Tschüß Stichtagsregelung! Hallo Stichtagsregelung?

Indigene erzielen juristischen Erfolg vor dem Obersten Gerichtshof, doch das Agrobusiness verfolgt weiter seine Pläne des vollendeten Landraubes.
| von Christian.russau@fdcl.org
Tschüß Stichtagsregelung! Hallo Stichtagsregelung?
Foto: Verena Glass / Rosa-Luxemburg-Stiftung São Paulo

Mit deutlicher Mehrheit lehnte Brasiliens Oberster Gerichtshof die Stichtagsregelung des sogenannten „Marco Temporal“ ab, nach welcher die Indigenen hätten beweisen müssen, dass sie zum Stichtag des Inkrafttretens des brasilianischen Verfassung am 5. Oktober 1988 auf ihrem historisch angestammten Gebiet gelebt haben. Andernfalls hätte es keine Aussicht auf Demarkation des Gebietes gegeben. Doch der vom Agrobusiness dominierte Kongress arbeitet an noch weitergehenden Gesetzen sowie an einem Antrag auf Verfassungsänderung, die den Indigenen ihre Territorien streitig machen will.

Es war eine der Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes (STF) Brasiliens, die mit allergrößter Spannung erwartet wurde. Seit 2021 hatte der STF mehrmals getagt, und wenn eine der Obersten Richter*innen ihr Urteil einzeln abgab, wurde daraufhin wiederholt direkt im Anschluss von der darauf folgenden Richter*in mehrmonatige Vertagung beantragt. Doch auf der Doppelsitzung am 20. und 21. September fiel ein überraschend deutliches Grundsatzurteil, das politische und soziale Spannungen für ganz Brasilien birgt: Am 21. September hatten alle elf Richter*innen des STF ihre jeweiligen Urteile zur Stichtagsregelung des sogenannten „Marco Temporal“ verlesen und das Endergebnis überraschte dann doch in seiner Klarheit.

Mit neun zu zwei Stimmen wiesen die Richter*innen die These der Stichtagsregelung „Marco Temporal“ zurück, die besagt hätte, dass nur jene indigenen Territorien das verfassungsgemäße Recht auf Demarkation und Homologation hätten, bei denen hätte bewiesen werden können, dass die Indigenen auf genau jenem Gebiet zum Tag des Inkrafttretens der brasilianischen Verfassung – Stichtag 5. Oktober 1988 – lebten. Dieser Nachweis hätte bei vielen Indigenen Territorien und vor allem bei vielen der noch nicht demarkierten Gebiete nicht beigebracht werden können und in Konsequenz – so Kritiker*innen des „Marco Temporal“ – hätte die Gefahr bestanden, dass durch eine solche Stichtagsregelung nachträglich 500 Jahre Landraub und Vertreibung noch einmal legalisiert werden.

„Das ist ein großer Sieg für uns. Unser Land repräsentiert das Leben und die Kultur unseres Volkes", sagte Keli Regina Caxias Popó vom indigenen Volk der Xokleng gegenüber Medien. Unter dem Motto „Unsere Geschichte begann nicht erst 1988!“ versuchen die Zusammenschlüsse der indigenen Völker Brasiliens seit Jahren, auf die Absurdität der Stichtagsregelung „Marco Temporal“ in Medien und Öffentlichkeit hinzuweisen. So sieht der nationale Zusammenschluss der indigenen Völker (APIB) die juristische These des „Marco Temporal“ als verfassungswidrig an, da dieser die Vertreibungen, Zwangsumsiedlungen und die Gewalt, die Angehörige verschiedener indigener Gemeinschaften vor 1988 erlitten haben, ignoriert und einfach den Stichtag als Grundlage des neuen Gesetzes anerkennt. Darüber hinaus werde die Tatsache ignoriert, dass es bis zum Inkrafttreten der Verfassung von 1988 für Indigene gar keine rechtliche Grundlage gab, um eigenständig ihre Rechte vor Gericht einzufordern, da sie qua Gesetzbuch unter staatlicher Vormundschaft – tutela – standen, was erst die neue Verfassung von 1988 beendete. Hinzu kommt, dass der Nachweis der Nutzung eines Gebiets am 5.Oktober 1988 für viele indigene Gemeinschaften schwierig ist. In ihrer besonderen Beziehung zu ihrem Territorium ist nicht nur das Land identitätsstiftend, auf dem sie tatsächlich leben, sondern auch Gebiete, die eine kulturelle und spirituelle Bedeutung haben, die aber nicht bewohnt werden.

Das Urteil des STF ging im Konkreten um den Fall des Gebietes Ibirama La Klãnõ der indigenen Xokleng aus dem südlichen Bundesstaat Santa Catarina, die gewaltsam, äußerst brutal und menschenverachtend ab den 1850er Jahren bis in die 1930er Jahre vertrieben wurden. Dies war eine direkte Folge der massiven deutschen Einwanderung in den Süden Brasiliens.

Die Landesumweltbehörde des Bundesstaates Santa Catarina forderte vor Gericht die Räumung des 80.000 Quadratmeter großen Gebietes, auf dem heute indigene Xokleng, Kaingang und Guarani leben und das angrenzt an das im Jahre 1958 vom Staat ausgewiesene (aber noch nicht abschließend demarkierte) Gebiet der Terra Indígena Ibirama La Klãnõ. Das historisch von den Xokleng und den angrenzenden Kaingang und Guarani bewohnte Gebiet wurde Ende der 1980er Jahre noch durch den Bau des Staudamms Barragem Norte beeinträchtigt, so dass die Indigenen wiederum nur ein kleineres Gebiet beanspruchen konnten.

Die Landesumweltbehörde von Santa Catarina argumentierte, dieses Gebiet sei ein Naturschutzgebiet und die Indigenen müssten dieses daher räumen. Auf dem Gelände befinden sich heutzutage aber auch Tabakfarmer*innen und es sind dort Holzfirmen aktiv. Im Jahr 2000 reichten die Farmer:innen und eine Holzfirma Klage ein und argumentierten im Sinne einer Stichtagsregelung. Die Landesregierung von Santa Catarina argumentierte, dass die Indigenen das Gebiet illegal besetzt hielten und die Anerkennung als indigenes Territorium nicht rechtens sei, da die Indigenen am Stichtag, dem 5. Oktober 1988, auf dem Gebiet nicht anwesend waren. Daher gelte die Stichtagsregelung des „Marco Temporal“. Im Jahr 2013 wandte das Bundesgericht der 4. Region (TRF-4) im Bundesstaat Santa Catarina das Kriterium der Stichtagsregelung an, indem es der Landesumweltbehörde die Entscheidungshoheit über das Gebiet Ibirama La Klãnõ zusprach. Nach dieser Entscheidung des TRF-4 legte die Indigenenbehörde des Bundes, FUNAI, beim Obersten Gerichtshof STF Berufung gegen die Entscheidung des Bundesgerichts TRF-4 ein. Im Jahre 2019 entschied der Oberste Richter Alexandre de Moraes, dass dieser Fall strahlende Rechtskraft grundlegender Natur habe, so dass das hier im STF zu entscheidende Urteil Grundsatzcharakter für die bis zu 200 aktuell noch anstehenden Rechtsentscheidungen in Bezug auf Indigene Territorien Brasiliens entfalte.

Die Vertreter:innen der Xokleng argumentieren stets, dass sie gewaltsam aus ihren Gebieten vertrieben wurden, viele ihrer Vorfahren ermordet wurden und dass ihnen ja erst die Verfassung von 1988 das Recht auf ihr angestammtes Gebiet (in der Theorie) gab und sie erst ab dann schrittweise ihre historischen Gebiete wieder in den Blick nehmen konnten. „Wenn wir 1988 nicht in einem bestimmten Gebiet waren, dann heißt das nicht, dass es Niemandsland war oder dass wir nicht dort waren, weil wir es nicht wollten. Die Stichtagsregelung verfestigt eine historische Gewalt, die bis heute ihre Spuren hinterlässt“, so der indigene Sprecher Brasílio Priprá von den Xokleng im Jahre 2020.

Dieser Ansicht folgte nun der Oberste Gerichtshof Brasiliens. „Vitória!“, rauschte es am 21. September am Abend (Ortszeit) durch die sozialen Medien, nachdem beim Stand 5:2 der Oberste Richter Luiz Fux ebenfalls gegen die Stichtagsregelung votierte und damit die Mehrheit mit sechs Stimmen entschieden war, obwohl noch weitere drei Stimmen Oberster Richter*innen ausstanden.

Doch selbst mit dieser höchstrichterlichen Entscheidung sind die Konflikte nicht beigelegt – vielleicht verschärfen sie sich nun noch weiter. Denn zum Einen muss der STF in den nächsten Tagen entscheiden, ob und wie der Staat Entschädigungen an jene Grundbesitzer*innen zahlen muss, die in der Vergangenheit in „gutem Glauben“ die Grundstücke von Vorbesitzenden erworben haben. Vor allem zentral ist hierbei die Frage, ob sich die Entschädigung am Marktwert orientieren soll und ob diese Entschädigungszahlung sofort und vor Räumung des Gebietes erfolgen soll. Denn wenn es dem brasilianischen Staat im Moment an einem fehlt, sind es finanzielle Spielräume, die durch die große Haushalts- und Schuldenbremse massiv eingeschränkt werden.

Und dass vor allem Brasiliens Agrobusiness eine Enteignung (selbst bei Entschädigung) sich nicht so einfach gefallen lassen wird, zeigte sich eben genau am Tag der höchstrichterlichen Entscheidung. Denn bereits am Morgen, wenige Stunden bevor der STF zu seiner entscheidenden Sitzung im „Marco Temporal“ zusammenkam, debattierte im brasilianischen Senat die Kommission für Verfassung, Justiz und Bürger*innenteilhabe über die Gesetzesinitiative PL 2903. Diese war zuvor unter dem Namen PL 490 im brasilianischen Abgeordnetenhaus am 30. Mai verabschiedet worden und definiert die Stichtagsregelung „Marco Temporal“ nicht nur in Bezug auf künftige Demarkationen, sondern könnte rückwirkend auch bestehende Demarkationen juristisch angreifbar machen. Angesichts der im STF anberaumten Abstimmung eilten sich die dem Agrobusiness nahestehenden Senator*innen, um möglichst noch vor dem STF zu einer legislativen Entscheidung zu kommen. Dies gelang ihnen jedoch nicht, da auch im Senat Verzögerungstaktiken wie Beantragung der Vertagung üblich sind. Der Senator Randolfe Rodrigues von der an der Regierungskoalition beteiligten Partei Rede verurteilte den Versuch einer legislativen Hauruckaktion scharf: „Nichts rechtfertigt diese Eile, die im Widerspruch zu dem steht, was zwischen den indigenen Führern und den Senatoren besprochen wurde. Zumal der Oberste Gerichtshof bereits über die Angelegenheit urteilt", sagte Rodrigues in der Sitzung. Die Entscheidung in der Senatskommission wurde durch den Antrag auf Vertagung seitens der Senatorin Eliziane Gama von der Partei PSD, die ebenfalls der Regierungskoalition Lulas angehört, unterbrochen. „Es besteht kein Zweifel, dass dieses Gesetz nicht in Kraft treten wird. Wir könnten über ein Gesetz abstimmen, das verfassungswidrig ist", sagte sie im Hinblick auf die am Nachmittag anstehende Entscheidung im STF.

Doch etliche Senator*innen ließen in der Debatte in der Kommission keinen Zweifel daran, dass sie weiter mit allen Mitteln dafür kämpfen werden, dass es eine Gesetzgebung des Nationalkongresses zu einer Stichtagsregelung indigenen Landes geben werde. Die einfache Mehrheit dazu hätten diese agrobusinessfreundlichen Abgeordneten und Senator*innen auf jeden Fall. Die parteiübergreifende Fraktion der sogenannten „ruralistas“ der FPA (Frente Parlamentar da Agropecuária) stellt 300 der 513 Abgeordneten im brasilianischen Abgeordnetenhaus, und in der zweiten Kammer des Nationalkongresses, dem Senat, zählt die FPA nach eigenen Angaben 47 der 81 Senator:innen. Die agrobusinessfreundlichen „ruralistas“ stellen somit derzeit die mächtigste parteiübergreifende Fraktion im Nationalkongress dar. Etliche Senator*innen erklärten in der Debatte um die PL 2903, dass sie diese mit ihrer Mehrheit in den zwei Kammern verabschieden würden und dass sie – und nicht der Oberste Gerichtshof – die Herrschaft über die Legislative ausüben. Präsident Lula könnte dagegen noch sein Veto einlegen, aber der Kongress kann trotzdem hinterher weiter legislativ tätig werden. Und die konservativen Abgeordneten und Senator*innen nehmen offensichtlich eine schwere Verfassungskrise zwischen den Drei Gewalten in Kauf: denn obwohl der STF nun geurteilt hat, dass die Stichtagsregelung des „Marco Temporal“ gegen die Verfassung verstößt, haben konservative Senator*innen nun eine Verfassungsänderung, die sog. PEC 48/2023, eingereicht, die explizit den „Marco Temporal“ mit Stichtag 5. Oktober 1988 als Basis für Demarkation indigener Territorien in die Verfassung schreiben soll. Dafür bräuchten sie aber eine Dreifünftelmehrheit im Nationalkongress. So wird der Kampf der drei Gewalten weitergehen – und die Indigenen haben gezeigt, dass sie nicht länger nur Zuschauende sein wollen.

// Christian Russau