Abschied vom Alten Chico

Leere Versprechungen - Lula entscheidet sich für Teilumleitung des São Francisco
| von Norbert Suchanek

"Velho Chico", Alter Chico nennen die Brasilianer ehrfurchts- und liebevoll ihren längsten, im eigenen Land entspringenden Fluß. Mit wenig Respekt betrachteten indes bisher die verschiedenen Regierungen Brasiliens den 2700 Kilometer langen Rio São Francisco. Schon in den 1980er Jahren hat der gigantische Sobradinho-Staudamm die Flußökologie im mittleren Teil des Velho Chico und die sozialen Strukturen in dessen Einflußgebiet vernichtet. Ein Großteil seiner lebenswichtigen Galleriewälder wurde rücksichtslos abgeholzt, und täglich landen seit Jahrzehnten die Abwässer von Hunderten von Gemeinden und Städten ungeklärt in den Fluß, der traditionellen Nahrungs- und Trinkwasserquelle hunderttausender von Menschen Nordostbrasiliens. Mit der nun von der Regierung Lula beschlossenen Teilumleitung des São Francisco scheint das endgültige Aus des Alten Chico eingeleutet zu sein.

Die Brasilianer waren noch mitten im Karneval-Delirium, als Präsident Luiz Inácio Lula da Silva still und heimlich ein Projekt beschloss, gegen das seit 2004 Dutzende von Bürgerinitiativen, Umweltgruppen, Indianer- und Fischer-Gemeinden, die katholische Kirche und Wissenschaftler der verschiedensten Universitäten Brasiliens intervenierten. Lulas Taktik, eine heikle Entscheidung in die Zeit des brasilianischen Fasching zu legen, ist zwar nicht neu, aber offensichtlich funktioniert sie noch immer. Denn so gut wie niemand nahm in der Hitze des Karnevals von der mehrere Milliarden Euro schweren Entscheidung des Präsidenten, einen Teil des São Francisco und des Rio Tocantins über ein gewaltiges Kanalnetz umzuleiten, Notiz. Viel wichtiger war, welche Samba-Schule diesmal wieder im Sambódramo Rio de Janeiros aufmarschierte und den begehrten Titel der besten Samba-Schule 2006 gewann, und mit wie viel Geld wer geschmiert worden ist, damit eben diese Samba-Truppe gewinnen konnte.

Nutzloser Hungerstreik
Noch im vergangenen Oktober sorgte der elftägige Hungerstreik des Bischofs Dom Luís Cappio von der Diözese Barra im Nordosten Brasiliens für internationale Aufmerksamkeit. Lula machte gute Mine zum bösen Spiel, ließ sich die "Bedenken" der ländlichen Bevölkerung und der Umweltschützer vortragen, redete mit dem störrischen Bischof, und versprach schließlich, das Projekt abzuändern. Die Nachrichtenagenturen meldeten: "Brasiliens Regierung lenkt im Streit um Flussverlegung ein." Die nationale und internationale Gemeinde der Umweltschützer war beruhigt, der Bischof konnte wieder seine geregelten Mahlzeiten einnehmen. Doch all die Aufmärsche, die öffentlichen Anhörungen, Protestbriefe, die salbungsvollen Worte des Präsidenten und Meldungen der Medien: alles nur sinnlose Veranstaltungen und leere Versprechungen, wie sich nun herausstellte.
Das pharaonische Vorhaben wird durchgezogen, komme was da wolle. Wie der Präsident des nationalen Wirtschaftsrates (Cofecon), Synésio Batista da Costa, im Anschluß an Lulas Entscheidung verkündete, könnten die Arbeiten gar nicht schnell genug vorangehen und führt als Begründung für die faktische Zerstörung der Flusses die Armut, vor allem Trinkwasserarmut der Bevölkerung Nordostbrasiliens an. So könnte das Projekt laut Batista da Costa bis 2025 nicht weniger als 12 Millionen Menschen mit der, von den Vereinten Nationen festgelegten Mindestmenge an Trinkwasser, 1500 Kubikmeter je Einwohner und Jahr, versorgen. Die Gesellschaft Brasiliens, so Costa, habe schon 160 Jahre, seit der Zeit der brasilianischen Monarchie auf diese Teilumleitung des Rio São Francisco gewartet. Das sei lange genug. Nun müsse das genehmigte Projekt umgehend umgesetzt werden.
Kernpunkte des Vorhabens mit dem verschleiernden Titel "Integração da Bacia do São Francisco às Bacias do Nordeste Setentrional" sind je ein 400 Kilometer und ein 250 Kilometer langer Kanal, die das Wasser in die Küstenstädte und die sieben nordöstlichen Bundesstaaten Brasiliens, Piauí, Ceará, Rio Grande do Norte, Paraíba, Sergipe, Alagoas und Pernambuco weiter leiten sollen.
Veranschlagte Kosten des Projekts: umgerechnet rund zwei Milliarden Euro plus jährliche Betriebskosten der Pumpanlagen von rund 30 bis 40 Millionen Euro. Projektkritiker rechnen nicht nur mit einem Vielfachen der Kosten, die am Ende nicht nur der Steuerzahler, sondern ebenso der Kunde in den Städten und Gemeinden des verarmten Nordostens zu bezahlen hat. Die angesehene Tageszeitung O Estado de São Paulo schätzt mit einer Steigerung des Wasserpreises um 500 bis 600 Prozent in der Region.
Die Profiteure dieser Gigantomanie Lulas im Stile des Rhein-Main-Donau-Kanals sind in erster Linie die Bauindustrie, Großgrundbesitzer, die exportorientierte Bewässerungslandwirtschaft, die ökologisch nicht weniger bedenkliche Garnelenzuchtbranche sowie die Küstenstädte des Nordostens und die neu gebauten und geplanten Luxusferiensiedlungen für Urlauber aus Europa und den USA. Die Verlierer wiederum sind in den Bevölkerungsschichten Brasiliens zu finden, die seit jeher unter den im Namen von Fortschritt und Entwicklung verwirklichten Großprojekten zu leiden haben: Kleinbauernfamilien, traditionelle Fischergemeinden sowie Ureinwohner und die Siedlungen von Nachfahren ehemaliger Sklaven, Quilombo genannt. So sind von der Teilumleitung des alten Chico nicht weniger als 34 Indianergebiete und 153 Quilombos betroffen.
Seit dem Bau der Staudämme Sobradinho und Itaparica am Alten Chico beklagen die Fischergemeinden einen Rückgang der Fänge um 90 Prozent. Und die Fischer vom indigenen Volk der Truká bedauern den Verlust von mehr als 30 Fischarten. Mit der Umleitung werde nun auch noch ein die Insel Assunção bildender Nebenarm des Flusses verschwinden, dem Stammessitz der Truká. Der Geograph Aziz Ab'Sáber von der Universität São Paulo befürchtet wiederum, dass das Regierungsprojekt auch die traditionellen Bauern am von der Umleitung betroffenen Fluss Jaguaribe im Bundesstaat Ceará zum Aufgeben zwingen werde. Wie im alten Ägypten profitieren sie von den jährlichen Hochwassern des Jaguaribe, an dessen Ufer sie nachhaltig die Hauptnahrungsmittel der Region, Maniok, Bohnen und Mais anbauen. Werde Lulas Projekt umgesetzt, werden diese Hochwasser künftig ausbleiben und das Wasser stattdessen über die Kanäle an den Bauern vorbei an die Küste transportiert.
Atomkraftwerke am Velho Chico geplant
Die als Integration in die Wassereinzugsgebiete des Nordostens bezeichnete Teilumleitung des Rio São Francisco ist dabei noch nicht die ganze Geschichte. Begleitet wird der Kanalbau mit einem weiteren, Hunderte von Millionen Euro kostenden Regierungsprogramm zur "Revitalisierung" des Flusses, was allerdings gleichfalls kaum mit Ökologie als mehr mit Ökonomie zu tun hat. Denn das Programm sieht zwar auch die Wiederaufforstung von kritischen Flächen sowie die Abwasserbehandlung in den am Fluss liegenden Gemeinden vor. Ein Gros der Investitionen dieser "Flussrevitalisierung" indes fließt in Maßnahmen, die in Wirklichkeit zur weiteren Degradierung des Alten Chico führen: nämlich in den Bau von Staudämmen an seinen Zuflüssen und in den weiteren Ausbau des Flusses als Schiffahrtsweg zum Transport von Soja-Bohnen und anderen Exportartikeln wie zum Beispiel Pflanzenöle zur Herstellung von "umweltfreundlichem" Biodiesel aus Brasilien. Was die Gemeinden am Rio São Francisco und das Komitee der Bacia Hidrográfica do São Francisco (CBHSF) weiter beunruhigt, ist die Ankündigung des Ministers für Wissenschaft und Technik, Sérgio Resende, zwei Atomkraftwerke am Velho Chico bauen zu wollen.
Kein Preis für Mangueira
All dies spielte im Karneval von Rio 2006 keine Rolle. Die mit Künstlern, Designern, Musikern und Samba-Experten besetzte Karnevals-Jury in Rio de Janeiro zeichnete so auch die Samba-Schule Vila Isabel, die das politisch unverfängliche Thema der Unabhängigkeit und Einigkeit Lateinamerikas wählte, als beste "Escola de Samba" 2006 aus. Die beim Volk beliebtere Favoritin Mangueira der gleichnamigen Favela ging leer aus. Die in sozialen Projekten engagierte Samba-Schule Mangueira hatte als Thema 2006 den alten Chico gewählt, den Rio São Francisco.