Educação do campo: Eine Alternative zur Imperialen Lebensweise

„Alle reden von Missständen und Krisen: Hier die Klima- und Rohstoffkrise, dort die sozial-politische Dauerkrise Griechenlands oder die menschenverachtende Ausbeutung in der Textilindustrie. Die Probleme sind vielen bewusst – dennoch scheint sich wenig zu ändern. Warum? Das Konzept der »Imperialen Lebensweise« erklärt, warum sich angesichts zunehmender Ungerechtigkeiten keine zukunftsweisenden Alternativen durchsetzen und ein sozial-ökologischer Wandel daher weiter auf sich warten lässt.“
| von Hannah Dora
Educação do campo: Eine Alternative zur Imperialen Lebensweise
Bild: I.L.A. Kollektiv "Auf Kosten Anderer" (CC BY-NC-SA 3.0 DE)

Unter dem Titel „Auf Kosten Anderer? - Wie die imperiale Lebensweise ein gutes Leben für alle verhindert” veröffentlichte das I.L.A-Kollektiv im Jahr 2017 ein Dossier, welches in einer bewundernswert anschaulichen Weise die Zusammenhänge zwischen den vielen Missständen unseres Weltsystems aufzeigt. Die Autor*innen betonen besonders, dass entgegen dominanter Diskurse von Seiten der politischen Linken diese Dynamiken tiefgründiger sind und historisch deutlich weiter zurückgehen, als der aktuelle Aufstieg rechter Parteien und Gruppierungen. Gleichzeitig schaffen sie es, das sich auf ca. 100 Seiten erstreckende Heft nicht in eine „alles ist verloren, es wird sich nie etwas ändern“- Stimmung einzubetten. Durch eine sehr klare Beschreibung der Strukturen, d.h. Wertevorstellungen, Institutionen, sowie physisch-materiellen Objekte, machen sie die imperiale Lebensweise greifbar und ermutigen zum Reflektieren über die eigene Lebensweise. Außerdem gibt das Kollektiv in einem weiteren Heft „Das Gute Leben für alle – Wege in die solidarische Lebensweise“ konkrete Inputs und Beispiele von Projekten, die bereits dabei sind, Veränderungen zu erwirken.

Die imperiale Lebensweise bezeichnet also den Zusammenhang der unterschiedlichsten Dilemmas unserer globalen Gesellschaft:

            „Imperial, weil sie sich stetig ausbreitet, andere Lebensweisen verdrängt, übermäßig auf die Natur und menschliche Arbeit zugreift und dabei Lebenschancen und natürliche Ressourcen ungerecht verteilt. Lebensweise, weil sie unseren Alltag vollständig durchdringt. Sie zieht sich durch Produktionsprozesse, Gesetze, Infrastrukturen, Verhaltensweisen und sogar durch unsere Denkmuster.“

Die Basis der imperialen Lebensweise ist also kontinuierliche Ausbeutung, sei es von Mensch zu Mensch oder zwischen Menschen und der Umwelt. Weiter werden folgende Punkte genannt, die diese Lebensweise ermöglichen: Ungerechte Ressourcenverteilung, menschenunwürdige Arbeit, sowie die Ausbeutung der Natur. Natürlich sind nicht alle Menschen gleich von diesen Ungerechtigkeiten betroffen, sondern erfolgen diese anhand von unzähligen Intersektionalitäten zwischen strukturellen Diskriminierungen wie zum Beispiel gender inequality und Rassismus, während dominante Gruppen durch ihre Unterdrückung profitieren. Dies passiert durch globale Strukturen entlang einer Machtdynamik zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden, jedoch gibt es auch innerhalb einzelner Gesellschaften stets Gewinner*innen und Verlierer*innen. Die Imperiale Lebensweise als ein wissenschaftliches Konzept wiederum, welches von den Sozialwissenschaftlern Markus Wissen und Ulrich Brand 2017 geprägt wurde, bietet eine Erklärung, warum es trotz einer zunehmenden Bewusstseinsbildung über globale Ungerechtigkeiten bis jetzt nicht zu einem tiefgreifenden Wandel im Sinne einer sozial-ökologischen Transformation[2] kommt.

Nach Vorwort und Einleitung beginnt das Heft mit einem kurzen historischen Abriss der Geschichte der Imperialen Lebensweise, von Kolonialismus über Industrialisierung, Imperialismus und Fordismus bis hin zur neoliberalen Globalisierung. Danach wird anhand verschiedener Bereiche unseres alltäglichen Lebens veranschaulicht, wie die Imperiale Lebensweise sich äußert und welche Faktoren sie stabilisieren: Digitalisierung, Sorge, Geld und Finanzen, Ernährung und Landwirtschaft, Mobilität, sowie Bildung und Wissen.

Vor allem auf Letztere gehe ich in diesem Artikel tiefer ein. Während es kaum noch umstritten ist, dass unser kapitalistisches Wirtschaftssystem nicht mit dem Erhalt unseres Planeten vereinbar ist und zum Beispiel Großkonzerne und ihre Produktionsweisen immer mehr unter Druck geraten, fehlt es noch weitestgehend an einer Hinterfragung der grundlegenden Annahmen und Werte in Bezug auf die Menschheit, Wohlstand, Umwelt, Geschichte, Fortschritt und Wissen in unserer modernen Gesellschaft. Als einer der größten Einflüsse, wie sich diese Annahmen und Werte in uns allen installieren, funktioniert hier das Bildungssystem. Unsere Weltanschauung und Denkweise sind maßgebend geformt von dem Wissen, das uns in der Schule sowie später in der Universität vermittelt wird, weshalb es äußerst wichtig ist, zu analysieren, „was wir lernen und wie wir lernen“[3].

Doch gerade die Reduzierung von Wissensvermittlung auf Schule und Universität ist eine eurozentrische Annahme. Abgesehen davon, dass der Zugang zu Bildung nicht allen Menschen gleichermaßen gegeben ist, erkennen viele Kulturen das Lernen außerhalb formeller Institutionen höher an. Wenn wir also über das Bildungssystem reden, wie wir es hier in Deutschland gewohnt sind, meinen wir eigentlich „formelle, historisch-europäische (‚westliche‘) Bildung und […] dadurch vermittelte[s]‚ weiße[s] Wissen‘“[4]. Außerdem ist das Wissen, das wir in Bildungsinstitutionen aufnehmen, weder unabhängig noch neutral. Entgegen gängiger Meinungen vor allem in den Naturwissenschaften, kann Wissensforschung nicht von dem bestimmten gesellschaftlichen Standpunkt sowie der Identität des erforschenden Menschen getrennt werden. Diese sind zu einem Großteil weiß und stammen aus Europa oder Nordamerika. Wissen entsteht also schon in Strukturen der Ungleichheit und in einem Kontext von Macht und Herrschaft.

Historisch gesehen diente die Schule schon immer bestimmten Zwecken wie der Nationalstaatsbildung oder des Imperialismus – ihre Ausbreitung, die „Verschulung der Gesellschaft war ein europäisch-nordamerikanisches Programm des frühen 19. Jahrhunderts, das mit der Zeit weltweit zum Ziel staatlicher Politik erhoben wurde“[5]. Dies diente auch als zentrales Element von Kolonialherrschaften, die es sich zum Ziel machten, Gesellschaften komplett nach europäischem Vorbild umzustrukturieren. Zwar ist diese formelle Phase der Kolonisierung beendet, doch auch heute noch bauen Organisationen wie UNICEF oder die Bundeswehr im Rahmen eines Entwicklungsdiskurses, welcher auf westlichen Werten und Praktiken basiert, Schulen in allen möglichen Ecken der Welt. Dies hat zur Folge, dass sich nicht nur die Bildung, sondern sich ganze Lebensläufe weltweit dem westlichen Modell anpassen, welches die Schullaufbahn als den notwendigen Ausgangspunkt angibt, um später „abstrakte Erwerbsarbeit in Arbeitsmärkten“[6]  auszuführen. Die Wiedernatürlichkeit dieses Systems wird zum Beispiel anhand der Situation vieler indigener und traditioneller Völker deutlich. Durch die globale Ausweitung der Schulpflicht, vorangetrieben unter anderem durch das Programm ‚Education for All‘ der Vereinten Nationen, werden Kinder dieser Gemeinschaften in allen möglichen Fächern unterrichtet, die wenig Nutzen für ihre traditionelle Lebensweisen haben. Dadurch werden sie quasi automatisch in den Arbeitsmarkt eingeschleust und als Konsument*innen ausgebildet. Durch diese globale Ausbreitung der Bildung und Lebensweise des Globalen Nordens gelingt es immer mehr Menschen des Globalen Südens in eine globale Mittel- und Oberschicht aufzusteigen und sie beginnen, die Imperiale Lebensweise aktiv mitzutragen. Das „Menschenrecht auf Bildung“ scheint also nur auf „westliche“ Bildung bezogen zu sein und die Lebensweise, die so exportiert wird, bringt nicht nur gravierende sozial-ökologische Mängel mit sich, sondern bedingt auch das Zurückdrängen traditioneller Lebensformen, die bald komplett ausgelöscht sein könnten.

Während die Bildungsinhalte im Globalen Norden kaum etwas darüber vermitteln, wie ihre Lebensweise mit globalen sozialen und ökologischen Problemen zusammenhängt, wird im Globalen Süden kaum etwas über die lokalen Realitäten gelehrt, da sich ihre Bildungssysteme nach wie vor am Globalen Norden orientieren. Die impliziten Funktionsweisen, die von den Schüler*innen verinnerlicht werden, wie das Konkurrenzdenken, Leistungsorientierung und Hierarchie, werden heutzutage nicht mehr (wie noch in der Kolonialzeit) durch eine Institution geplant oder vorgegeben. Doch sind sie auch keineswegs zufällig:

            „Die Lehrinhalte und -formen hängen eng mit Machtverhältnissen und Wirtschaftsstrukturen in unserer Gesellschaft zusammen, stützen sie und erhalten sie, ohne sie zu benennen. Der implizite Lernstoff schleicht sich über die Methoden und Strukturen der Schule ein, oft unsichtbar und unabhängig von den Absichten der Lehrkraft“[7].

Wir können also zusammenfassen, dass Schulbildung maßgebend für den Verlauf des Lebens ist, in den meisten Fällen ist sie der Schlüssel zu einem komfortablen Leben. Gleichzeitig bildet und verfestigt sie Hierarchien und ordnet Menschen schon in sehr jungen Jahren in bestimmte Positionen ein, die sie in der Gesellschaft ausüben sollen. Seit jeher funktioniert die Schule als „Sozialisationsinstanz“, die zu bestimmten Haltungen erzieht: „Geisteshaltungen, Körperhaltungen, Haltungen zu sich selbst und zur Welt“[8]. Diese vermittelten Lebensformen dienen dazu, sich in der Arbeits- und Konsumgesellschaft zu profilieren, sind jedoch nicht darauf ausgerichtet, ein kritisches Reflektieren der imperialen Voraussetzungen dieser Gesellschaft anzustoßen. Gleichzeitig wird in der Schule immer wieder das Mantra wiederholt, dass unsere Welt eben so ist wie sie ist und es kaum Alternativen gibt – „so fördert die Schule die Ausweitung und Festigung der Imperialen Lebensweise“[9].

 

 

Anstatt darüber zu schreiben, wie auch das brasilianische Bildungssystem stark an eurozentrischen Werten und Annahmen orientiert ist und die starke Ungleichheit im Land aufrechterhält und weiter verstärkt, schreibe ich viel lieber über eine Bewegung, die versucht, sich gegen dieses hegemoniale System zu stellen und zu einer „anderen Welt“ auszubilden: die escolas do campo (Landschulen) der Landlosenbewegung MST.

Das Konzept der educação do campo wurde von verschiedenen sozialen Bewegungen der ruralen Gebiete Brasiliens entwickelt, welche von der Regierung fordern, politische Maßnahmen zu ergreifen, die speziell auf die Bedürfnisse der nicht-urbanen Bevölkerungsgruppen zugeschnitten werden. Historisch gesehen wurden Schulen auf dem Land von öffentlichen Behörden hochgradig vernachlässigt und unterfinanziert, was unter anderem die MST, den Nationalen Bund der Landarbeiter (CONTAG), die Bewegung der Kleinbäuerinnen und Kleinbauern (MPA), aber auch verschiedene Bewegungen aus Waldgebieten wie Indigene, Quilombolas oder Ribeirinhos, dazu anregte, ihr Recht auf adäquate Bildung beim Staat einzufordern[10]. Dabei geht es nicht nur darum, eine Bildung auf dem gleichen Qualitätslevel wie Schulen in den Städten zu bieten, sondern vor allem, dass der vermittelte Stoff an den Lebensstil der Landbevölkerung angepasst werden sollte. Diese Anerkennung der verschiedenen Bedürfnisse von Land – und Stadtbewohner*innen bezieht sich nicht ausschließlich auf ein geografisches Gebiet, sondern beinhaltet auch kulturelle Bedürfnisse, soziale Rechte und eine ganzheitliche Bildung der verschiedenen Individuen. In der Praxis heißt dies, dass die escolas do campo nicht zwangsmäßig auf dem Land liegen müssen, sondern es werden auch Schulen eingeschlossen, die in als urban klassifizierten Gebieten angesiedelt sind, jedoch einer Bevölkerung dienen, deren wirtschaftliche, soziale, sowie kulturelle Produktionsweisen hauptsächlich auf das Land ausgerichtet sind[11].

Zudem stellt die educação do campo auch einen Kampf gegen die heftige Stigmatisierung der Landbevölkerung dar, die vor allem in der brasilianischen Elite etabliert ist. Während sie sich zum Ziel setzt, diesen Antagonismus zwischen Stadt und Land zu überwinden und eine Gleichstellung der beiden zu erlangen, werden gleichzeitig „die Existenz unterschiedlicher Zeiten und Seins-, Lebens- und Produktionsweisen berücksichtigt und respektiert“[12], was im Widerspruch zur angeblichen Überlegenheit der Stadt gegenüber dem Land steht und verschiedene Modelle der Organisation von Bildung und Schule zulässt. Dadurch wird sowohl das universelle Recht auf Bildung eingefordert, als auch die Legitimität von Lehrprozessen, die signifikant für den lokalen Kontext sind.

Einer der wichtigsten Schwerpunkte dieses Bildungsmodells ist die Verteidigung eines Projektes wirtschaftlich gerechter und ökologisch nachhaltiger gesellschaftlicher Entwicklung[13]. Das Leitprinzip der escolas do campo ist eine demokratische Ausrichtung auf allen Ebenen der Verwaltung und Gestaltung, was die Einbeziehung der Familien sowie der Schüler*innen selbst in jegliche Prozesse, zum Beispiel in die Kommunikation mit öffentlichen Institutionen, beinhaltet. Die Arbeit in Kollektiven wird als ein wichtiger Mechanismus in der Ausbildung und Verknüpfung der Funktionen angesehen, welche die Schule in den Prozessen des gesellschaftlichen Wandels einnehmen kann[14]. Ein wichtiger Einfluss in dieser Pädagogik mit einer emanzipatorischen, kritischen und an die lokale Realität angepassten Vision ist der Pädagoge und Autor Paulo Freire (1921-1997)[15]. Durch einen Fokus auf Nachhaltigkeit und Diversität bestärken die Schulen neue Beziehungen zwischen Mensch und Natur sowie zu anderen Lebewesen unseres Ökosystems. Doch achten sie dabei nicht allein auf Umweltverträglichkeit und nachhaltige Landwirtschaft, sondern konzentrieren sich auch auf soziale Gerechtigkeit, Geschlechtergleichstellung, racial justice, Solidarität zwischen verschiedenen Generationen, sowie kulturelle und sexuelle Vielfalt[16].

Diese alternative und progressive Ausrichtung weckt in vielen den Eindruck, dass die escolas do campo wie ein Parallelstaat funktionieren, autonom von Regeln und Gesetzen, denen andere öffentliche Schulen unterworfen sind. Tatsächlich werden aber alle Schulen in Siedlungen des MST über kurz oder lang in das öffentliche Schulsystem eingegliedert und müssen sich nach dem nationalen Lehrplan richten, was von der Bewegung auch vehement verteidigt wird. Dadurch werden auch gesetzlich festgelegte Fächer wie zum Beispiel Mathematik, Portugiesisch oder Geschichte unterrichtet. Jedoch werden diese aus der Perspektive des lokalen Kontexts gelernt und durch andere Disziplinen ergänzt, wie zum Beispiel Agrarökologie oder gesunde und unvergiftete Ernährung[17]. In Querência do Norte im Bundesstaat Paraná zum Beispiel haben die Schüler*innen Unterricht in „Ländlicher Kultur“ oder „Landwirtschaftliche und Ökologische Methoden“, wo sie Plantagen besuchen. Die Bildung wird dadurch auf andere Räume erweitert, auch Demonstrationen, Kongresse, Seminare und Besetzungen spielen eine wichtige Rolle in der Ausbildung der Schüler*innen für ihre spezifische Lebensrealität[18].

In der Bildungspolitik herrschte lange die Annahme (und teilweise auch heute noch), dass die Problematik der Schulen auf dem Land alleine mit ihrer geografischen Lage in den dünn besiedelten ländlichen Regionen zu tun hätte, was unter anderem bedeutet, dass die Schüler*innen eine große Distanz zwischen ihrem Wohnort und der Schule zurücklegen müssen. Außerdem hat die reduzierte Anzahl an Schüler*innen die direkte Folge von niedrigeren Ausgaben für die Erhaltung des ländlichen Unterrichts. Gleichzeitig ist das von starken Vorurteilen geprägte Ansehen der Landbewohner*innen und -arbeiter*innen ein Produkt des Sklavenmodells, das Portugal bei der Kolonisierung Brasiliens anwendete und später von den Brasilianer*innen selbst bei der Kolonisierung des Landesinneren übernommen wurde.  Landarbeiter*innen erfuhren nicht nur brutale Ausbeutung, sondern auch eine systematische Verweigerung von Sozial- und Arbeitsrechten durch die Landbesitzer*innen. Darüber hinaus diente die Auffassung, dass das "universelle" Wissen, das von der so genannten zivilisierten Welt produziert wird, auf alle ausgeweitet - oder aufgezwungen - werden sollte, dazu, das Recht auf eine kontextualisierte Bildung, die die Lebens-, Denk- und Produktionsweisen der verschiedenen Völker auf dem Land respektieren würde, zu verwehren. Stattdessen wurde einem kleinen Teil der Landbevölkerung eine instrumentelle Ausbildung angeboten, die sich auf die Befriedigung elementarer Bildungsbedürfnisse und auf die Ausbildung der Arbeitskräfte beschränkte[19].

Im Rahmen des Widerstands gegen die Militärdiktatur, vor allem ab Mitte der 80er Jahre, haben Organisationen der Zivilgesellschaft die educação do campo als eines der strategischen Themen in der Redemokratisierung des Landes aufgenommen. Die Idee war, ein Bildungsmodell zu fordern und gleichzeitig aufzubauen, das auf die kulturellen Besonderheiten, sozialen Rechten und Bedürfnissen des Lebens der Landbewohner*innen abgestimmt ist. In diesem politischen Umfeld, das Mobilisierung und pädagogisches Experimentieren miteinander kombinierte, vereinten sich unter anderem Gewerkschaften der Landarbeiter*innen, Organisationen ländlicher Gemeinden, Pädagog*innen, die mit dem Widerstand gegen die Militärdiktatur verbunden waren, linke politische Parteien, Gewerkschaften und Vereinigungen von Bildungsfachleuten, mit der Befreiungstheologie identifizierte Sektoren der katholischen Kirche und Organisationen, die mit der Agrarreform in Verbindung standen. Als leitende Akteur*innen in diesem Moment sind die MST, die Pastorale Landarbeiterkommission (CPT), der nationale Landarbeiter*innenbund (Contag), sowie die Bewegung der kirchlichen Basis (MEB) hervorzuheben. Circa zehn Jahre später wurde die Nationale Verbindung für eine Bildung des Landes gegründet, eine Schirmorganisation für die verschiedenen Bewegungen, die damit begann, gemeinsame Aktionen zur Bildung der Landbevölkerung auf nationaler Ebene zu fördern und zu verwalten. Unter den Errungenschaften dieser Organisation sind zum Beispiel die Durchführung zweier nationaler Konferenzen für eine Grundschulbildung in den escolas do campo in den Jahren 1998 und 2004. Die Schaffung des Sekretariats für Weiterbildung, Alphabetisierung und Vielfalt im Bildungsministerium im Jahr 2004, dem die Allgemeine Koordinierung der educação do campo angehört, bedeutet die Aufnahme einer Instanz in die föderale Staatsstruktur, die speziell dafür zuständig ist, diese Forderung nach Anerkennung ihrer Bedürfnisse und Besonderheiten zu erfüllen[20].

Diese kollektiven Anstrengungen waren in der Lage, das hegemoniale Projekt der ländlichen Entwicklung zu hinterfragen und Alternativen zu den traditionellen Landschulen sowie dem Prozess der Erzieher*innenausbildung vorzustellen. Die escolas do campo sind also ein Beispiel, wie es möglich ist, die hegemonialen Denkweisen und Praktiken (in diesem Fall im Bereich Bildung) zu hinterfragen und Alternativen zu entwickeln, ohne komplett aus dem System aussteigen zu müssen. Durch das Erwirken von Veränderungen im persönlichen - sowohl geografischen als auch kulturellen – Umfeld, haben die Denker*innen und Schaffer*innen der escolas do campo nicht nur die Lebensaussichten von vielen jungen Menschen verbessert, sondern auch imperiale Denkweisen und Strukturen herausgefordert. Zwei Schulen der MST im Bundesstaat Piauí im Nordosten Brasiliens errangen 2017 die höchsten Werte des Entwicklungsindex der Grundschulen (IDEB) in ihren jeweiligen Bezirken. Trotz des Mangels an Publizität und Anerkennung durch die Stadtverwaltung führte die gute Performance im IDEB dazu, dass die Vorurteile in der Gemeinde über den Unterricht an Schulen in MST-Siedlungen abnahmen und mehr Schüler*innen auch von außerhalb an Schulen in den assentamentos eingeschrieben wurden[22].

Trotz des Erfolgs und der vielen Errungenschaften über die letzten Jahrzehnte, steht die educação do campo vor großen Herausforderungen, da sich immer direktere Attacken gegen das System häufen. Vor allem Projekte des MST sowie von Quilombolas, die explizit als Raum des Widerstands und Verteidigung ihrer Lebens- und Produktionsweisen agieren, sehen sich immer stärkeren Angriffen ausgesetzt. Präsident Jair Bolsonaro hat schon früh klargemacht, dass die MST ganz oben auf seiner Feindesliste steht und er die Bewegung „fertig machen“ wird. Eine Bildungspolitik, die diese Art von Unterricht und den Widerstand dieser Menschen stärkt, ist also dringender denn je.

Von Hannah Dora

  

[1] Mit dem Begriff Globaler Süden wird eine im globalen System benachteiligte gesellschaftliche, politische und ökonomische Position beschrieben. Globaler Norden hingegen bestimmt eine mit Vorteilen bedachte Position (Bendix u.a. 2013: 8).

[2] Glossar: Grundlegende Veränderung der politischen und ökonomischen Systeme: Weg von fossilen Brennstoffen und Wachstumslogik, hin zu einer Wirtschaft, die dem guten Leben für alle dient. Sie ist tiefgreifender als eine Reform und weniger abrupt als eine Revolution (I.L.A-Kollektiv 2017: 97)

[3]I.L.A. Kollektiv 2017: 48

[4]Ebd.

[5]    Osterhammel 2009: 1131

[6]I.L.A. Kollektiv 2017: 50

[7]I.L.A. Kollektiv 2017: 51

[8]I.L.A. Kollektiv 2017: 52

[9]Ebd.

[10]  https://mst.org.br/2019/03/25/como-funcionam-as-escolas-do-campo-que-estao-na-mira-do-governo-bolsonaro/

[11]http://portal.mec.gov.br/secad/arquivos/pdf/educacaocampo.pdf

[12] Ebd.

[13] Ebd.

[14] https://novaescola.org.br/conteudo/8888/as-escolas-e-o-mst

[15] https://mst.org.br/2019/03/27/protagonismo-das-escolas-em-assentamentos-quebra-preconceitos-sobre-ensino-no-campo/

[16] http://portal.mec.gov.br/secad/arquivos/pdf/educacaocampo.pdf

[17] https://novaescola.org.br/conteudo/8888/as-escolas-e-o-mst, https://mst.org.br/2019/03/27/protagonismo-das-escolas-em-assentamentos-quebra-preconceitos-sobre-ensino-no-campo/)

[18] https://novaescola.org.br/conteudo/8888/as-escolas-e-o-mst

[19] http://portal.mec.gov.br/secad/arquivos/pdf/educacaocampo.pdf

[20] Ebd.

[21]Ansiedlungen auf ungenutztem Boden

[22]https://mst.org.br/2019/03/27/protagonismo-das-escolas-em-assentamentos-quebra-preconceitos-sobre-ensino-no-campo/