"Schlimmer als das 1:7"
	  
	Thomas Fatheuer, Lateinamerika Nachrichten, Nr. 516, Juni 2017
Die umstrittene Amtsenthebung der gewählten Präsidentin Dilma  Rousseff im vergangenen Jahr erweist sich immer mehr als ein  gefährliches Abenteuer. Mit dem Vizepräsidenten Michel Temer kam ein  Politiker ins Amt, der explizit eine entgegengesetzte politischen Agenda  verfolgt, als die, für die Dilma als Kandidatin der Arbeiterpartei PT  gewählt worden war. Das Kalkül ist offensichtlich: Im Moment einer  schweren Wirtschaftskrise und politischer Schwächung gelang es, die  gewählte Präsidentin zu stürzen und einen Nachfolger einzusetzen, der  nun eine neoliberale „Reformagenda“ durchsetzen soll. Dass Temer sich  als extrem unpopulär erwies, war dabei kein Hinderungsgrund. Im  Gegenteil: Der unbeliebte Präsident ist der ideale Kandidat, um die  schmutzige, sprich unpopuläre Arbeit des Sozialabbaus voranzutreiben,  weil er ohnehin nicht den Hauch einer Chance hat, bei Wahlen sein  Präsidentenamt zu bestätigen.
 Dieses Drehbuch erwies sich zwar als holprig, denn immer mehr enge  Vertraute Temers wurden durch die Korruptionsermittlungen der  Bundespolizei im Zuge der Operation „Lava Jato“ belastet, einige mussten  zurücktreten oder wurden gar verhaftet. Aber Temer verfügte bisher über  eine parlamentarische Mehrheit, die es ihm zum Entsetzen der Linken  ermöglichte, umstrittene Gesetzesvorhaben wie die Reform des  Arbeitsrechts und des Rentensystems voranzubringen. Seit einem Jahr  führt Temer eine reaktionäre Offensive ohne demokratische Legitimation,  die das politische Klima und die Machtverhältnisse in Brasilien  fundamental verändert.
 Anderseits sind neue Enthüllungen in Brasilien fast zum Alltag geworden  und ändern ständig das Szenarium. Dies geschah zuletzt durch die Brüder  Batista, die in der bisherigen Skandalchronik vielleicht nicht den  gebührenden Platz eingenommen hatten. Sie sind die Besitzer des nach  eigenen Angaben größten Schlachthauskonzerns der Welt, JBS Friboi. Im  Wahlkampf 2014 zeigte eine Meldung die gewachsene Bedeutung ihrer Firma:  JBS Friboi war zum größten Spender für Dilma Rousseff aufgestiegen und  hatte damit dem Baukonzern Odebrecht vom ersten Platz der Spenderliste  verdrängt.
 Die Spendierfreudigkeit ist nachvollziehbar: Der Aufstieg der  Batista-Brüder wurde durch großzügige Kredite der staatlichen  Entwicklungsbank BNDES ermöglicht. Umgerechnet etwa 2,5 Milliarden Euro  flossen in die Kassen von JBS Friboi und ermöglichten es den Brüdern,  auf weltweite Shoppingtour zu gehen und ihr Imperium zusammenzukaufen.  Die Ermittlungen der Justiz zeigten nun, dass bei diesen Kreditzusagen  die Regeln der Bank extrem flexibel gehandhabt wurden. Zudem geriet der  Konzern in den Fokus einer anderen Ermittlung, die sich mit  Schmiergeldzahlungen an Kontrolleure von Schlachtäusernbeschäftigt und  dabei belastendes Material gegen JBS und andere Schlachthausketten  offenlegte.
 Im Rahmen einer Kronzeugenregelung haben die Brüder Batista im März eine  Unterhaltung mit Temer aufgezeichnet, bei der er sie anscheinend  ermutigt, das Schweigen des inhaftierten ehemaligen Präsidenten der  Abgeordnetenkammer, Eduardo Cunha, durch Geldzahlungen zu sichern.
Auch der Oppositionspolitiker Aécio Neves, bei den letzten  Präsidentschaftswahlen nur knapp unterlegen, wird durch die Mitschnitte  der Brüder schwer belastet: Unverhohlen forderte er zwei Millionen Reais  von ihnen. Aécios politische Karriere ist nun jäh beendet, er verlor  den Vorsitz der rechten PSDB und sein Mandat im Senat.
 Temers Tage schienen ebenfalls gezählt, aber der schwer angeschlagene  Präsident hält sich an seinem Posten fest, denn er hat einiges zu  verlieren. Das Amt garantiert ihm Immunität. Allgemein wird angenommen,  dass der Politiker der rechten Partei PMDB gute Chancen hat, nach Ende  der Amtszeit seine politische Karriere im Gefängnis zu beenden. Seit  auch der mächtige Fernsehsender Globo offen das Ende Temers als  Präsident fordert, ist sein politisches Überleben bis zum regulären  Wahltermin im Oktober 2018 mehr als fraglich.
 Am 9. Juni verkündete das Oberste Wahlgericht seine Entscheidung über  die Gültigkeit der Finanzen der gemeinsamen Wahlkampagne der  Arbeiterpartei PT und der damals verbündeten PMDB aus dem Jahr 2014.  Der Antrag des Berichterstatters vor Gericht lautete, diese Wahlkampagne  und somit das Wahlergebnis wegen illegaler Wahlkampffinanzierung für  ungültig zu erklären – damit wäre auch die Wahl des Vizepräsidenten  Temer ungültig und er des Amtes enthoben. Ein solche Entscheidung hätte  sogar noch als eine Art „ehrenvoller Abgang“ für Temer gelten können,  weil er die Hauptschuld auf Dilma Rousseff und ihre Arbeiterpartei hätte  schieben können. Dann aber kam die Überraschung. Eigentlich ging die  Mehrheit der Beobachter*innen davon aus, dass Temer vom Gericht aus dem  Amt gejagt werden würde, denn selbst in konservativen Medien galt er  mittlerweile als untragbar.
 Aber Temers Rückhalt bei der Mehrheit der sieben Richter*innen erwies  sich als stark genug. Mehrere Richter*innen argumentierten zur  Überraschung vieler, dass die Aussagen der Belastungszeug*innen ja nur  Aussagen seien, so dass deren Wahrheitsgehalt nicht erwiesen sei. Monate  zuvor galt in der Justiz oft das Gegenteil, meist wenn es um Aussagen  zu Korruption bei PT-Politiker*innen ging. Viele Beobachter*innen sind  sich sicher, dass das Urteil anders gelautet hätte, wenn Rousseff als  noch amtierende Präsidentin vor dem Wahlgericht gestanden hätte.  Der  Journalist Juca Kfouri hatte angesichts der richterlichen  Mehrheitsabstimmung mit vier zu drei Stimmen nur ein Urteil übrig.  „Dieses 4:3 ist beschämender als das 1:7.“, sagte Kfouri mit Bezug auf  den Traumakick für Brasilien bei der Fußball-WM im eigenen Land.  Temer  wird man offensichtlich nicht so leicht los.
 Nicht nur beschämend, sondern zutiefst verstörend wirken die Interessen  und Intrigen im politischen Labyrinth Brasiliens der letzten Jahre.  Jedenfalls gibt es keine leichte Orientierung. Unbestritten ist, dass  die Korruptionsermittlungen der brasilianischen Justiz und der  Bundespolizei zu einem entscheidenden und neuen Faktor in der  brasilianischen Politik geworden sind. „Lava Jato“ – wörtlich  Hochdruckreiniger, in Brasilien ein Synonym für Autowäsche – ist der  Name für die inzwischen fast unüberschaubar gewordenen Ermittlungen.  Brasiliens Linke sieht darin politischen Missbrauch und kritisiert  deswegen insbesondere den exponierten Richter Moro, der einseitig die  Arbeiterpartei PT und ihre Bündnispartner verfolge. „Lava Jato“ hatte  aber auch von Anfang an die mit dem politischen System verbundenen  Unternehmen im Visier.
Eine staunende Öffentlichkeit konnte der Verhaftung der reichsten und  mächtigsten Männer des Landes zuschauen. So sitzen die Eigentümer des  international agierenden Baukonzerns Odebrecht genauso im Gefängnis wie  der ehemalig reichste Mann des Landes, Eike Batista, der wegen seiner  deutschen Abstammung auch hierzulande als aufstrebender Unternehmer  gefeiert worden war.
 Nur das politisch entscheidendste Ereignis der letzten Jahre, der Sturz  der gewählten Präsidenten Dilma Rousseff, hatte nichts mit den  Ermittlungen von „Lava Jato“ zu tun: ihr wurden Manipulationen des  Haushalts vorgeworfen – zweifelhafte  haushaltstechnische Manöver,  bei denen sich niemand bereicherte. „Lava Jato“ spielte aber die  mächtige Hintergrundmusik, die das Amtsenthebungsverfahren erst  ermöglichte. Es schuf das politische Umfeld und forcierte den  Vertrauens- und Legitimationsverlust der Regierung.
 Mit der Amtsübernahme Temers kehrte keine Ruhe ein, stattdessen wurde  bald die Absurdität des Verfahrens selbst für die deutlich, die für die  Amtsenthebung Dilmas auf die Straße gegangen waren: Eine durch und durch  korrupte politische Klasse hatte sich einer ungeliebten Präsidentin  entledigt und damit eine noch stärker durch Korruptionsvorwürfe  belastete Regierung ins Amt gebracht. Nach ständig neuen Enthüllungen  musste ein Minister und Berater Temers nach dem anderen den Dienst  quittieren.
 „Lava Jato“ mag als eine gezielt lancierte und missbrauchte Ermittlung  begonnen haben. Inzwischen hat es sich aber zu einer stetig anwachsenden  und mit neuen Enthüllungen aufwartenden Lawine entwickelt, die das  gesamte politische und ökonomische System Brasiliens trifft. Dies wurde  spätestens offensichtlich, als der Richter Edson Fachin aufgrund der  Odebrecht-Aussagen eine Liste von 76 Politiker*innen veröffentlichte,  gegen die Anklage erhoben werden soll. Führende Vertreter*innen aller  Parteien, auch der Opposition, finden sich auf der Liste.
 Die vorläufige Bilanz von „Lava Jato“ ist verwirrend: Politiker*innen  und Unternehmer*innen, die der Korruption und illegaler Parteispenden  beschuldigt werden und dieses Vergehen auch zum großen Teil gestanden  haben, sitzen im Gefängnis. Eine unerhörte Tatsache in einem Land, in  dem die Straflosigkeit für die Eliten immer ein Schlüsselwort der  politischen Debatten war. Andere, wie die Gebrüder Batista vom  Fleischkonzern JBS, hingegen waren so schlau, rechtzeitig die  Kronzeugenregelung in Anspruch zu nehmen, eine Strafzahlung zu  akzeptieren – und nun in den USA zu leben. Zum anderen hat „Lava Jato“  aber auch dazu geführt, dass eine unbequeme linke Regierung ausgerechnet  durch die korruptesten Teile der brasilianischen Elite gestürzt wurde.
 Der Politikwissenschaftler Carlos Melo vergleicht die Situation  Brasiliens mit einem Labyrinth, in dem der unbesiegte Minotaurus – das  durch und durch korrupte politische System – allgegenwärtig bleibt. Und  weder ist ein Faden der Ariadne, noch ein moderner Theseus in Sicht. In  einem Labyrinth kann man sich viel bewegen ohne voranzukommen – genau  das scheint heute in Brasilien zu passieren. „Lava Jato“ hat das  politische System Brasiliens gründlich aufgemischt, aber eine  Perspektive ist nicht sichtbar.
 Doch die Linke Brasiliens – oder zumindest große Teile davon – wollen  nun doch ein Licht sehen, das zum Ausgang des Irrgartens weist. Die  Linke vereinigt sich wieder unter der Forderung nach sofortigen  Direktwahlen. Und Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva liegt in allen  Umfragen vorne. Die durch „Lava Jato“ verfestigte Gewissheit, das  gesamte politische System sei korrupt, stärkt kurioserweise den  Ex-Präsidenten und seine Arbeiterpartei. Dient Korruption nicht mehr als  Unterscheidungsmerkmal, bleibt das Votum für einen Präsidenten, der  immerhin wichtige Botschaften in Sachen Sozialpolitik und  Armutsbekämpfung hinterlassen hat. Und selbst für viele PT-kritische  Linke scheint die Perspektive Lula der einzige Ausweg aus dem jetzigen  Höllental zu sein. Über die Zukunft nach der Krise nachzudenken, dafür  ist es wohl noch zu früh.
