Justiz-Rollback in Brasilien

Richter annulliert posthum erteilte Amnestie für Ex-Guerrillero Carlos Lamarca und verurteilt die Angehörigen zur Rückzahlung der Entschädigung sowie der geleisteten Pensionsansprüche.
| von Christian Russau
Justiz-Rollback in Brasilien
Fahndungsphoto von Carlos Lamarca

Ein Gericht in Rio de Janeiro hat den Angehörigen des 1971 von Militärkräften erschossenen Ex-Offiziers und Guerrilleros Carlos Lamarca die 2007 von der staatlichen Amnestiekommission anerkannten Entschädigungszahlungen sowie deren Pensionsansprüche aberkannt und die Rückzahlung der seit 2007 geleisteten Beträge von insgesamt 300.000 Reais (umgerechnet ca. 89.000 Euro) gefordert. Zudem erkannte der Richter die posthum verliehene Amnestieentscheidung und die Beförderung Lamarcas zum General für unzulässig. Menschenrechtsgruppen protestierten auf das Schärfste gegen die Entscheidung des Richters Guilherme Corrêa de Araújo von der 21. Bundesgerichtskammer in Rio de Janeiro.

Auch Brasiliens Ex-Justizminister Tarso Genro, unter dessen Regierung die staatliche Amnestiekommission ab 2007 Entschädigungszahlungen an die Opfer der brasilianischen zivili-militärischen Diktatur (1964-1985) und eine offizielle Bitte um Entschuldigung des Staates geleistet hatte, nannte die Entscheidung des Richters einen Skandal. Der Richter versuche damit, die "verfassungsmäßige Ordnung, die in Brasilien die Amnestie zu Wege geleitet habe, außer Kraft zu setzen", so der Ex-Minister. Das Urteil des Richters in Rio de Janeiro habe "einen politischen Beigeschmack, es zielt auf die Geschichtsrevision dessen, was während der Diktatur geschehen ist und bedeutet einen Angriff auf die Verfassung Brasiliens", so Tarsa Genro gegenüber dem brasilianischen Portal sul21. Bereits 2011 hatte eine Richterin die posthume Amnestieanerkennung für Carlos Lamarca temporär ausgesetzt, was heftige Proteste seitens der Menschenrechtsgruppen hervorrief.

Während der brasilianischen Militärdiktatur wurden von den Repressionsorganen mindestens 475 Menschen ermordet oder sind seither verschwunden, 24.560 Personen wurden verfolgt. Die dem Justizministerium - Tarso Genro war von 2003-2011 Justizminister Brasiliens - unterstellte Amnestiekommission zur Anerkennung politischer Verfolgung zur Zeit der Militärdiktatur zählte insgesamt über 70.000 Anträge auf staatliche Anerkennung der politischen Verfolgung und entsprechende Entschädigungszahlungen.

Carlos Lamarca war Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre neben Carlos Marighella einer der bekanntesten Stadtguerrilleros Brasiliens. Der 1937 in Rio de Janeiro geborene Lamarca war Berufsoffizier und ging 1969 in den Untergrund, wo er anfangs in der Stadtguerrilla Vanguardia Popular Revolucionária (VPR) kämpfte. Lamarca war an der Entführung des Botschafters der Schweiz in Brasilien, Giovanni Bucher, beteiligt, dessen Freilassung Anfang 1971 im Austausch gegen die Freilassung 70 politischer Gefangener erfolgte. Die VPR schloss sich mit dem Comando de Libertação Nacional zum bewaffneten Widerstand der Stadtguerrilla VAR-Palmares zusammen. In der VAR-Palmares waren neben anderen Carlos Lamarca – als deren damals bekanntestes Mitglied – und der damals noch nicht so populäre Carlos Minc oder die heutige Präsidentin Brasiliens, Dilma Rousseff aktiv. Die VAR-Palmares war vor allem durch den Raub eines Geldkoffers mit zweieinhalb Millionen US-Dollar aus dem Haus des als korrupt verrufenen Ex-Gouverneurs von São Paulo, Adhemar de Barros, bekannt geworden. Lamarca ließ nach dem erfolgreichen Raub des "Koffers von Adhemar" über die Agentur Agence France Press verlauten, die Gruppe habe die Schwarzkasse des korrupten Ex-Gouverneurs sichergestellt und werde "das dem Volk über Jahre gestohlene Geld zurückgeben". Lamarca verließ im März 1971 die VAR-Palmares und schloss sich der Stadtguerrilla MR-8 an. Carlos Lamarca wurde am 17. September 1971 in Pintada im Bundesstaat Bahia von Militäreinheiten umzingelt und erschossen.

Das Urteil des Richters Corrêa de Araújo vom 7. Mai 2015 fiel in erster Instanz, sowohl die Angehörigen Lamarcas als auch die Bundesstaatsanwaltschaften und die Vertreter der Amnestiekomission kündigten Berufung an. Aus reaktionären Militärkreisen wie der Militärklubs hingegen kamen frenetische Beifallsstürme über den derzeitigen Justiz-Rollback. "Wir zelebrieren den Sieg vor der Justiz gegen den Verräter Lamarca!", heisst es auf der die Militärdiktatur beschönigenden Internetseite Alertatotal (wir verzichten hier auf den URL-Link, Anm.d.A.). Die die eingereichte Klage unterstützenden Militärklubs seien endlich "erfolgreich im Vorgehen gegen die Beförderung des Ex-Capitão, Deserteurs, Räubers, Mörders und Verräters Carlos Lamarca".