Aide Memoire 2025 zu Brasilien

KoBra und FDCL dokumentieren hier das Aide Memoire 2025 zu Brasilien, erstellt von Misereor, Gesellschaft für bedrohte Völker, Terre des Hommes in Kooperation mit Kooperation Brasilien, Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika.
| von Christian.russau@fdcl.org
Aide Memoire 2025 zu Brasilien
Aide memoire 2025 zu Brasilien

KoBra und FDCL haben sich an der Erstellung eines Aide Memoire zur Situation der Menschenrechte in Brasilien durch Misereor, Gesellschaft für bedrohte Völker und Terre des Hommes beteiligt, das anlässlich des Gesprächs des Forums Menschenrechte mit dem Außenminister Johann Wadephul am 19. November 2025 zusammen mit 89 weiteren thematischen und länderbezogenen Aide Memoire übergeben wurden.

Das Gesamtdokument „Aide-Mémoires des Forum Menschenrechte 2025“ steht unter diesem Link frei zum Download:
https://www.forum-menschenrechte.de/aide-memoires-2025/

KoBra und FDCL dokumentieren hier das Aide Memoire zu Brasilien, erstellt von Misereor, Gesellschaft für bedrohte Völker, Terre des Hommes in Kooperation mit Kooperation Brasilien, Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika.

Aide Memoire zu Brasilien 2025:
Beschreibung der Menschenrechtsproblematik:
Im Jahr 2025 zeigen sich in der brasilianischen Menschenrechtspolitik sowohl Fortschritte als auch anhaltende strukturelle Herausforderungen. Nach der Wiederaufnahme zahlreicher partizipativer Mechanismen und der Reaktivierung von staatlich-zivilgesellschaftlichen Liaisongremien (conselhos) auf föderaler, bundesstaatlicher und kommunaler Ebene ist eine schrittweise Konsolidierung demokratischer Strukturen zu beobachten. Gleichzeitig bleiben die verfügbaren Haushaltsmittel und institutionellen Kapazitäten vieler neu geschaffener oder reorganisierter Ministerien begrenzt, was die Umsetzung menschenrechtlicher Maßnahmen erschwert.

Indigene Rechte: Die Expansion der Agrarwirtschaft, Bergbau, legale und illegale Waldrodung, Kohlenstoffmärkte sowie Infrastrukturprojekte gefährden weiterhin das Leben der indigenen Völker, afrobrasilianischer (wie z. B. Quilombolas) und anderer traditioneller Gemeinschaften. Der Indigenendachverband APIB warnt vor einer zunehmend anti-indigenen Agenda im Kongress, wo auf Initiative des Agrobusiness über 20 Gesetzentwürfe verhandelt werden. So setzt z. B. das Gesetz 14.701/2023 einen verfassungswidrigen Rechtsrahmen für die Stichtagsregelung Marco Temporal und spiegelt historische Ausbeutungsdynamiken wider.

Land- und Territorialkonflikte: 2024 wurden laut Indigenenmissionsrat CIMI in 19 Bundesstaaten in 114 indigenen Territorien 154 Territorialkonflikte dokumentiert. In 21 Bundesstaaten kam es in 159 indigenen Gebieten zu 230 Fällen illegaler Inbesitznahme, Ausbeutung natürlicher Ressourcen und Sachbeschädigungen. In 424 Fällen kam es zu Gewalt gegen Personen, darunter 211 Morde und 20 Fälle von Totschlag. Ein Anstieg um 3 % zum Vorjahr. Indigene Völker und Quilombolas werden von Holzfäller:innen, Goldgräber:innen, Bergbaufirmen, Großgrundbesitzenden und der Drogenmafia bedroht.

Infrastrukturprojekte wie Wind- und Solarparks, Wasserkraftwerke und Bergbau-Tailings, Straßenbau, Eisenbahnlinien (z. B. Ferrogrão, Ferrovia Norte-Sul, Fiol), Schifffahrtswege (z. B. An den Flüssen Tapajós, Tocantins und Madeira), Hafenanlagen (z. B. Cargill Abaetetuba, Porto Sul Ilhéus) sowie die Erdölexploration an der Amazonas-Mündung verletzen die Rechte vieler traditioneller Völker. Die Beschwerden Indigener gegen den CO2-Handel (wie z. B. durch die Bundesstaatsregierung von Pará) nehmen wegen der Verletzung indigener Territorialrechte ebenfalls zu.

Situation von Menschenrechtsverteidiger:innen (MRV): Die Verteidigung der Menschenrechte in Brasilien ist weiterhin mit sehr hohen Risiken verbunden. Die Menschenrechtsorganisationen Terra de Direitos und Justiça Global dokumentieren für die Jahre 2023-24 zwar einen Rückgang der Gesamtzahl von Aggressionen auf 188 (2024) und damit auf den niedrigsten Stand seit dem Beginn der systematischen Erfassung 2019. Dieser Rückgang fand allerdings im Bereich der Bedrohungen statt, während die Zahl der physischen Anschläge und Morde weiter auf hohem Niveau verbleibt. Die am stärksten betroffenen Bundesstaaten sind Pará, Bahía und Mato Grosso do Sul.
Global Witness stellt fest, dass die hohen Risiken besonders MRV von Landrechten sowie Aktivist:innen aus indigenen und afrobrasilianischen Bewegungen betreffen. Deutlich wird in allen Berichten, dass die organisierte Kriminalität eine immer größere Rolle bei den Aggressionen gegen MRV spielt. Das staatliche Schutzprogramm für MRV steht weiterhin vor großen Herausforderungen angesichts der massiven Aggressionen und der ungebrochen hohen Zahl an Fällen in den am stärksten betroffenen Bundesstaaten. Im April hat die staatlich-zivilgesellschaftliche Arbeitsgruppe „Sales Pimenta“ Empfehlungen für die Stärkung der Effektivität der staatlichen Schutzpolitik vorgelegt, mit denen Fortschritte erreicht werden sollten.

Tötungsraten und Polizeigewalt: Gewaltsamer Tod ist nach wie vor die häufigste Todesursache bei Jugendlichen zwischen 15 und 19 Jahren. Laut dem Atlas der Gewalt kam es im Jahr 2023 zu 45.747 im Land registrierten Morden. 47,8 % (21.856) der Opfer sind Jugendliche (etwa 60 Jugendliche wurden 2023 pro Tag ermordet). Allein zwischen 2019 und 2021 schätzt das Brasilianische Forum für öffentliche Sicherheit FBSP, dass etwa 6.000 Menschenleben hätten gerettet werden können, wenn die Regierung Bolsonaro die Waffengesetzgebung nicht liberalisiert hätte. Laut dem brasilianischen Jahrbuch für öffentliche Sicherheit verloren im Jahr 2024 6.243 Menschen ihr Leben durch Todesfälle infolge von Polizeigewalt: 82 % der Opfer waren Afrobrasilianer:innen, während 99,2 % Männer waren.
Weiterhin ist die brasilianische Polizei (inkl. Militärpolizei) laut vorliegenden Statistiken mit Abstand die gewalttätigste weltweit, sie tötet jeden Tag im Schnitt 17 Menschen. Allgemein herrscht fast vollständige Straflosigkeit bei Gewalttaten von Polizist:innen und Militärs. Gemäß den menschenrechtlichen Verpflichtungen des Waffenhandelsvertrags und des gemeinsamen Standpunkts der EU zu Waffenexporten dürfen deswegen keine Rüstungsgüter an Brasilien geliefert werden. Im Jahr 2023 erfolgten dennoch deutsche Rüstungsexporte im Wert von 58 Mio. Euro an Brasilien, darunter u. a. Teile für Helikopter, die auch bei Menschenrechtsverletzungen eingesetzt werden, wie sie u. a. von Terre des Hommes dokumentiert wurden. Obwohl Kinder Opfer tödlicher Gewalt sind, leiden sie auch sehr stark unter nicht-tödlichen Übergriffen wie sexueller Gewalt. Im Jahr 2023 gab es 40.101 angezeigte Fälle sexueller Gewalt gegen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 0 und 19 Jahren, wobei 65 % der Fälle in der Altersgruppe der 5- bis 14-Jährigen auftraten. Die Dunkelziffer liegt deutlich höher.

Gewalt gegen Frauen: Laut FBSP stieg 2024 die Gewalt gegen Frauen an. Femizide lagen um 1 % höher als im Vorjahr. Die Schutzmaßnahmen für Opfer häuslicher Gewalt erwiesen sich als ungenügend im Hinblick auf Vorbeugung von Femiziden. Der Anstieg offenbart die geringe Effektivität des Staates, vor allem der Bundesstaaten, bei der Umsetzung von Politiken zur Bekämpfung des gesamten Zyklus der Gewalt gegen Frauen. Das feministische Institut SOS Corpo konstatiert ein Wachstum des Antifeminismus, der zu diesem deutlichen Anstieg der geschlechtsspezifischen Gewalt in all ihren Dimensionen und Altersgruppen beigetragen habe. Diese Verbrechen zeigten, wie sehr der Machismo in der Kultur verankert ist und dass die Aufrechterhaltung und Zunahme der Gewalt Ausdruck einer Kombination aus konservativen, machistischen, rassistischen und strukturell frauenfeindlichen Ideologien ist.

Unternehmensverantwortung: Der Fall des Dammbruchs von Brumadinho (2019) und dessen gerichtlich ausstehende Untersuchung bzgl. der Verantwortung des TÜV SÜD sowie der Fall des kürzlich erstinstanzlich bestätigten Gerichtsurteils gegen VW do Brasil wegen sklavenarbeitsähnlicher Zwangsarbeit auf der amazonischen VW-Farm Vale do Cristalino (1974-1986) zeigen dringenden Handlungsbedarf der deutschen Bundesregierung, das LkSG zu stärken statt es unter dem Argument der Entbürokratisierung zu schwächen.

Konkrete Anfragen bzw. Empfehlungen an die Bundesregierung:
→ Die Bundesregierung sollte die Empfehlungen Deutschlands an Brasilien aus dem UPR-Verfahren in ihrer Umsetzung zu einer Priorität ihres Dialogs mit der brasilianischen Regierung machen, insbesondere im Bereich des Schutzes von MRV. Hierbei sollte auf die ausreichende Ausstattung des Schutzprogramms PPDDH mit entsprechenden Ressourcen hingewirkt werden.
→ Programme der deutschen EZ, wie etwa der Amazonas-Fonds, sollten mit Elementen des Schutzes für die in dieser Region betroffenen MRV begleitet werden, die für die sozialen Organisationen einfach zugänglich sind.
→ Indigene und traditionelle Gemeinschaften müssen in Schutzprogrammen zu Amazonien und anderen Ökosystemen besonders berücksichtigt und Kontrollmechanismen innerhalb der Förderprogramme sollten ausgebaut werden, damit die geförderten Bundesstaaten ihre Aufgaben beim Waldschutz effektiv erfüllen.
→ Die effektive Umsetzung der Verpflichtungen aus dem deutschen und dem europäischen LkSG in Bezug auf Risiken für MRV und deren effektiven Schutz sollte besonders im Fall von kritischen Investitionsprojekten unter Beteiligung brasilianischen und deutscher Zivilgesellschaft erfolgen.
→ Zur effektiven Umsetzung der ILO-Konvention 169 durch Brasilien und Deutschland sollte ein intensiver bilateraler Dialog erfolgen, um sicherzustellen, dass Produkte und Dienstleistungen aus beiden Ländern nicht gegen die Rechte indigener Völker und traditioneller Gemeinschaften verstoßen. Hier sind vor allem Maßnahmen für effektive Konsultationen von indigenen und traditionellen Gemeinschaften in FPIC-Verfahren sowie ihre Beteiligung an sie betreffenden Gesetzgebungsverfahren vorzusehen.
→ Das EU-Mercosur-Handelsabkommen sollte neu verhandelt und mit klareren und stärkeren Bestimmungen zu Menschenrechten und Nachhaltigkeit ausgestattet werden. Die Form einer Zusatzvereinbarung erscheint nicht zielführend. In seiner jetzigen Form schafft das geplante Abkommen Anreize für Entwaldung, Ausbreitung des Agrobusiness und Bergbaus sowie Vertreibung von kleinbäuerlichen Familien, indigenen und traditionellen Gemeinschaften.
→ Exporte von Rüstungsgütern nach Brasilien müssen aufgrund der schweren Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und Militär dringend gestoppt werden. Der Endverbleib bereits gelieferter Rüstungsgüter, insbesondere von Kleinwaffen und Munition, muss kontrolliert werden. Die Bundesregierung sollte sich konsequent für Rechtsstaatlichkeit und das Ende der hohen Straflosigkeit in Brasilien, insbesondere bei Strafverfolgung staatlicher Akteure (Polizei, Militär), einsetzen.