Stichtagsregelung Marco Temporal ab dieser Woche Thema im Obersten Gerichtshof STF und im Senat
Der grundlegende Verfassungsstreit um die Recht- oder Unrechtmäßigkeit der Stichtagsregelung Marco Temporal geht in einer neue heiße Phase: Ab heute plant das Plenum der zweiten Kammer des brasilianischen Nationalkongresses, der Senat, sich der Verfassungsänderung PEC 48 anzunehmen. Diese würde der Stichtagsregelung Marco Temporal Verfassungsrang geben, in dem sie in den Artikel 231 der Verfassung die Bestimmung zufügt, dass indigene Territorien dann rechtssicher als solche geschützt seien, wenn die Indigenen nachweisen könnten, dass sie auf diesem Gebiet zum Stichtag des Inkrafttretens der brasilianischen Verfassung, am 5. Oktober 1988, auf diesem Land lebten. Kritiker:innen sehen darin einen weiteren Versuch, 500 Jahre Landraub nachträglich noch einmal zu legalisieren und die verfassungsmässigen Rechte der Indigenen auf ihre Territorien zu beschneiden. Sollte der Senat und in einem zweiten Schritt die Abgeordnetenkammer der PEC 48 zustimmen, so könnte nur noch der Oberste Gerichtshof STF eine Verfassungswidrigkeit feststellen, da bei legislativen Akten, die die Verfassung ändern, die Präsidentschaft kein Vetorecht hat. Dass beide Kammern von Senat und Abgeordnetenhaus für eine solche PEC 48 stimmen, gilt als nicht unwahrscheinlich, hat doch die parteiübergreifende Fraktion der ruralistas eine satte Mehrheit in beiden Kammern.
Dass der Senat nun ausgerechnet jetzt vergleichsweise kurzfristig die PEC 48 auf die Agenda setzt, hängt mit dem Machtkampf mit dem STF zusammen, der gegenwärtig viele Themenbereiche betrifft. Und u.a. an einem - der Frage nach dem Recht der Indigenen Völker auf ihre Territorien versus der Stichtagsregelung Marco Temporal - kulminiert nun dieser Machtkampf. Denn in der zweiten Jahreshälfte 2023 hatte der STF nach langer Analyse in einem Grundsatzurteil die Stichtagsregelung Marco Temporal für verfassungswidrig erklärt. Wenige Tage danach hatte der Nationalkongress das sogenannte Stichtaggesetz verabschiedet, was danach als Gesetz 14.701 in Kraft trat, obwohl die Regierung Lula Dutzende an Vetos verhängt hatte, die aber vom Nationalkongress wieder gekippt worden waren. Gegen das Gesetz 14.701 wurden mehrere Verfassungsklagen eingereicht. Diese Verfassungsklagen wurden aber zeitlich verzögert, da der zuständige Oberste Richter Gilmar Mendes entschied, dass eine überjährige sog. Schlichtungskammer sich der Frage der Verfassungskonformität oder Verfassungswirdigkeit der Stichtagsregelung Marco Temporal widmen sollte. In Dutzenden von Gesprächsrunden sollten alle Beteiligten - Indigene und ruralistas sowie die Richter:innen - sich in der Schlichtungskammer austauschen und zu Kompromisen gelangen. Der Indigenendachverband APIB verließ die Schlichtungskammer wenige Monate nach Start der Schlichtung aus Protest darüber, dass sie keine Basis sehen würden, über verfassungsmässige Grundrechte Kompromisse wie etwa Öffnung der indigenen Territroien für wirtschaftliche Ausbeute durch Dritte oder Ähnliches einzugehen. Grundrechte sind nicht verhandelbar. Die Schlichtungskammer kam zu keinem die Beteiligten befriedigenden Ergebnis. Die Debatte um den Marco Temporal soll also nun im STF ab Morgen, dem 10. Dezember - dem Tag der Menschenrechte - im STF verhandelt werden.
Wieder einmal geht es also - beinahe zeitgleich in der Legislative und in der Judikative - um die Frage der Stichtagsregelung Marco Temporal - und mithin um eine der zentralen Fragen für den brasilianischen Staat, die Gesellschaft und nicht zuletzt für die Indigenen Völker Brasiliens. Der Konflikt um die grundlegenden Rechte der Indigenen Völker wird sich dieser Tage in Brasília voraussichtlich zuspitzen.

