Brasilien nach dem ersten Wahlgang

Im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Brasilien: Demokratie in Gefahr" waren die Journalistin Eliane Brum und der Direktor von IBASE und Favela-Aktivist Itamar Silva zu einer Podiumsdiskussion bei der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin eingeladen. Neben der Analyse des ersten Wahlgangs erläuterten die beiden Gäste, was in Brasilien bei der Stichwahl am 29. Oktober zwischen Bolsonaro und Haddad auf dem Spiel steht.
| von Uta Grunert
Brasilien nach dem ersten Wahlgang
Foto: Uta Grunert; Brasilien nach der Wahl 18.10.2018

Die Diskussion wurde aufgezeichnet und kann auf Youtube angeschaut werden:


 

Eliane Brum ist durch ihre Kolumnen und Reportagen aus dem Amazonasgebiet besonders als Kritikerin von Großprojekten wie Belo Monte und als scharfe Beobachterin der Peripherie Sao Paulos bekannt. Ihre Texte stellen eine große Nähe zu den Betroffenen her.

Itamar Silva ist Sozialwissenschaftler und Favela-Aktivist aus Rio de Janeiro. Die Militarisierung des öffentlichen Raums und Rassismusfragen gehören zu seinen Spezialgebieten.

Beide Gäste waren sich einig, dass schon die Kandidatur Bolsonaros ein Angriff auf die Demokratie Brasliens darstelle. Die Zitate, mit denen er die Öffentlichkeit provoziere, offenbarten Gewaltverherrlichung, Homophobie, Frauenfeindlichkeit und Rassismus. Seiner Inszenierung als Saubermann, der mit allen Mißständen aufräumen werde, wurde geglaubt obwohl er bereits 28 Jahre im Politikgeschäft ist und keineswegs als unbedarfter Neuling durchgehen kann. Allerdings hatte er geschickt die drei Machtsektoren der brasiliansichen Politik auf seine Seite gebracht: Die Militärs - er ist einer von ihnen, verherrlicht und verharmlost die überwundene Militärdiktatur, verhöhnt ihre Opfer. Ebenfalls auf seiner Seite weiß er einflussreiche Männer aus Evangelikalen Kirchen sowie Agrar- und Viehzüchterlobby. Das Ergebnis des ersten Wahlgangs zeigt das Bild einer Gesellschaft, die weder ihre autoritäre Vergangenheit während der Militärdiktatur bearbeitet noch den alltäglichen Rassismus kolonialer Zeiten überwunden hat.

Neben Bolsonaro hätten die restlichen Parteien inklusive der Arbeiterpartei PT es im Wahlkampf nicht vermocht, ein überzeugendes positives Zukunftsprojekt für Brasilien zu entwerfen. Die PT hat lange auf Lula gesetzt, dessen Kandidatur zuletzt durch die Justiz verhindert wurde. Der Hass auf die PT schlug sich nicht nur im Wahlergebnis nieder, sondern löste auch eine Welle der Gewalt mit zahlreichen Übergriffen auf Anhänger der PT, der Landlosenbewegung MST, Ele nao Aktivistinnen aus und gipfelte im Mord an einem Capoeirameister in Bahia. Beide Gäste auf dem Podium beobachteten dies mit großer Sorge. Eliane Brum betonte, dass die Arbeiterpartei viele ihrere Anhänger*innen verloren hätte, weil sie gemeinsam mit dem Unternehmertum skrupellos Großprojekte wie Belo Monte und den Raubbau an Ressourcen im Amazonasgebiet vorangetrieben hätte. Viele PT-Gegner*innen wüssten jedoch zu unterschieden, ob sie im zweiten Wahlgang einem Demokraten ihre Stimme gäben oder nicht.

Eine wichtige Rolle beim Zustandekommen des Ergebnisses des ersten Wahlgangs wird den großen Medienkonzernen, aber auch den sozialen Medien wie facebook und whatsapp zugeschrieben. So war die landesweite größte Frauen-Demonstration am 29. September unter dem Slogan Ele nao! (Bloß der nicht!) von den Massenmedien weitestgehend ignoriert worden. In den sozialen Medien hingegen wurden die Frauen mit manipulierten Fotos moralisch abgewertet und ihre politische Aussage damit diskreditiert.

Eliane Brum betonte, der zweite Wahlgang habe globale Auswirkungen, die nicht zu unterschätzen seien: Trotz der für das Weltklima notwendigen weltweit größten Regenwaldgebiete im brasilianischen Amazonasgebiet habe Bolsonaro bereits angekündigt, das Pariser Klimaabkommen kippen zu wollen. Die Erderwärmung hält er für ein Märchen. Wald- und Klimaschutz sind definitiv nicht sein Thema! Das Umweltministerium soll mit dem Agrarministerium zum "Produktiven Sektor" zusammengefasst werden. Umweltstrafen gegen illegale Entwalder werden weiter abgebaut. Traditionelle Völker (Indigene und Quilombolas) und Gemeinschaften wie die Ribeirinhos (Flussuferbewohner*innen) garantieren bisher in ihren Gebieten den Schutz des Waldes. Mit dem neuen Slogan "Indigene sind Menschen wie wir alle" wird unter vermeintlicher Gleichstellung verschleiert, dass das per Verfassung garantierte Recht auf Land nicht mehr angewendet werden soll. In all diesen Faktoren werden große Zugeständnisse an die Agrarindustrie und die illegalen Landnehmer (grillagem) sichtbar. Dieses Szenario wird die oft tödlichen Landkonflikte sowie die Entwaldung weiter anheizen.

Itamar Silva stellte fest, dass sich im ersten Wahlgang der Diskurs über öffentliche Sicherheit und Gewalt sowie das harte Durchgreifen von Polizei und MIlitärs durchsetzen konnte. Rio de Janeiro werde von Sicherheitskräften derzeit als eine Art Prototyp für das Konzept öffentliche Sicherheit gesehen, dessen Methoden in Zukunft landesweit angewendet werden sollen. Trotz des vielfachen Mords an afrobrasiliansichen Jugendlichen, trotz fehlender Aufklärung und Strafverfolgung bei Toten durch die Polizei. Trotz fehlender Aufklärung des Mordes an der Bürgerrechtlerin Mariele Franco. Aber auch in der Favela müsse man Widersprüchlickeiten wahrnehmen. Schockierend sei für ihn die Erkenntnis, dass schwarze Jugendliche aus der Favela sich als Unterstützer von Bolsonaro generierten, obwohl dieser ganz klar eine Politik gegen ihre Interessen anstrebt. Inzwischen seien zudem über 10% Paramilitärs/Milizen in das Stadtparlament von Rio de Janeiro gewählt worden, die dort nun innerhalb demokratischer Strukturen agieren werden.

Bisher ist das Setting um die Zukunft Brasiliens eine Wahl des "Dagegens". Der Entwurf, wofür gewählt wird, steht noch aus. Alle Prognosen deuten bisher auf einen Sieg Bolsonaros. Die Wahlempfehlungen für Haddad, als einzigen demokratischen Kandidaten sind auch von Seiten der unterlegenen Kandidat*innen aus dem ersten Wahlgang mager ausgefallen.

Aber auch wenn Bolsonaro bereits tönt, mit dem politischen Aktivismus grundlegend aufräumen zu wollen, wird er die starke Zivilgesellschaft Brasiliens und die internationale Solidarität nicht auslöschen. Dafür gibt es zu viele starke Frauen und Männer, die für Vielfalt, Frauenrechte, Landkämpfe traditioneller Völker und Gemeinschaften, Erhalt der Umwelt und mehr Gererchtigkeit aufstehen. Sie werden sich Gehör verschaffen. Sie jedoch in einem gemeinsamen positiven Gesellschaftsentwurf einzubinden, das stellt die große Herausforderung für die Zukunft dar.