Informationen zur aktuellen Situation des Projektes zur Umleitung des Rio São Francisco

Am 15. Dezember 2005 kam es zum Gespräch zwischen Präsident Lula und Bischof Fr. Luiz Flavio Cappio. Außerdem waren VertreterInnen der Regierung, der Basisorganisationen und der Kirche anwesend.
| von Maria Oberhofer, Harald Schistek (IRPAA)

Die Basisorganisationen hatten vorher drei Dokumente ausgearbeitet, welche die negativen Auswirkungen einer Umleitung des Flusses aufzeigen und ein umweltgerechtes Entwicklungskonzept für das Einzugsgebiet des Rio São Francisco und für die semi-aride Region Brasiliens als Ganzes darstellen. Es folgt eine Zusammenfassung der Dokumente, die dem Präsidenten überreicht wurden:

Die Problematik des von der Regierung vorgeschlagenen Ableitungsprojektes

  • Es ist sozial ungerecht: Die 1,7 Milliarden Euro Anfangskosten sind gewaltig und bindend. Staatliche Mittel für weitere angepasste Investitionsmaßnahmen im semi-ariden Gebiet werden für viele Jahre fehlen. Das Projekt erreicht nicht die Familien, die wirklich Wasser benötigen, sondern ist in erster Linie bestimmt für Bewässerungsprojekte, Shrimpszucht und Industriebedarf.
  • Die räumliche Ausdehnung ist ungerecht: Es wird im Höchstfall ein Gebiet von 7% der semi-ariden Region erreichen. Über 90% der zumeist zerstreut lebenden Bevölkerung wird weiterhin nur unzureichenden Zugang zu Wasser haben.
  • Es gibt ausreichend Wasser im Zielgebiet der Ableitung: im Norden des semi-ariden Gebietes hat z.B. der nördliche Bundesstaat Ceara ein Wasserpotenzial, das viermal den gegenwärtigen Wasserbedarf decken würde.
  • Das Projekt der Ableitung manipuliert und verschweigt offizielle Daten und Informationen: Für die Berechnung des Wasserangebotes im Einzugsgebiet des São Francisco wurden andere Kriterien verwendet, als für das Zielgebiet der Ableitung. Das Potenzial unterirdischer Wasservorräte wurde nicht berücksichtigt.
  • Das Ableitungsprojekt bringt keinen sozialen Fortschritt und keine nachhaltige Entwicklung für den Nordosten: Das Projekt bringt einen Rückschritt im nachhaltigen Entwicklungskonzept, das seit Jahren in der Region verfolgt wird. Vor allem wird der Demokratisierung des Zugangs zu Wasser und der partizipativen Verwaltung der Wasserquellen nicht Rechnung getragen. Das abgeleitete Wasser hätte einen fünfmal höheren Preis als derzeit. Zur Kasse gebeten werden soll die urbane Bevölkerung, die durch eine signifikante Preiserhöhung die Rentabilität von Bewässerung- und Shrimpsproduktion übernehmen muss.
  • Hinter dem Ableitungsprojekt steht eine starke Lobby, die auf Begünstigungen aus dem Bauprojekt und der Produktion aus ist: In der Tat sollen die Wasserkanäle dutzende bis hunderte Kilometern entfernt von den wahrhaft bedürftigen Regionen der Gegend verlegt werden.
  • In dem Ableitungsprojekt wird dem wirtschaftlichen Bedarf Vorzug gegeben, statt den gesetzlichen Bestimmungen zu folgen, das Wasser erstrangig für den menschlichen und tierischen Bedarf zu nutzen.
  • Das Projekt verletzt die verfassungsgemäß garantierten Rechte der angestammten Bevölkerung: der 34 Indianerstämme, 156 Quilombogemeinden und die der unzähligen UferbewohnerInnen.
  • Die Vorgehensweise der Regierung ist von Willkür gezeichnet: Der von der Regierung bezeichnete Dialog war nichts anderes als die Vorstellung des fertigen Projektes. Kritiken und Vorschläge zur Änderung seitens der Zivilgesellschaft wurden nie akzeptiert.

Grundelemente eines nachhaltigen Entwicklungskonzeptes für das semi-aride Gebiet, im Rahmen der Konviventia mit dem semi-ariden Klima.

  • Das semi-aride Gebiet benötigt eine Wasserreform, die das Wasser der schon vorhandenen 70.000 Staudämme demokratisiert und die Wasserversorgung der ländlichen und städtischen Bevölkerung der Landkreise im Einzugsgebiet des São Franciscos sichert. Das Oberflächenwasser und die unterirdischen Vorräte müssen nachhaltig genutzt und die Wasserverschwendung bei der Verteilung vermieden werden. Bereits benutztes Wasser kann wieder verwendet werden, das effiziente Auffangen des Regenwassers wird das Angebot erhöhen - vom jährlichen Niederschlag von 750 Milliarden m³ werden bisher nur 30 Milliarden m³ genutzt.
  • Eine neue Art von Landreform wird benötigt, die den größeren Landbedarf in der semi-ariden Region berücksichtigt. Die großen, in staatlicher Hand befindlichen Grundflächen, sind mit einzubeziehen. Es müssen günstige Kredite für die Familienlandwirtschaft und Landreformprojekte bereitgestellt werden. Außerdem muss eine Entwicklungspolitik, die auf der Konviventia mit dem semi-ariden Klima aufbaut, begonnen werden. Es bedarf der Vermessungen und grundbuchmäßigen Eintragungen des Landes der indianischen Urbevölkerung und der Quilombogemeinden, der Uferbevölkerung sowie der traditionellen kollektiven Weideflächen.
  • Sozio-kulturelle Aspekte: Wir benötigen eine neue Dynamik, welche die Interessen der lokalen Bevölkerung in Betracht zieht und die auf die Vielfältigkeit der ethnischen und kulturellen Geschichte eingeht. Bei der Ausarbeitung von Entwicklungsprogrammen, Projekten und Forschungsvorhaben müssen die Interessen der traditionellen Landgemeinden und deren Autonomie geachtet werden. Außerdem bedarf es Projekte im Pädagogik- und Schulbereich, die von der kulturellen, sozialen und ökologischen Realität ausgehen und nicht von außen her aufgezwungen werden.
  • Die gesamte Struktur der Regierung, Gesetzgebung, Exekutive und Rechtsprechung muss in harmonischer Weise ein auf das Trockengebiet abgestimmtes Entwicklungsprogramm planen und durchführen. Dazu muss ein permanenter Entwicklungsrat der semi-ariden Region, unter Teilnahme der Staatsregierung und der Basisorganisationen, geschaffen und mit den entsprechenden Finanzmitteln ausgestattet werden.
  • Die biologische Vielfalt der heimischen Pflanzen- und Tierwelt muss geschützt und darf nur nachhaltig genutzt werden. Schutzgebiete müssen ausgewiesen, das Ökosystem darf nicht durch den Anbau von Monokulturen oder nicht angepasster Pflanzen zerstört werden. Einheimische Pflanzen und Tiere müssen erforscht und die Nutzungsmöglichkeiten überprüft werden.
  • Energiegewinnung: Es bedarf einer sauberen, dezentralen und nachhaltigen Energiegewinnung zur Sicherung der permanenten Autonomie, z.B. über Sonnenenergie, Biomasse etc.
  • Die Degradation von Landflächen muss abgefangen und desertifizierte Gebiete müssen wieder hergestellt werden. Durch nicht angepasste Technologien und Maßnahmen, z.B. Rinderzucht, Abholzung zum Anbau von Futterpflanzen für Rinder, Brandrodung und Großbewässerungsprojekte, befinden sich große Flächen im Desertifizierungs- und Degradierungsprozess. Vorschläge und Projekte in dieser Richtung dürfen nur in partizipativer Art erstellt und unter sozialer Kontrolle durchgeführt werden.

Gespräch mit dem Präsidenten
Bei dem Gespräch wurde seitens des Präsidenten und der Regierungsvertreter (Minister der Integration, Ciro Gomes und Minister für interne Angelegenheiten, Jaques Wagner) auf die Notwendigkeit des Projektes hingewiesen und die Ableitung als notwendiges Entwicklungsprojekt für die semi-aride Region dargestellt.
Der Bischof Fr. Luiz und VertreterInnen der Basisorganisationen und Kirche bekräftigten jedoch, dass das semi-aride Gebiet eines Entwicklungskonzeptes bedarf, das die nachhaltige Entwicklung für die Bevölkerung und die Region sichert und Rechte der Familien garantiert.
Starke Kritik wurde seitens des Bischofs und der Basisorganisationen geäußert, weil es bei dem Ableitungsprojekt von Anfang an keinen Dialog gab und keine umfassende, transparente und partizipative Diskussion mit der Zivilgesellschaft und den Basisorganisationen stattfand - so wie es von der Regierung behauptet wird. Außerdem wurden bereits die ersten Bauarbeiten (durch Soldaten von Pioniereinheiten - trotz gegenteiliger richterlicher Entscheidung) begonnen; die Zivilgesellschaft wurde nicht darüber informiert.
Eine entscheidende Vereinbarung, die zwischen dem Regierungsvertreter und dem Bischof in Cabrobó getroffen wurde und die u.a. zur Beendigung des Hungerstreiks führte, war die Zusicherung, dass es zu einem umfassenden Dialog und Diskussion kommen würde.
Jetzt wurde klar, dass die Regierung in keinem Moment daran dachte, dass Projekt neu zu diskutieren. Das Projekt sollte wie geplant durchgeführt werden. Der Baubeginn war für spätestens Januar/Februar 2006 vorgesehen.
Präsident Lula behauptete, dass am Anfang der Planung des Ableitungsprojektes im Auftrag der Regierung eine Umwelt- und Verträglichkeitsprüfung stattgefunden habe. Außerdem bestätigte er, dass das Projekt noch umfangreicher ist, denn es plant auch die teilweise Ableitung des Wassers des Tocantins zum Rio São Francisco- und zum Rio Parnaiba.
Den Bau von Regenwasserzisternen dagegen versteht der Präsident Lula nur als zusätzliche Maßnahme zur Ableitung.
Am 21.12.2005 hat der oberste Bundesgerichtshof die Genehmigung für den Bau der Ableitung des Wassers aus dem Rio São Francisco aufgehoben. Dies bedeutet, dass die Regierung jetzt nicht stillschweigend in den Ferien und Karnevalsmonaten den Bau beginnen kann. Es muss eine neue Ausschreibung gemacht werden und die interessierten Bauunternehmen müssen neue Projektvorschläge einreichen. Mit der Entscheidung des obersten Bundesgerichtshofes erleidet das Projekt der Ableitung jetzt eine signifikante Verzögerung und kann frühestens ab März 2006 begonnen werden. In diesem Jahr ist Präsidentschaftswahl, so dass sich manches noch ändern kann.