Aide-Mémoire aus Anlass des Gesprächs mit Außenministerin Annalena Baerbock am 28.08.2023

Am 28.8. fand ein Gespräch des Forums Menschenrechte mit der Außenministerin Annalena Baerbock und der Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung Luise Amtsberg statt. Misereor, die Gesellschaft für bedrohte Völker, Terre des Hommes Deutschland (in Zusammenarbeit mit Caritas International, Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile Lateinamerika FDCL, KoBra - Kooperation Brasilien e.V.) haben aus diesem Anlass ein Aide-Mémoire eingereicht, das die aktuelle Menschenrechtsproblematik in Brasilien und Empfehlungen für die deutsche Politik zusammenfasst.
| von hannah.dora@kooperation-brasilien.org
Aide-Mémoire aus Anlass des Gesprächs mit Außenministerin Annalena Baerbock am 28.08.2023
Indigener Protest beim Acampamento Terra Livre 2023. Foto: Hannah Dora

Beschreibung der Menschenrechtsproblematik:

Bedrohungslage von Indigenen und traditionellen Gemeinschaften (u. a. Quilombolas) hält an:

Aufgrund von wirtschaftlichen Interessen, die v. a. auf den Rohstoffabbau und -export abzielen (z.B. Bergbau, Sojaanbau), und der politischen Konjunktur nahm in den letzten Jahren der Druck auf Territorien indigener Völker und traditioneller Gemeinschaften enorm zu und führte dazu, dass sie zum Teil in ihrer Existenz unmittelbar bedroht sind. Landkonflikte und damit einhergehende Gewalt gegen die Bevölkerungsgruppen sind in den Jahren von 2019 bis 2022 deutlich angestiegen, wobei sich diese v.a. auf Regionen konzentrieren, wo Agrobusiness und Bergbau expandieren und die höchsten Abholzungsraten zu verzeichnen sind. Der international vielbeachtete Fall der Yanomami zeigt diese Entwicklung exemplarisch auf. Die aktuelle Lula-Regierung hat vielversprechende Ankündigungen hinsichtlich des Schutzes indigener Völker, traditioneller Gemeinschaften und des Amazonasgebiets gemacht und erste wichtige Maßnahmen ergriffen. Gleichzeitig besteht die Regierung aber aus einer heterogenen Koalition, welche auch die Interessen und Akteure des Agrar- und Bergbausektors abbildet. Im Abgeordnetenhaus und im Senat ist die Agrar-Fraktion sogar in der Mehrheit und in den Häusern wurden bereits Vorhaben verabschiedet, welche sich dezidiert gegen die Rechte indigener Völker und traditioneller Gemeinschaften richten (u.a. die Stichtagsregelung Marco Temporal im Abgeordnetenhaus). Vertreter*innen indigener und traditioneller Gemeinschaften werden weiterhin von Holzfällern, Goldgräbern, Bergbauprojekten, Großgrundbesitzern und der Drogenmafia bedroht. Auch große Infrastrukturprojekte wie Eisenbahnlinien (z. B. Ferrogrão, Ferrovia do Pará, Fiol), Schifffahrtswege (z.B. Tocantins-Araguaia) oder Hafenanlagen (z. B. Cargill Abaetetuba, Porto Sul Ilhéus), welche die Erschließung und den Export von Rohstoffen ermöglichen sollen, bedrohen oder verletzen bereits die Rechte (u.a. Recht auf - Free, Prior and Informed Consent (FPIC)) von zahlreichen indigenen Völkern und traditionellen Gemeinschaften und haben aufgrund des beschriebenen Kontexts gute Chancen, zeitnah umgesetzt bzw. in Betrieb genommen zu werden.

Situation von Menschenrechtsverteidiger*innen (MRV):

Die Situation der MRV in Brasilien ist weiterhin kritisch. Die Nichtregierungsorganisationen Terra de Direitos und Justiça Global haben in einem Bericht vom Juni 2023 die Fälle für 2019 bis 2022 mit insgesamt 1.171 Übergriffen beziffert, von denen 169 Morde und 197 Attentate waren. Nahezu die Hälfte der Fälle sind Bedrohungen (579), aber auch die Kriminalisierung der MRV hat mit über neun Prozent einen wachsenden Anteil an den Aggressionen gegen MRV. Die Mehrzahl der Übergriffe stand in Zusammenhang mit Land- und Territorialkonflikten im Umfeld traditioneller Völker und Gemeinschaften. Auch die MRV, die sich für die Opfer von Bergbaukatastrophen engagieren, sind nach wie vor Bedrohungen ausgesetzt. Im Umfeld der Organisierung der Opfer des Dammbruchs von Brumadinho von 2019 werden Sprecher*innen der Bewegung weiter bedroht und mussten teilweise die Region im Bundesstaat Minas Gerais oder das Land verlassen. Auch die Mehrheit bedrohter indigener MRV erhält kaum oder nur geringe Unterstützung seitens der zuständigen brasilianischen Institutionen aufgrund der langsamen Strukturierung des unter Lula erstmalig eingeführten Ministeriums für indigene Völker und der FUNAI, welche während der Bolsonaro-Regierung stark geschwächt wurde. Überdies reichen die internationalen Programme für den Schutz von MRV nicht aus, um die bedrohten MRV zu unterstützen. Mit dem Amtsantritt der Lula-Regierung ist die Erwartung verbunden, dass die staatliche Politik zum Schutz von MRV wieder eine Priorität wird und bestehende Schutzinstrumente effektiv genutzt werden. Das staatliche Programm zum Schutz von MRV (PPDDH) wurde mit einer neuen Leitung ausgestattet, die Fachlichkeit und Erfahrung mitbringt sowie Vertrauen in der engagierten Zivilgesellschaft genießt. Dennoch lässt die begrenzte Ressourcenausstattung nicht den qualitativen Sprung erwarten, der nötig wäre, um die Herausforderungen in den besonders betroffenen Sektoren und Bundesstaaten effektiv anzugehen. Weiterhin beruht das Programm bis heute lediglich auf einer präsidentiellen Verordnung. Eine Gesetzesvorlage sollte in Kürze in den Kongress gebracht werden, um eine stabile rechtliche Grundlage für die staatliche Schutzpolitik zu schaffen.

Waffen, Polizeigewalt und Gewalt gegen Jugendliche:

In Brasilien wurden im Jahr 2021 47.500 Menschen ermordet, 6.145 davon (13%) durch die Polizei - absolut als auch prozentual einer der höchsten Werte weltweit. In Teilen des Landes herrschen seit vielen Jahren Konflikte, die Zivilbevölkerung steht bei den Gefechten zwischen kriminellen Banden und Polizei zwischen den Fronten. Die Polizei dringt brutal mit schweren Waffen in dicht besiedelte Viertel ein, dabei werden regelmäßig auch deutsche Kleinwaffen und Munition eingesetzt, ebenso Hubschrauber des deutsch-französischen Herstellers Airbus und andere deutsche Rüstungsgüter. Es kommt immer wieder zu Massakern. Der Wert für Polizeigewalt lag 2021 fast dreimal höher als 2013. 99% der Opfer von Polizeigewalt sind männlich, 84% sind Afrobrasilianer*innen, 9% sind Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre; die Polizei in Brasilien tötet demnach täglich im Schnitt ein bis zwei Kinder und Jugendliche. Gegen Kinder und Jugendliche geht die Polizei oft brutaler vor als gegen Erwachsene. Im Bundesstaat São Paulo z.B. werden Kinder und Jugendliche bei Festnahmen durch die Polizei fast doppelt so oft getötet wie Erwachsene: 6,1 bei 1.000 Festnahmen im Vergleich zu 3,4 Erwachsenen. Misshandlungen, Gewalt und willkürliche Verhaftungen von Kindern und Jugendlichen sind an der Tagesordnung. Die Polizeigewalt wird durch rechtspopulistische Politiker*innen rhetorisch angeheizt und wurde in den letzten Jahren mit Dekreten und gesetzlichen Regelungen gefördert, die die hohe Straflosigkeit bei Polizeigewalt weiter begünstigt haben. Zudem wurden in der letzten Legislaturperiode durch die Regierung Bolsonaro sowohl der Waffenimport als auch der Erwerb von Waffen für Zivilist*innen stark erleichtert. Viele der Waffen von Polizei und Militär stammen von deutschen Herstellern, vor allem von Heckler&Koch und SIG Sauer. Laut SIPRI ist Deutschland einer der größten Rüstungsexporteure nach Brasilien. In den 3,5 Jahren von Anfang 2019 bis Juli 2022 hat die deutsche Regierung Rüstungsexporte nach Brasilien im Wert von 425 Mio. Euro genehmigt, alleine im ersten Halbjahr 2022 im Wert von 85 Mio. Euro. Der Mord an der Stadträtin Marielle Franco aus Rio de Janeiro im Jahr 2018, Kritikerin von Polizeigewalt, wurde nach Ermittlungen der Staatsanwaltschaft mit einer MP5-Maschinenpistole von Heckler&Koch verübt. Bis dato konnte die Polizei die Drahtzieher*innen des Verbrechens nicht ermitteln oder feststellen, ob die beiden Angeklagten tatsächlich Täter waren, da sie bis heute nicht vor Gericht gestellt wurden. Die Studie „Polizeigewalt gegen Kinder und Jugendliche in Brasilien und Waffenhandel“ (2021) belegt, dass deutsche und europäische Waffen bei vielen weiteren Gewalttaten eingesetzt wurden.


Konkrete Anfragen bzw. Empfehlungen:

Wir bitten die Bundesregierung

  • Einen bilateralen Dialog zur Umsetzung der ILO-Konvention 169 durch Brasilien und Deutschland zu beginnen, um sicherzustellen, dass Produkte und Dienstleistungen aus beiden Ländern nicht gegen die Rechte indigener Völker und traditioneller Gemeinschaften verstoßen.
  • Auf die effektive Umsetzung des Lieferkettengesetzes hinzuwirken und sich für ein solches Gesetz auf EU- und UN-Ebenen einzusetzen.
  • Bei den anstehenden Regierungsverhandlungen die Notwendigkeit der brasilianischen Ratifizierung des Escazú-Abkommens zu betonen, die entsprechende Umsetzung zu begleiten und auf die Europäische Kommission einzuwirken, um die umweltbezogenen Teilhaberechte des Abkommens im europäischen Lieferkettengesetz verbindlich zu verankern.
  • Die Ukraine-Krise nicht als Vorwand zu nutzen, um die Expansion von Bergbauaktivitäten zu fördern (besonders mit Blick auf die Vergabe von Abbaulizenzen z.B. in Amazonien).
  • Sich dafür einzusetzen, dass Brasilien eine angemessene Konsultation (FPIC) der indigenen Völker und traditionellen Gemeinschaften und ihre Beteiligung an allen sie betreffenden legislativen/administrativen Maßnahmen sicherstellt. Auch sollen der Schutz der Bevölkerungsgruppen, insbesondere ihrer Land- und Umweltrechte, und die Durchführung von Demarkierungsprozessen gewährleistet und die Funktionsfähigkeit dafür wichtiger Behörden gefördert werden.
  • Neuverhandlungen zum EU-Mercosur-Abkommen anzustrengen und auf die Stärkung der bisher mangelhaften Bestimmungen zu Menschenrechten und Nachhaltigkeit hinzuwirken, anstelle der Durchsetzung einer Zusatzvereinbarung. In seiner jetzigen Form schafft das geplante Abkommen Anreize für Entwaldung, Ausbreitung des Agrobusiness und Vertreibung von kleinbäuerlichen Familien, indigenen und traditionellen Gemeinschaften.
  • Im Dialog mit der brasilianischen Regierung auf die Notwendigkeit der Aufnahme von Indigenen und traditionellen Gemeinschaften in Schutzprogrammen zu Amazonien und anderen Ökosystemen und des Ausbaus von Kontrollmechanismen innerhalb der Förderprogrammehinzuweisen, damit die geförderten Bundesstaaten ihre Aufgaben beim Waldschutz effektiv erfüllen.
  • Die Debatte um eine gesetzliche Grundlage des staatlichen Schutzprogramms PPDDH zu begleiten, um zu garantieren, dass die staatlichen Schutzpolitiken für MRV mit den internationalen Verpflichtungen des brasilianischen Staates umgesetzt werden können. Auch sollte das PPDDH mit ausreichend Ressourcen ausgestattet werden, um effektiven Schutz für die bedrohten MRV zu leisten. Die entsprechende Empfehlung Deutschlands aus dem UPR-Verfahren sollte in ihrer Umsetzung beobachtet und begleitet werden.
  • Dafür Sorge zu tragen, dass Programme der deutschen EZ, wie etwa der Amazonas-Fonds mit Elementen des Schutzes für die in dieser Region betroffenen MRV begleitet werden, die für die sozialen Organisationen einfach zugänglich sind.
  • Einen sofortigen Stopp aller Exporte von Rüstungsgütern nach Brasilien und die Überprüfung des Endverbleibs der bereits gelieferten Rüstungsgüter, insbesondere von Kleinwaffen und Munition, zu veranlassen. Darüber hinaus bedarf es seitens der Bundesregierung einen konsequenten Einsatz für Rechtsstaatlichkeit und das Ende der hohen Straflosigkeit in Brasilien, insbesondere bei Strafverfolgung staatlicher Akteure (Polizei, Militärpolizei und Militär). In Deutschland sollte zudem auf einen gesetzlich verankerten Stopp von Rüstungsexporten in Länder mit bewaffneten Konflikten und schweren Menschenrechtsverletzungen (wie Brasilien) hingewirkt werden.