Senat beschließt Verfassungsänderung PEC 48 zur Stichtagsregelung Marco Temporal

Mit 52 Ja-Stimmen zu 14 Nein-Stimmen und einer Enthaltung in der ersten Abstimmung und 52 Ja-Stimmen zu 15 Nein-Stimmen und einer Enthaltung in der zweiten Abstimmung wird die PEC 48 nun der Abgeordnetenkammer zur Abstimmung überreicht. Kritiker:innen sehen Bruch von verfassungsmässigen Grundrechten der Indigenen Völker Brasiliens.
| von Christian.russau@fdcl.org
Senat beschließt Verfassungsänderung PEC 48 zur Stichtagsregelung Marco Temporal
"Keine Stichtagsregelung Marco Temporal". (Symbolbild) Foto: christian russau

Brasiliens Senat hat am gestrigen Dienstag, 9.12.2025, im Plenum in zwei aufeinander folgenden Abstimmungen die Verfassungsänderung PEC 48 angenommen. Mit 52 Ja-Stimmen zu 14 Nein-Stimmen und einer Enthaltung in der ersten Abstimmung im Senatsplenum und 52 Ja-Stimmen zu 15 Nein-Stimmen und einer Enthaltung in der zweiten Abstimmung im Senatsplenum wird die PEC 48 nun der Abgeordnetenkammer zur Abstimmung überreicht. In beiden Kammern des brasilianischen Nationalkongresses hat die parteiübergreifende Fraktion der dem Agrobusiness nahestehenden ruralista-Fraktion eine deutliche Mehrheit.

Die PEC 48/2023 hebt die sogenannte Stichtagsregelung Marco Temporal, die besagt, dass Indigene Völker Brasiliens nu dann Anspruch auf ihr Land erheben können, wenn sie in der Lage sind nachzuweisen, dass sie zum Stichtag (dem Tag des Inkrafttretens der Brasilianischen Verfassung am 5. Oktober 1988) auf eben diesem Gebiet lebten, in Verfassungsrang. Dies widerspricht laut Ansicht der Kritiker:innen dem Grundsatzurteil des Obersten Gerichtshofes aus dem September 2023, welches die "Marco-Temporal"-These als verfassungswidrig einstufte. Kurz nach dem damaligen STF-Urteil hatte das Abgeordnetenhaus das sog. "Marco-Temporal"-Gesetz - damals noch unter der Nummer PL 2903/2023 verabschiedet, dass auch im Senat angenommen wurde und Ende 2023 von Präsident Lula mit mehreren Vetos belegt wurde, die der Kongress seinerseits mit der satten ruralista-Mehrheit wieder kippte. Zeitgleich startete schon damals der Senat die Verfassungsänderungsinitiative PEC 48, um dem drohenden Aus für das "Marco-Temporal"-Gesetz (das seit den durch den Kongress aufgehobenen Vetos als Gesetz 14.701 gilt) vor dem STF durch eine Verfassungsänderung vorzubeugen. Haben die beiden Kammern des brasilianischen Nationalkongresses - Abgeordnetenkammer und Senat - eine Verfassungsänderung erst beschlossen, so hat der Präsident kein Vetorecht - einzig der Oberste Gerichtshof STF kann darüber befinden. Und zwischen dem STF und dem Nationalkongress spitzt sich derzeit ein in Jahren gewachsener Fundamentalkonflikt als Machtkampf der Gewalten zu.... Ausgang derzeit noch offen.

Die vom Senat gestern beschlossene PEC 48 sieht im Detail vor: "Ändert §1 des Artikels 231 der Bundesverfassung, um eine Stichtagsregelung Marco Temporal für die Abgrenzung der traditionell von indigenen Völkern bewohnten Gebiete festzulegen." Im Textvorschlag des Senats für den Artikel 231 selbst ist auch die Sprachwendung verräterisch: Denn dort ist dann nicht von "Indigenen Völkern" die Rede, sondern von "Índios":

"§ 1º São terras tradicionalmente ocupadas pelos índios as por eles habitadas em caráter permanente, as utilizadas para suas atividades produtivas, as imprescindíveis à preservação dos recursos ambientais necessários a seu bem-estar e as necessárias a sua reprodução física e cultural, segundo seus usos, costumes e tradições, sendo-lhes garantida a sua posse permanente, estabelecido o marco temporal em 05 de outubro de 1988."

Der § 1 des Artikels 231 der Verfassung würde demnach dann auf Deutsch lauten:

"§ 1 Es handelt sich um traditionell von Indios bewohnte Gebiete, die von ihnen dauerhaft bewohnt werden, die für ihre produktiven Aktivitäten genutzt werden und die für die Erhaltung der für ihr Wohlergehen notwendigen Umweltressourcen und die für ihre physische und kulturelle Reproduktion, gemäß ihren Bräuchen, Sitten und Traditionen, unverzichtbar sind, wobei ihnen der dauerhafte Besitz garantiert wird, festgemacht [am Datum des Stichtages, Anm.d.Ü] 5. Oktober 1988."

Der Präsident des Indigenenmissionsrates CIMI, Dom Leonardo Steiner, veröffentlichte (noch kurz vor der Entscheidung des Senats) eine längere Stellungnahme, in der er schreibt:

"Während wir darauf warten, dass der Oberste Gerichtshof endgültig über die Wahrung der Rechte der indigenen Völker entscheidet, hat der Senat für diesen Dienstag, den 9. Dezember, genau einen Tag vor der Verhandlung, die Abstimmung über den Verfassungsänderungsantrag (PEC) Nr. 48 auf die Tagesordnung gesetzt. Diese PEC zielt genau darauf ab, die Stichtagsregelung in der Verfassung festzuschreiben. Das ist unzulässig, denn niemand darf die Verfassung ändern, um Grundrechte, die in der Verfassung verankert sind, einzuschränken. In einer Zeit der Spannungen zwischen den Gewalten der Republik ist es grausam, dass der Senat das Leben und die Zukunft der indigenen Völker als Druckmittel in der Politik einsetzt. Es ist derselbe Schachzug, den sie 2023 vor der Entscheidung über die außerordentliche Berufung gemacht haben, in der der Oberste Gerichtshof die Stichtagsregelung für verfassungswidrig erklärt hatte.
Das größte Hindernis für die Demokratie ist die Gier einiger weniger und die Art und Weise, wie diese privaten Interessen sich die politischen Institutionen aneignen, die uns eigentlich vertreten sollten, die eigentlich für das Zusammenleben und das Gemeinwohl sorgen sollten. Die Justiz muss sich auf die Seite der ersten Bewohner:innen dieser Ländereien stellen. Völker, die im Laufe der Jahrhunderte massakriert und ausgerottet wurden, nur weil sie ihre Lebensräume zurückforderten. Wann wird es Gerechtigkeit für die in Brasilien lebenden Indigenen geben?"

// Christian Russau

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