgegrenzt, eine Variante, die angesichts der sich zuspitzende Lage der Corona-Krise vor allem bei den Gouverneur*innen der einzelnen Bundesstaaten zunehmend Anhänger*innen findet, die die Autorität mehr auf die Länder und somit weg von Brasília verlagern wollen. 3) Eine Entmachtung Bolsonaros ist mittlerweile, so Medienberichte, die namentlich (noch) nicht genannte Mitglieder von Kongress und Senat zitieren, durch ein Amtsenthebungsverfahren eine reale Möglichkeit. Anscheinend favorisieren dies mehr und mehr Abgeordnete, immerhin liegen dem Kongress dazu mittlerweile achtzehn Anträge auf Amtsenthebung vor. Es scheint eine Frage der Zeit, bis der erste sich vortraut und die Dominokette der Abtrünnigen in Gang setzt.

Prophetische Ansagen?

"Ihre Regierung ist vorbei." Diese an Bolsonaro gerichteten Worte kamen passenderweiser von einem Immigranten aus Haiti. Dort wütete über Jahre die Cholera, erwiesenermaßen eingeschleppt von den UNO-Soldaten, die als MINUSTAH unter der Leitung von brasilianischen Offizieren, Hauptmännern und Generälen die sogenannte Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in Haiti als Friedensmission der Vereinten Nationen durchführten. Oberster General der MINUSTAH war in den Jahren 2004 und 2005 der brasilianische General Augusto Heleno, derzeit engster Berater Jair Bolsonaros und Oberster Chef des brasilianischen Sicherheitskabinetts GSI. Unter General Augusto Heleno drangen MINUSTAH-Soldaten in das Armenviertel Cité Soleil in der Hauptstadt Port-au-Prince ein, um den mutmaßlichen Warlord Dread Wilme zu verhaften. Über 22.000 Kugeln später war Dread Wilmes tot - und mit ihm Dutzende an unbewaffnete Zivilist*innen. Als Brasiliens damaliger Präsident Lula davon erfuhr, enthob er General Heleno seines Amtes und bestellte ihn umgehend nach Brasilien zurück. Seither schimpfte General Ausgusto Heleno über die Regierung der Arbeiterpartei PT, polterte gegen die nationale Wahrheitskommission zu den Verbrechen der brasilianischen Militärdiktatur, drohte unverhohlen mit der Armee, sollte Lula gewählt werden, und wetterte gegen die Indigenen-Politik der Vorgängerregierungen der PT. Derzeit liegt General Augusto Heleno in Quarantäne. Er ist positiv auf das Corona-Virus getestet worden. Ist der Weltgeist Hegels doch noch mit eifrigen Flügeln unterwegs?

Ist er nun oder nicht?

Corona legt die Inkompetenz dieser Regierung Bolsonaro gnadenlos offen. Fassungslos starren mittlerweile Millionen von Brasilianer*innen, die 2018 ihr Kreuz bei Bolsonaro setzten, auf den schlechte Witze reißenden Präsidenten, der sich um Corona nicht schert, der vermutlich selbst mit Corona infiziert ist, immerhin sind 23 Mitglieder seiner Entourage, mit der er Anfang März in die USA im selben Flieger gereist ist, mittlerweile positiv getestet worden. Bolsonaro selbst sagt, seine zwei Tests seien negativ ausgefallen, er will die Test-Belege aber der Öffentlichkeit weiter vorenthalten. Die Behörden von Brasília haben dem Militärhospital, in dem Bolsonaro und seine Entourage sich haben testen lassen, gerichtlich auferlegt, die Namen der Untersuchten und positiv Getesten offen zu legen, um dergestalt sicherstellen zu können, dass diese Personen isoliert werden, um weitere Gefahr von der Gesellschaft abzuwenden. Dies tat das Krankenhaus, aber zwei Namen von positiv auf Corona Getesteten wurden nicht veröffentlicht, wie zuerst die Folha de São Paulo berichtete, woraufhin der Correio Braziliense nachlegte, das Hospital habe die zwei Namen anonymisiert aus Gründen der nationalen Sicherheit. Ein Schelm, wer dabei an Bolsonaro und seine Gattin denkt.

Zur Erinnerung, en passant: Die brasilianische Gesetzeslage ist eindeutig: Wer Infektionskrankheiten wissentlich und willentlich verbreitet, kann zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt werden.

Ein Präsident im (nur verbalen?) Putschmodus

Bolsonaro schüttelt weiter die Hände seiner verbliebenen fanatischen Anhänger*innen, umarmt und herzt sie und ruft zum Sturm auf Kongress und zur Auflösung des Obersten Gerichtshof auf. Ein Präsident im verbalen Putschmodus, doch wer steht hier eigentlich mittlerweile politisch mit dem Rücken zur Wand? Wer noch hinter ihm steht, sind die Malafaias und Macedos dieser Welt, die mit ihren evangelikalen Kirchen weiterhin den Obulus-Zehnten für ihre Kirchen (und sich) abzwacken wollen und deshalb die Messen trotz Gefahren eines Corona-Super-Spreadings weiter offenhalten wollen und die schon immer ihre feuchten Träume von Apokalypse und Jüngstem Gerichte hegten. Hinzu kommen (erschreckend hohe An-)Teile der Militärpolizei und des Militärs, also die, die im Land die Waffen haben, sowie die mittlerweile paramilitärisch organisierten Mafiamilizionäre vor allem aus Rio de Janeiro, die dort mittlerweile über die Hälfte des ganzen Stadtgebiets mit ihrem System aus Schutzgeld, Erpressung und Mord unter ihre auch ökonomische Gewalt gebracht haben, die immer noch stramm zu ihrem Hauptmann stehen und am Liebsten mit gezogener Waffe dem Virus begegnen wollen. Nekropolitik auf die neue Art. Dort in Rio liegen auch die immer noch nicht geklärten Verbindungen des Bolsonaro-Clans zur Ermordung der Schwarzen, linken, bisexuellen, aus der Favela stammenden, charismatischen Stadtverordneten Marielle Franco von der Partei PSOL, die am 14. März 2018 in ihrem Auto regelrecht hingerichtet wurde – und der Bolsonaro-Clan hat merkwürdigerweise zu so ziemlich allen dieses Mordes Verdächtigen beste Beziehungen.

Bolsonaros gestrige Rede an die Nation ist zu verstehen als Ansage an seine Unterstützer*innen: 1) An die Wirtschaftselite und die um ihre Pfründe fürchtende obere Mittelklasse: Euer Profit geht über (das) Leben (der vielen Hungerleider), so Bolsonaros unmißverständliche Botschaft. 2) An die Militärs und Militärpolizisten die sublime Botschaft, "Steht bereit!", bei den ersten Anzeichen sozialer Konvulsionen, wir, das sind die Bolsonaros, und Ihr, die Militärs und Miltärpolizisten, stehen wir zusammen mit unseren Waffen bereit, das „Patria Amada Brasil“ zu retten. Das passt wieder in Bolsonaros ewige Rede vom Auflösen des Kongresses und Schließen des Obersten Gerichtshofes STF. Zur Erinnerung: In wenigen Tagen jährt sich der Tag des Militärputsches, 31.3.1964. 3) An die Internettrolle und Hater: Hasst weiter und verdoppelt Euren Hass. 4) An die Evangelikalen: Ihr kriegt Euer Armageddon und Jüngstes Gericht.

Doch bei etlichen (der bisherigen) Unterstützer*innen Bolsonaros zeigen sich deutliche Absetzbewegungen, selbst sein bisheriger zum ideologischen Guru erklärter „Vordenker“, der Astrologe und Hobbyphilosoph und Verschwörungsillusionist Olavo de Carvalho distanzierte sich zusehends von Bolsonaro. Mehr und mehr der Bolsonarista-Internet-Trolle verstummten in den letzten Tagen und praktizieren das, was, Nomen est Omen, was ihr Name ihnen rät, sie trollen sich und ziehen Leine. Auch im Militär, vor allem unter den höheren Dienstgraden, scheint es zu brodeln, mehr und mehr erheben öffentliche Kritik an Bolsonaro und dessen inner circle, was bei Bolsonaro letztlich immer nur heißt: er und seine Söhne. Bei den Politiker*innen, die nun ihre Wahlchancen steigen sehen, wenn sie sich als Gegner Bolsonaros profilieren, allen anderen medienmarketinggestyled deutlich voran die Gouverneure João Doria aus São Paulo, Wilson Witzel aus Rio de Janeiro oder Hélder Barbalho aus dem Bundesstaat Pará, tritt der abgrundtiefe Hass und die Wut auf Bolsonaro mittlerweile ungehemmt zu Tage.

Erosion der Machtzentrale durch Absatzbewegungen?
Angesichts explodierender Corona-Zahlen und der Tatsache, dass nun mehr und mehr Menschen klar wird, dass mit markigen Sprüchen keine sinnvollen Politikmaßnahmen getroffen werden können, die auch nur ansatzweise der Corona-Explosion etwas entgegensetzen könnten, dass eine Regierung aus rechtsradikalen Populisten, evangelikalen Eiferern und martialischen Militärs, eine Regierung aus Flat Earthern, Bullshitern und chronischen Lügner, eine Regierung aus moralinsauren Aposteln, neoliberalen Dogmatikern und geldgeilen Korrupten soeben dabei ist, Land und Gesellschaft und Wirtschaft aber so vollends gegen die Wand fahren zu lassen, so nimmt es nicht wunder, wenn mehr und Menschen klar wird, wie offensichtlich diese Regierung erodiert – und dass es jedem auf Macht bedachten Politiker nun darum zu gehen hat, möglichst unbeschadet sein Scherflein ins Trockene, also weitab von Bolsonaro, zu bringen. Die Absatzbewegungen sowohl bei der Elite des Landes, im brasilianischen Senat und Abgeordnetenhaus und den Regionalregierungen sind unübersehbar.

"Ihre Regierung ist vorbei." Dies zeichnet sich als Möglichkeit immer deutlicher ab. Das Danach ist aber auch nicht unbedingt besser. Ein auf Bolsonaro nachrückender General Hamilton Mourão, derzeit eher mephistophelisch in sich hinein grinsender Vizepräsident in Brasília böte angesichts seiner kalten – und vor allem durchgängig militärisch geschulten – Intelligenz auch keine bessere Aussicht.

Brasilien ist kein Land für Anfänger und Amateure, wahrlich nicht.

// Christian Russau