Außergerichtliche Hinrichtungen und polizeiliche Gewalt in den Armenvierteln von Rio de Janeiro

Mit über 40.000 Tötungsdelikten pro Jahr kann Brasilien zu den gewalttätigsten Ländern der Welt gezählt werden.
| von Carsten Gissel (Amnesty International Brasiliengruppe Köln)

Die Bewohner der Favelas von Rio de Janeiro sind im besonderen Maße von dieser Situation betroffen. Viele dieser Bezirke wurden de facto vom Staat aufgegeben und stehen unter der Kontrolle von Drogenkartellen oder kriminellen Banden. Den Bewohnern der Favelas wird aber nicht nur ein wirksamer staatlicher Schutz vor der Kriminalität und Gewalt vorenthalten; die staatlichen Sicherheitsorgane sind selbst für eine große Anzahl massiver Menschenrechtsverletzungen in diesen Gegenden verantwortlich.

Im Jahr 2003 wurden in Rio de Janeiro 1196 polizeiliche Tötungen registriert, wobei die Dunkelziffer sicherlich deutlich höher liegt. Die Zahl der Personen, die nach offiziellen Angaben von der Polizei erschossen wurden, hat sich somit im Vergleich zum Jahr 2001 verdoppelt.
Diese Tötungen werden von Seiten der Polizei als legitime Notwehr gerechtfertigt. Es gibt jedoch eindeutige Hinweise darauf, dass es sich bei der großen Mehrzahl der polizeilichen Tötungen nicht um Notwehr, sondern um außergerichtliche Hinrichtungen handelt, was durch verschiedenste Berichte und Untersuchungen bestätigt wird: So wiesen z.B. nach einer Untersuchung des Institutes ISER für den Zeitraum 1993-1996 in Rio de Janeiro 65% der Leichname Schüsse in den Rücken auf, 61% Schüsse in den Kopf und in 83% der Fälle gab es keine Zeugen.
Für die polizeilichen Tötungen wurde im Bundesstaat Rio de Janeiro die Kategorie "Widerstand mit Todesfolge" geschaffen, die zwar nicht im Strafgesetzbuch vorgesehen ist, die aber trotzdem als "de facto legale" Bezeichnung von Seiten der Polizei genutzt wird, um die polizeilichen Tötungen zu registrieren. In der Regel wird keine Untersuchung eingeleitet, und es kommt in den seltensten Fällen zu Verurteilungen von Polizisten.
Außergerichtliche Hinrichtungen sind die offensichtlichsten Merkmale einer massiven Missachtung der Menschenrechte in den Elendsvierteln von Rio de Janeiro durch die staatlichen Sicherheitsorgane. Von verschiedenen Menschenrechtsorganisationen werden häufig Folter in Polizeigewahrsam und massive spontane Misshandlungen registriert. Symptomatisch für diese Missachtungen der Menschenrechte sind die invasionsartigen Großaktionen der Polizei in den Armenvierteln der Stadt, bei denen es regelmäßig zu einem indiskriminierenden Einsatz von Gewalt kommt.
In der brasilianischen Öffentlichkeit stoßen gewaltsame Polizeiaktionen in den Favelas oft auf breite Zustimmung. Grund hierfür ist zum einen eine soziale Stigmatisierung der Favela - Bewohner, besonders Jugendlicher, als "Bandidos" - "Verbrecher", was treffend mit einer "Kriminalisierung der Armut" umschrieben wird, zum anderen ein Diskurs, der ein Entweder-Oder zwischen "innerer Sicherheit" und Einhaltung der Menschenrechte unterstellt.
Die brasilianische Regierung legte einen viel versprechenden Reformvorschlag zur Bekämpfung der Polizeigewalt vor: Durch eine umfassende Umstrukturierung und teilweise Vereinheitlichung der öffentlichen Sicherheitssysteme (Sistema Único da Segurança Pública) sollte sowohl die Effizienz des staatlichen Vorgehens gegen die organisierte Kriminalität erhöht, als auch die Einhaltung der Menschenrechte durch die staatlichen Sicherheitsorgane garantiert werden. Diese Reform scheint jedoch im Augenblick wegen des Widerstandes der Bundesstaaten nicht durchsetzbar zu sein. Eine Verbesserung der fatalen Menschenrechtssituation in den Armenvierteln ist daher nicht absehbar.