Die Verdammung Amazoniens - Eine Analyse der aktuellen Staudammprojekte

Allein in den nächsten zwei Jahren will die brasilianische Regierung 296 Mrd. US-$ in gigantische Infrastrukturprojekte stecken, wovon die prominentesten sicherlich die Staudammprojekte in Amazonien sind, v.a. die am Rio Madeira und Rio Xingu.
| von Keno Tönjes

Gleichzeitig sind sie auch diejenigen Projekte, bei denen der Konflikt zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und sozialen bzw. ökologischen Belangen am deutlichsten ausgeprägt ist. Seit 1970 sind keine größeren Staudämme mehr gebaut worden. Die letzten, Tucuruí und Balbina, hatten tausende Vertriebene, Hunger und tote Flüsse zur Folge. Die neuen Staudämme sollen billige Energie und Jobs für eine expandierende Wirtschaftsmacht Brasilien bringen.

Seit der Wahl Lulas zum Präsidenten im Jahre 2003 tauchen diese Großprojekte wieder aus der Versenkung auf. Letztes Jahr hat Brasilien die letzten Schulden abbezahlt, das Land gilt als kreditwürdig und die boomende Wirtschaft hat die Staatskasse prall gefüllt. Man ist für solche Projekte also nicht mehr von Weltbank und ausländischen Krediten abhängig. Laut Energie-Planungsdirektor Maurício Tolmasquim sollte Brasilien seine Stromkapazität bis 2030 etwa verdoppeln. Neue Staudämme in Amazonien sollen 80% der erforderlichen 100.000 MW produzieren. Das entspricht etwa 60-70 neuen Großstaudämmen, von denen 40% auch Indigenenreservate und andere Schutzgebiete betreffen würden. Tolmasquim beklagt sich, dass Staudammprojekte bereits jetzt verzögert würden, weil Indigene die Vermesser nicht auf ihr Land ließen. In der nachfolgenden Analyse wollen wir einen Überblick über den aktuellen Stand der verschiedenen Staudammprojekte geben.

Staudammprojekt Belo Monte, Rio Xingu
Am Rio Xingu im Nordosten von Pará soll nach dem Willen der Regierung für 4,3 Mrd. € der drittgrößte Staudamm der Welt entstehen. Das ursprüngliche Projekt aus den 80er Jahren hatte etwa 1250 km² Regenwald überfluten sollen. Damals hatte es starke nationale und internationale Proteste hervorgerufen. Bei einer spektakulären Großveranstaltung in 1989 Altamira hatte die Kayapó-Kriegerin Tuira ihr Buschmesser gezückt und dem damaligen Eletrobrás-Vertreter und heutigen Eletrobrás-Präsidenten José Antonio Muniz Lopes eine Machete warnend an den Kopf gehalten. Nach dieser Protestaktion zog damals die Weltbank ihre Kreditzusage zurück und das Projekt verschwand zunächst in der Schublade.
Mit einer Spitzenkapazität von 11.200 Megawatt oder 6,3% des brasilianischen Strombedarfs ist auch das Nachfolgeprojekt noch riesig; fast doppelt so groß wie die beiden Madeira-Staudämme zusammen. Nur der Dreischluchten-Staudamm in China und der Itaipu-Staudamm an der Grenze zu Paraguay sind größer. Bietprozess und Baubeginn sind für Ende 2009 geplant, das Kraftwerk soll dann 2014 in Betrieb gehen, um den industriellen Südosten, den sich schnell entwickelnden Nordosten sowie die Freihandelszone um Manaus mit billigem Strom zu versorgen. Der Energieminister Edison Lobão bezeichnet das Projekt als "unumkehrbar". Es ist zentral für die wirtschaftlichen Wachstumspläne der Regierung, weshalb es auch das größte brasilianische Infrastrukturprojekt der nächsten 25 Jahre ist.
Etwa die Hälfte des Jahres, während der Trockenzeit, wird der Staudamm aufgrund geringer Wassermengen weniger als 10% seiner Spitzenkapazität an Strom produzieren, was ihn der NGO International Rivers zufolge zum ineffizientesten Wasserkraftwerk der Welt machen würde. Zumindest, wenn es wie von der Regierung versprochen bei dieser einen Staustufe bleibt. Kritiker befürchten deshalb den Bau weiterer Staudämme am Xingu. Offiziell rückte das Energieministerium aber von seinen ursprünglichen Plänen von vier Staudämmen mit insgesamt 14.700 MW ab, um die Umweltlizensierung zu beschleunigen.

 

Xingu

 

In der ganzen Region ist die Stimmung gereizt. Die Indigenen befürchten, dass 16.000 von ihnen ihre Heimat verlieren, dass 440 km² Urwald überflutet und die Fischbestände sterben werden, dass sie mit der Überflutung ihrer Dörfer bzw. der Austrocknung von Flüssen auf über 100 km ihre Lebensgrundlage verlieren und dass die übrigbleibenden Urwälder von tausenden von Siedlern und Holzfällern vernichtet werden. Andere, kleinere Staudämme haben ihnen gezeigt, welche Folgen solche Projekte haben können und dass die Regierung die Indigenen nicht an den Entscheidungen beteiligt. Die Ureinwohner fühlen sich in ihrer Existenz bedroht und von der Regierung an die Wand gedrängt. Und sie wollen sich wehren.
Am 21. Mai versammelten sich in Altamira mehr als 800 Indigene von 26 verschiedenen Stämmen für ein fünftägiges Treffen, um gegen den geplanten Staudamm zu protestieren. Als Vertreter von Eletrobrás versuchte Paulo Fernando Rezende, das Staudammprojekt zu verteidigen. In einer flotten Powerpoint-Präsentation vor mit Keulen und Macheten bewaffneten Indigenen in schwarzer, zeremonieller Körperbemalung stellte er die Vorteile des Staudamms dar und versprach ihnen Studien über die Auswirkungen des Dammes unter Beteiligung der Indigenenbehörde FUNAI. Das Publikum reagierte höhnisch: Die FUNAI sieht sich laufend Korruptionsvorwürfen ausgesetzt. Unbeirrt fuhr Rezende fort: „Wenn wir dieses Wasserkraftwerk stoppen, stoppen wir Brasilien. Wer hat den Mut zu sagen, diese Dämme sind schlecht?“ Roquivan Alves Silva von der Bewegung der Staudammopfer (MAB, Movimento dos Atingidos por Barragens) nahm das Mikrofon und sagte: „Wenn es nötig ist, werden wir in den Krieg ziehen, um den Xingu zu verteidigen.“ Daraufhin erhoben sich Dutzende Kayapó unter Kampfgeschrei, stürzten sich auf Rezende, warfen ihn zu Boden und rissen ihm das Hemd vom Leib. Eine Machete fuhr in seinen rechten Oberarm. Bischof Erwin Kräutler, der Schirmherr der Veranstaltung, ging dazwischen. Minuten später wurde Rezende mit blutverschmiertem Oberkörper aus der Halle geführt, er verschwand mit einem „Ich bin okay, ich bin okay“ in einem Wagen. Ein Triumphtanz folgte. Frauen zerschnitten das Hemd und zündeten es an. „Die Attacke war eine Warnung an die Regierung“, sagte Kazike Siranha von den Kayabi. Rezende wurde nach kurzer Behandlung wieder aus dem Krankenhaus entlassen und verzichtete auf eine Anzeige. Die Eletrobrás verurteilte den Vorfall und ließ verlauten, dass man sich in der Planung nicht von Protesten abschrecken ließe. Ein zwei Tage später vorgesehener Protestmarsch wurde von den Veranstaltern aus Angst vor Gewalt abgesagt.
Die Kayapó-Kriegerin Tuira, die wieder beteiligt war, sagte den Medien: „Wir verteidigen die Bäume, die Vögel, die Fische und alles, was im Fluss und den Wäldern lebt. Wir werden dies weiter verteidigen und wir werden diese Nachricht zu allen Brasilianern bringen.“ Auch die offizielle Abschlusserklärung des Altamira-Treffens sprach sich klar gegen alle Staudammprojekte am Xingu aus: „Unsere Kultur, unsere Spiritualität und unser Überleben sind tief mit dem Xingu verwurzelt, und wir hängen auf Leben und Tod von ihm ab. (...) Wir, die wir unseren Xingu verteidigt haben, akzeptieren weder die Unsichtbarkeit, mit der sie uns ihre Entscheidungen aufdrücken wollen, noch die verächtliche Art, mit der wir von öffentlichen Beamten behandelt werden. (...) Wir verlangen Respekt.“
Die Regierung ist entschlossen, das Staudammprojekt Belo Monte mit allen Mitteln durchzusetzen. Die Kayapó sind entschlossen, den Staudamm mit allen Mitteln, einschließlich kriegerischen, zu verhindern. Das Militär baut eine 500-Mann starke schnelle Eingreiftruppe für Amazonien auf. Ein blutiger Krieg für eine laut Regierung „saubere Energie“ kann nicht mehr ausgeschlossen werden. "Wenn Belo Monte durchgeht, gibt es in Amazonien kein Halten mehr", meint Umweltaktivist Glenn Switkes von International Rivers. Andererseits hat der Widerstand hier auch die besten Chancen, eine Wende bei der bislang ungehinderten Infrastrukturpolitik für Amazonien (PAC) herbeizuleiten.

Die Staudammprojekte Jirau und Santo Antônio, Rio Madeira
Die beiden Staudämme am Rio Madeira sind Teil des brasilianischen "Wirtschaftsprogramms zur Beschleunigung des Wachstums" PAC und, zusammen mit den ursprünglich geplanten beiden Staudämmen auf bolivianischer Seite, Teil der Initiative zur Integration Regionaler Infrastruktur in Südamerika (IIRSA). Die Staudämme sollen gebaut werden, ohne dass ein Entwicklungsplan für den Bundesstaat Rondônia existiert. Alternativen zum Bau neuer Kraftwerke (Energiesparpotential, dezentrale Energiegewinnung, Modernisierung alter Kraftwerke und Leitungen) wurden bei der Planung ebensowenig berücksichtigt wie die Meinung der betroffenen Bevölkerung. Die indigene Bevölkerung hat ihre Ablehnung des Projektes deutlich gemacht, das ihren Lebensraum überschwemmen würde und die Zwangsumsiedlung von 3.000 Indigenen zur Folge hätte. Auch der Dachverband der Umwelt- und Sozialverbände (FBOMS) hat schon 2006 in einem offenen Brief vor den ökologischen und sozialen Auswirkungen des Projektes gewarnt, auch durch den zu erwartenden Ausbau des Sojaanbaus bei der Erweiterung der Wasserstraße. Experten rechnen mit Artenverlusten bei Fischen, verstärkter Malaria sowie massiver Entwaldung durch ausgedehnten Sojaanbau. Laut Roberto Smeraldi von Amigos da Terra werden die beiden Projekte 20.000 Bauarbeiter und weitere 100.000 „Glückssucher“ in die Region ziehen, mit allen damit verbundenen negativen Folgen für Umwelt und Kriminalität. Die Umweltbehörde IBAMA weigerte sich lange, die notwendigen Umweltlizenzen für den Bau zu vergeben. Lula wechselte daraufhin die verantwortlichen Beamten aus und reformierte die IBAMA, so dass Umweltlizenzen jetzt schneller vergeben werden können.  Madeira
Besondere Brisanz erhalten die Staudammprojekte durch Konflikte mit Bolivien, auf dessen Staatsgebiet eigentlich zwei weitere Staudämme gebaut werden sollen (siehe Karte oben). Unabhängige Studien gehen davon aus, dass der Jirau-Stausee die doppelte der angegebenen Größe erreichen wird und damit große Teile auf bolivianischer Seite überschwemmen wird. Die brasilianische Regierung bestreitet diese Möglichkeit, auch wenn dies in der offiziellen Umweltverträglichkeitsstudie gar nicht untersucht wurde. Dies hat im letzten Jahr zu diplomatischen Unstimmigkeiten zwischen den Ländern geführt, die bis heute nicht ausgeräumt sind. Bolivien besteht auf ausführlichen Umweltverträglichkeitsstudien, um mögliche Schäden auszuschließen, Brasilien beharrt auf seiner Souveränität und hat beide Staudammkonzessionen bereits vergeben. Bolivien hat sich im Dezember 2006 auf eine alte Vereinbarung von 1990 berufen, die Brasilien bei Wasserprojekten im Grenzbereich mit Bolivien zur Abstimmung verpflichtet. Brasilien akzeptiert diese Vereinbarung, sieht aber Grenzen bei Konzessionen gegenüber dem Nachbarn. Bolivien besteht weiterhin auf neuen Umweltverträglichkeitsstudien, um die obengenannte Gefahr der Überschwemmung großer Teile des bolivianischen Grenzgebietes offiziell zu untersuchen. Das Madeira-Projekt war im Februar 2007 auch Thema beim Staatsbesuch des bolivianischen Präsidenten Evo Morales in Brasilien, der Konflikt konnte aber bislang noch nicht gelöst werden. Beobachter sehen in dem Streit eine weitere Belastung im Verhältnis Bolivien/Brasilien nach der unabgestimmten Verstaatlichung von Ölbetrieben letztes Jahr durch Morales. Das Wort vom „brasilianischen Imperialismus“ macht unter den Nachbarstaaten wieder die Runde.
Im Dezember hatte ein Konsortium unter Leitung des brasilianischen Stromversorgers Cemig (Companhia Energética de Minas Gerais) die Konzession für den Bau des 3.150 MW Santo-Antônio-Staudamms bekommen. Außerdem im Konsortium sind Furnas (eine Eletrobras-Tochter), Santander aus Spanien, Banif aus Portugal sowie die Baukonzerne Odebrecht und Andrade Gutierrez. Der Staudamm soll zur Fertigstellung im April 2012 4% des brasilianischen Stroms produzieren, der dann allerdings über tausende Kilometer lange Stromleitungen zu den Endverbrauchern geschafft werden muss. Für deren Bau liegt noch keine Umweltverträglichkeitsstudie vor. Das ursprünglich auf 5,3 Mrd US-$ geschätzte Projekt wurde im Mai schon auf 7,4 Mrd. US-$ korrigiert. Der Baubeginn hat bereits zu starken Rodungen geführt, die Entwaldung nahm in der zweiten Jahreshälfte 2007 um 600% zu (295 km² im September 2007, 42 km² im September 2006). Die NGO International Rivers hat Einspruch gegen die vorläufige Umweltlizenz eingelegt, da bei der Umweltplanung des Projektes wesentliche Aussagen über Auswirkungen auf die Gesundheit der Bevölkerung (u.a. Malaria), auf die Indigenensiedlungen und die Natur fehlen. Außerdem soll laut Plan die Schutzzone um den Stausee illegal von 500 m auf 30 m reduziert werden.

 

Madeira2

 

 

Am 19. Mai gewann ein Konsortium unter Führung des französischen Strom- und Wasserversorger Suez die 5,3 Mrd. US-$ Konzession zum Bau des 3.300 MW Jirau-Staudamms. Außerdem sind zwei Töchter von Eletrobras und die Baugruppe Camargo Correa am Konsortium beteiligt. Der Staudamm soll 2013 fertiggestellt werden. Obwohl laut Vertrag 70% des Stroms 45% unter Marktpreis an den lokalen Energieversorger verkauft werden müssen, erhofft sich das Konsortium einen guten Profit. Die unterlegenen Bieter haben Einspruch gegen den Zuschlag angemeldet, weil die technischen Dokumente des gegnerischen Antrags nicht korrekt seien. Auch bei diesem Staudammprojekt wird mit steigenden Kosten gerechnet, so dass die derzeit prognostizierten Gesamtkosten für beide Staudämme zu 129% über denen des ursprünglichen Projektplanes von 2003 liegen. Das Geld stammt zu einem großen Teil (75% des Santo-Antônio-Staudamms) aus Mitteln der brasilianischen Entwicklungsbank BNDES, die sie wiederum zu fast 50% aus dem Arbeiterunterstützungsfonds (FAT) erhält.

Weitere Staudämme
Im Juni wurden die Gelder für fünf Staudämme am Rio Juruena in Mato Grosso kurzzeitig zurückgehalten, weil keine gültigen Umweltlizenzen vorlagen. Gouverneur Blairo Maggi bat den Generalstaatsanwalt um Freigabe der Gelder. Einen Interessenskonflikt, weil seine eigene Baufirma weitere vier Staudämme am selben Fluss bauen will, sah Maggi nicht. Wenige Tage später wurden die Umweltlizenzen vom Gericht zugelassen und die Gelder freigegeben. Jetzt werden von der Bundespolizei Unregelmäßigkeiten bei der Umweltverträglichkeitsstudie für Stromleitungen in Mato Grosso untersucht, da der Bericht offensichtlich manipuliert wurde und Falschaussagen enthält.
Kurze Zeit später wurde auf Antrag der IBAMA die Baugenehmigung für den Estreito-Staudamm an der Grenze zwischen Tocantins und Maranhão ausgesetzt, weil keine vollständige Umweltverträglichkeitsstudie vorlag. Der Richter ordnete auch neue öffentliche Anhörungen an. Am Baukonsortium ist auch der französische Energie- und Wasserversorger Suez beteiligt, der den Zuschlag für den Bau des Jirau-Staudamms erhalten hat. Kurze Zeit später hob ein Bundesrichter den Baustopp wieder auf, da für ihn die Umweltverträglichkeitsstudie ausreichend und der Bau des Staudamms von wirtschaftlicher Bedeutung sei. Jede derartige wirtschaftliche Aktivität sei mit Umweltschäden verbunden und die IBAMA eben zu parteiisch. Der Staudamm soll ab August 2010 1.000 MW Strom erzeugen. Das Marabá-Staudammprojekt am Rio Tocantins, das sich gerade in der Genehmigungsphase befindet, würde die Umsiedlung von 40.000 Brasilianern einschließlich der Bewohner des Indigenenreservates Gavião nötig machen, die größte Vertreibung von Anwohnern seit der Militärdiktatur.  

Fazit
Die großen Staudammprojekte sind auf vielfältige Weise problematisch. Sie vertreiben tausende Menschen aus ihrer Heimat, in der Regel ohne ausreichende Entschädigung. Sie überschwemmen oft große Flächen Indigenenland (zum Teil auch von unkontaktierten Indigenengruppen) oder trocknen ihre Flüsse aus, entziehen ihnen also in jedem Falle die Lebensgrundlage. Der Bau selbst, die Flutung des Stausees, die Erschließungsstraßen und die nachfolgenden Siedler, Landspekulanten und Holzfäller zerstören großflächig Regenwald und tragen damit zu Artensterben und Klimawandel bei. Die mangelnde Infrastruktur für die unkontrolliert zuwandernden Menschen führt zu Elend, Kriminalität und dem Zusammenbruch der öffentlichen Versorgung. Umweltverträglichkeitsstudien und die Beteiligung der lokalen Bevölkerung an den Entscheidungen sind fast immer mangelhaft. Stattdessen werden Entscheidungen für ganze Regionen zugunsten von Wirtschaftsinteressen der industriellen Stromverbraucher im Südosten und Baukonsortien getroffen. Dies entspricht der Privatisierung der Regionalplanung, auf Kosten der lokalen Bevölkerung, die meist ohne Stromversorgung neben den Staudämmen lebt.
Ein wesentlicher Punkt, der in der öffentlichen Diskussion meist vergessen wird, ist die Fragwürdigkeit der Grundannahme, dass Staudämmme die Stromknappheit in Brasilien beheben könnten. Die großen Stromausfälle im Jahre 2001 kamen zustande, als Trockenheit die Stauseen leerte und die Stromversorgung aus Wasserkraftwerken lahmlegte. Eine Verdoppelung leerer Stauseen wird das Problem nicht lösen, da Wasserkraftwerke immer von ausreichenden Regenmengen abhängig sind. Nun zeigen die Erfahrung der letzten Jahre und praktisch alle Zukunftsprognosen, dass die Trockenheit in Amazonien noch wesentlich zunehmen wird, und zwar umso schneller, je schneller der Regenwald abgeholzt wird. Die Austrocknung Amazoniens wird auch nicht kontinuierlich vonstatten gehen, sondern bei erwarteten 40% Entwaldung schlagartig zunehmen, da dann die von der Küste kommende „Regenwalze“, die durch Abregnen, Wiederverdunsten und landeinwärts Weiterziehen zustande kommt, abbrechen  und das Inland vertrocknen und zur Savanne werden wird. Dabei werden auch die Flüsse austrocknen, wie die Dürre im Jahre 2005 gezeigt hat. Mit anderen Worten: Die Umweltzerstörung für den Bau der Staudämme entzieht durch den beschleunigten Klimawandel den Wasserkraftwerken die Grundlage. Übrig bleiben monumentale Betonbauwerke ohne Funktion mitten in der trockenen Savanne.
Nur am Rande sei erwähnt, dass die Klimaschutzbilanz von Wasserkraftwerken nach neuestem Forschungsstand nicht besonders gut ist. Stauseen in Amazonien emitieren durch die Zersetzung der überfluteten Regenwälder große Mengen von Treibhausgasen, v.a. Methan. Im Falle des von Philip Fearnside untersuchten Stausee in Pará (Curuá-Una) war es seit 1990 die 3,5-fache Menge an Treibhausgasen, die ein vergleichbares Ölkraftwerk produziert hätte. Studien an anderen Stauseen bestätigen, dass selbst Erdgaskraftwerke in der Regel das Klima besser schützen.
"Wir schaffen hier ein zweites China", sagt Lula im Zusammenhang mit den Staudamm-Großprojekten. Angesichts der großen sozialen und ökologischen Probleme Chinas rund um die Staudämme sollte man diese Aussage mehr als düstere Prognose denn als positiven Ausblick betrachten.

Link und Quellenhinweise zu Karten- und Bildmaterial zum Thema:
http://www.internationalrivers.org/en/image/tid/181
Eine Karte mit allen existierenden Staudämmen Brasiliens ab 30 MW befindet sich auf der letzten Seite.