"Wo bleibt die Demarkation unseres Territoriums?"

Brasiliens Nationaler Menschenrechtsrat CNDH hat am Montagnachmittag (06.10.2025) seine 1. außerordentliche Plenarsitzung abgehalten. Dort wurde der Anstieg der Menschenrechtsverletzungen gegen indigenen Völker in Dringlichkeit diskutiert. An der Sitzung in Brasília nahmen Vertreter:innen von 18 indigenen Völkern teil: Apanjêkra Canela, Memõrtumré Canela, Gavião, Tremembé, Akroá Gamella, Krenjê und Krepym aus Maranhão; Karipuna, Kujubim, Puruborá, Migueleno, Guarasugwe, Cassupa, Wajurú, Kaxarari, Karitiana und Oro Wari aus Rondônia; und Pataxó Hã-hã-hãe aus Bahia. Neben den Mitglieder des paritätisch besetzten Gremiums des CNDH nahmen Organisationen der Zivilgesellschaft, Vertreter:innen des brasilianischen Staates sowie des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte teil. Dies berichtet der Indigenenmissionsrat CIMI auf seiner Internetseite.
Auf der Plenarsitzung wurde dem CIMI-Bericht zufolge zunächst Rosa Tremembé, Führungspersönlichkeit des Volkes der Tremembé da Raposa aus dem Bundesstaat Maranhão, deutlich in ihrer Ansprache: "Wo bleibt die Demarkation unseres Territoriums? Wir laufen Gefahr, unser Land nicht demarkiert zu bekommen. Die Zeit vergeht und wir haben es eilig, weil unsere Rechte verletzt werden. Und wir fragen uns: Warum müssen wir als erste sterben?" Rosa Tremembé prangerte nicht nur die illegal in indigenen Gebieten vorangetriebenen Immobilienprojekte an, sondern auch die massive Invasion durch Goldgräber:innen, durch die Agrarindustrie, den Kohlebergbau, die Abholzung und übermässige Wassernutzung an, die in indigene Gebiete vordringe und zu noch mehr Gewalt und Verletzungen ihrer Rechte führe, so der CIMI-Bericht. "Wir beobachten eine stetige Zunahme von Gewaltsituationen, die die Gebiete betreffen, und versuchen stets, so schnell wie möglich auf diese Gewaltsituationen zu reagieren", betont Igor Souza, Ombudsmann der Bundesbehörde für Indigene Funai). "Meinen Berechnungen zufolge gibt es mehr als 500 Konfliktpunkte. Wir sind [in der Behörde] so wenige im Vergleich zur Größe und Geschwindigkeit, mit der diese Gewalt voranschreitet", betonte der Mitarbeiter der Indigenenbehörde dem CIMI-Bericht zufolge.
Der Exekutivsekretär von CIMI, Luis Ventura, forderte, dass "wir hier mit Maßnahmen, Entscheidungen und Wegen zur Überwindung dieser Situation der Gewalt gegen indigene Völker herauskommen müssen. Gewalt gegen indigene Völker darf von niemandem als normal angesehen werden", bekräftigte Luis Ventrura. Nach Einschätzung von CIMI führe die Untätigkeit des brasilianischen Staates dazu, dass die indigenen Gebiete noch immer nicht demarkiert seien. Und der Fall der Guarani und Kaiowá in Mato Grosso do Sul zeige, dass "die legitime Rückeroberung dieses Gebiets durch die Guarani und Kaiowá zu extremer Gewalt führt, die über zwei Monate lang orchestriert und organisiert wurde. Eine Gewalt, auf die der brasilianische Staat unserer Meinung nach nicht angemessen reagiert hat, da er es mehrere Monate lang nicht geschafft hat, die Verbrechen zu verhindern, zu unterbinden oder aufzuklären, die in diesem Fall gegen die Guarani und Kaiowá des Indigenengebiets Panambi – Lagoa Rica begangen wurden", erklärt der Exekutivsekretär von Cimi dem Bericht zufolge.
Hinzu komme, so CIMI: Die Gewalt gegen indigene Völker werde durch die derzeitige rechtliche Pattsituation im brasilianischen Staat verursacht und geschürt: Denn das Gesetz 14.701/2023, das im Oktober 2023 vom Nationalkongress im Hauruckverfahren als Reaktion auf den vorherigen Entscheid des Obersten Gerichtshofes zur Verfassungswidrigkeit der Stichtagsreglung verabschiedet worden war, gilt derzeit noch immer, obwohl die darin enthaltene Regelung zur Stichtagsregelung vom Obersten Bundesgerichtshof bereits zuvor als verfassungswidrig erklärt worden war. Und die dagegen eingereichten Verfassungsbeschwerden noch immer nicht vom STF verhandelt und entschieden wurden. "Dieses Gesetz ist nicht nur verfassungswidrig, sondern wird auch dazu benutzt, um Fortschritte bei der Abgrenzung der Territorien zu verhindern. Dieses Gesetz legitimiert die Gewalt in den Gebieten und kriminalisiert den Kampf der indigenen Völker", kritisierte Junior Pankararu, Vertreter des Indigenendachverbands Articulação dos Povos Indígenas do Brasil APIB, auf der außerordentlichen Plenarsitzung des Nationalen Menschenrechtsrats CNDH.
Auch die anwesende Vertreterin der Hohen Menschenrechtskommissarin für Menschenrechte der Vereinten Nationen, Angela Pires, erklärte aut dem CIMI-Bericht: "Was das Büro dazu veranlasst hat, die Menschenrechte der indigenen Völker zu einer seiner Prioritäten zu machen, ist die Erkenntnis, dass das Ausmaß der Bedrohungen und Verstöße, denen die indigenen Völker im Laufe der Jahre ausgesetzt waren, höchste Aufmerksamkeit erfordert". Die Vertreterin des Hohen Kommissariats der Vereinten Nationen wies dem CIMI-Bericht zufolge zudem darauf hin, dass die Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen an indigenen Völkern der Grund dafür sei, dass "verschiedene Mechanismen der Vereinten Nationen sich öffentlich geäußert und den brasilianischen Staat aufgefordert haben, statt Gewalt anzuwenden, die Menschenrechte der indigenen Völker zu garantieren. Das Büro hat sich bemüht, mit den staatlichen Behörden, einschließlich ihrer unabhängigen Institutionen, zusammenzuarbeiten, damit diese Rechte respektiert werden", so die anwesende UN-Vertreterin. Trotz aller Bemühungen "stellen wir fest, dass dies auf nationaler Ebene keine Wirkung gezeigt hat", betonte die Vertreterin des Hohen Kommissariats der Vereinten Nationen laut dem CIMI-Bericht.
Gegen Ende der außerordentlichen Plenarsitzung des CNDH richtete Rosa Tremembé dem CIMI-Bericht zufolge einen Appell an die Kommission, die Vertreter:innen des Staates und der UNO. "Wir werden unsere Liste hier hinterlassen. Und wir möchten, dass Sie sie mit Sorgfalt und Aufmerksamkeit lesen, denn wir haben ein Recht darauf. Unser Recht ist in der Verfassung verankert, in den Artikeln 231 und 232, aber man will unseren Rechten innerhalb der Verfassung ein anderes Gesicht geben. Man will die Situation umkehren und uns unsichtbar machen."
Die Indigenen Vertreter:innen kündigten dem Bericht zufolge an, dass sie während der Woche in der Bundeshauptstadt Brasília bleiben werden, wo sie versuchen würden, sich mit Vertreter:innen der Judikative, der Exekutive und der Legislative sowie mit Vertreter:innen ausländischer Botschaften und anderen Menschenrechtsorganisationen zu treffen.
Brasiliens Nationaler Menschenrechtsrat CNDH ist ein durch das Gesetz Lei n° 12.986 vom 2. Juni 2014 als paritätisch gemischter Rat - 11 von der Regierung entsandte Mitglieder, 11 von der organisierten Zivilgesellschaft Entsandte - eingesetztes Gremium, dessen Ziele die Förderung und der Schutz der Menschenrechte in Brasilien durch Präventiv-, Schutz-, Wiedergutmachungs- bis hin zu Sanktionsmaßnahmen vorsehen. Der CNDH selbst beschreibt seine Kompetenzen wie folgt:
"Der CNDH hat unter anderem die Aufgabe, die öffentliche Menschenrechtspolitik und das nationale Menschenrechtsprogramm zu überwachen und zu kontrollieren, wobei sie Richtlinien für deren Umsetzung vorschlagen und empfehlen kann, sowie den Austausch und die Zusammenarbeit mit öffentlichen oder privaten Einrichtungen auf kommunaler, bundesstaatlicher und Distrikt-Ebene sowie auf nationaler und internationaler Ebene zu koordinieren und aufrechtzuerhalten, insbesondere mit den Organen des internationalen und regionalen Menschenrechtssystems. Der CNDH hat auch die Aufgabe, zu normativen, administrativen und legislativen Maßnahmen Stellung zu beziehen, die für die nationale Menschenrechtspolitik von Interesse sind, und Gesetzesvorschläge und normative Maßnahmen in ihrem Zuständigkeitsbereich auszuarbeiten sowie Verwaltungs- und Gerichtsverfahren zu begleiten, die direkt oder indirekt mit schweren Menschenrechtsverletzungen in Zusammenhang stehen. Darüber hinaus ist es Aufgabe des CNDH, Empfehlungen an öffentliche und private Einrichtungen zu richten, die sich mit dem Schutz der Menschenrechte befassen, und den Bereichen, in denen Menschenrechtsverletzungen am häufigsten vorkommen, besondere Aufmerksamkeit zu widmen".
Das die Kompetenzen des CNDH festlegende Gesetz spricht dem Rat - in der Theorie - auch die Kompetenz zu santionieren aus: "Das Gesetz, mit dem der CNDH eingerichtet wurde, sieht auch vor, dass der Rat Verfahren zur Untersuchung von Verhaltensweisen und Situationen, die gegen die Menschenrechte verstoßen, einleiten und Sanktionen in Bezug auf diese Verhaltensweisen verhängen kann. Zu den Sanktionen, die der CNDH verhängen kann, gehören Verwarnungen, öffentliche Rügen, Empfehlungen zur Entlassung aus dem Amt sowie Empfehlungen, dass Einrichtungen, die Menschenrechte verletzen, keine Mittel, Beihilfen oder Subventionen gewährt werden."