Deutsch-brasilianischen Atomvertrag kündigen

Interview mit Chico Whitaker, geb. 1931, Architekt und brasilianischer NRO-Aktivist. Das Interview führte Barbara Happe für die Heinrich Böll Stiftung, bei der Chico Whitaker am 8. April auf der veranstaltung zum deutsch-brasilianischen Atomvertrag zu hören war.
| von Barbara Happe für die Heinrich Böll Stiftung, Berlin
Deutsch-brasilianischen Atomvertrag kündigen

Quelle des Interviews: Heinrich Böll Stiftung

Seit vielen Jahrzehnten engagiert sich Chico Whitaker in unterschiedlichen sozialen Bewegungen des Landes. Es ist Mitgründer des Weltsozialforums und bis heute Mitglied im internationalen Rat. Im Jahr 2006 erhielt er den Alternativen Nobelpreis (Right Livelihood Award) und im Mai 2012 wurde er in die Anti-Forbes-Liste aufgenommen, die Menschen ehrt, welche durch ihr Engagement die Welt bereichern. Als entschiedener Atomkraftgegner ist er aktiv in der Koalition für ein Brasilien ohne Atomkraftwerke (Coalizão por um Brasil Livre de Usinas Nucleares) und im brasilianischen Anti-Atomkraft-Verband (Articulação Antinuclear Brasileira). Er ist Autor mehrerer Bücher, darunter „Wie begegnen wir der Atomlobby?“.

Dr. Barbara Happe: Wie hat die brasilianische Regierung auf den Atomunfall in Fukushima reagiert? Hat sie ihre Atomausbaupläne, die die Errichtung von bis zu acht weiteren Atomkraftwerken bis 2030 vorsah, ad acta gelegt?

Chico Whitaker
: Leider nicht. Nach Fukushima hat die Regierung lediglich angekündigt, die Frage der Sicherheit der Atomanlagen nochmals zu evaluieren. Gleichzeitig jedoch hat ein hoher Funktionär des Atomunternehmens Electronuclear kurz nach dem 11. März 2011 einen Artikel in einer der meist gelesenen Zeitungen des Landes veröffentlicht mit dem unglaublichen Titel: „Fukushima hat gezeigt, dass Atomanlagen sicher sind“. Seither hört man immer mal wieder unterschiedliche Nachrichten über die Absichten, weitere AKWs in Brasilien zu bauen. Ich glaube, dass die Regierung wartet, bis sich die Gemüter beruhigt haben und der interne Gegendruck nachlässt, um dann die Atomausbaupläne wiederzubeleben. Und währenddessen baut man ruhig und unbekümmert an Angra 3 weiter, ohne das Projekt einer grundlegenden Revision zu unterziehen.

Welches sind aktuell die größten Risiken des Atomsektors in Brasilien? Gibt es z.B. Probleme beim Bau von Angra 3 ?

Es gibt natürlich immer noch das versteckte Risiko, dass Teile des Militärs daran interessiert sind, dass Brasilien eine eigene Atombombe entwickelt. In diesem Kontext werden aktuell v.a. die Pläne zum Bau eines Atom-U-Bootes vorangetrieben.

Das größte Risiko stellen aus Sicherheitsgründen aber derzeit die Reaktoren am Standort Angra dos Reis dar. Dabei geht es nicht nur um den desolaten Katastrophenschutz, der im Notfall lediglich die Evakuierung der Bevölkerung in einem Umkreis von 5 km Entfernung rund um die Anlage vorsieht. Außerdem gibt es am Standort Angra ein erhöhtes Erdrutschrisiko und nur unzureichende Fluchtwege. Kritisiert wird ferner, dass Angra 3 ein technisch veraltetes Projekt ist, das in den 70er Jahren konzipiert worden ist, noch vor dem Unfall am Kraftwerk Three Miles in den USA. Es ist somit zu einer Zeit entwickelt worden, in der man vor lauter Atomeuphorie „ernsthafte“ Unfälle wie z.B. eine Kernschmelze im Reaktor für unmöglich gehalten hat. Trotzdem wurden die Pläne zum Bau von Angra 2 und 3 niemals überarbeitet, obwohl die internationale Atomenergiebehörde IAEA diesbezüglich zahlreiche Empfehlungen herausgegeben hat. Letztlich sind wir der Gefahr ausgesetzt, dass plötzlich eine radioaktive Wolke ganz São Paulo und Rio de Janeiro einhüllen kann.

Glauben Sie, dass es ein „diplomatischer Affront“ wäre, wenn die deutsche Bundesregierung den bilateralen Atomvertrag zwischen den beiden Ländern zum Ende des Jahres kündigen würde?

Auf keinen Fall. Im Gegenteil: Das wäre eine wichtige Unterstützung Deutschlands für Brasilien. Es darf einfach nicht passieren, dass dieser Atomvertrag allein aus taktischen Gründen 2015 zum fünften Mal für weitere fünf Jahre verlängert wird – und das bloß, weil keine der beiden Parteien die Initiative ergreifen will, ihn endlich definitiv zu beenden. In diplomatischen Kreisen betrachtet man den Atomvertrag bereits als „obsolet“.

Außerdem wäre es eine sehr wichtige und mehr als opportune Maßnahme, jetzt, wo wir des 50. Jahrestages des Militärputsches in Brasilien gedenken. Schließlich ist dieser Vertrag damals von den brasilianischen Militärs ausgehandelt worden und es ist höchste Zeit, sich von diesem Relikt einer unheilvollen Kooperation zu verabschieden.

Darüber hinaus könnte die deutsche Bundesregierung damit auch ein deutliches Signal aussenden. Denn: Wer im eigenen Land aus der Atomkraft „aussteigt“, sollte keine doppelten moralischen Standards anwenden und deswegen auch nicht weiter den Ausbau der Atomkraft im Ausland unterstützen.

Meiner Ansicht nach ist die Kündigung des Atomvertrages zudem der beste Weg, um den 2008 unterzeichneten Vertrag zwischen Brasilien und Deutschland zur Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Erneuerbaren Energien zu mehr Bedeutung zu verhelfen und endlich zu implementieren. Das ist schließlich eine der wichtigsten und längst überfälligen Herausforderungen unserer Zeit.

Warum ist es auch im Hinblick auf die brasilianische (Zivil-)Gesellschaft wichtig, dass die nukleare Kooperation beendet wird?

Es ist wirklich höchste Zeit, dass Brasilien sein nukleares Abenteuer so schnell wie möglich beendet. Der bilaterale Atomvertrag trägt bis heute dazu bei, die „Atomträume“ in Brasilien am Leben zu erhalten. Seine Kündigung würde auch der brasilianischen Gesellschaft zeigen, dass sich international was verändert hat und energiepolitisch andere Prioritäten gesetzt werden. Dies kann umso mehr Wirkung entfalten, wenn zugleich konkrete Maßnahmen ergriffen werden, um den neuen Vertrag zur Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Erneuerbaren Energien effektiv zu implementieren.