Die Militärdiktatur in Brasilien - und die noch offenen Fragen zur Rolle der multinationalen Konzerne

Während in Brasilien die Militärs herrschten, während in Brasilien ab Ende 1968 die Repression massiv verschärft wurde, erlebte das Land einen Wirtschaftsboom - und nicht wenig Anteil daran hatten auch ausländische Konzerne, die in Brasilien ansässig waren. Welche Rolle spielten die multinationalen Konzerne in der brasilianischen Militärdiktatur?
| von Christian Russau
Die Militärdiktatur in Brasilien - und die noch offenen Fragen zur Rolle der multinationalen Konzerne
Bildquelle: http://capitalismoemdesencanto.wordpress.com

Brasilien – vor genau 50 Jahren: Am 31. März 1964 putschen die Militärs gegen die Regierung des Präsidenten João Goulart. 21 Jahre herrschten die Generäle im Land. Die Diktatur hinterließ eine blutige Spur: Bürgerrechte wurden außer Kraft gesetzt, Menschen verhaftet, gefoltert, verschwanden oder wurden ermordet. In Brasilien gibt es seit einer Reihe von Jahren eine Debatte darum, ob die Militärdiktatur nicht eher als eine "zivile-militärische Diktatur" bezeichnet werden müsse, um die Rolle und den Beitrag der behördlichen und institutionellen Unterstützer aus nicht-militärischen Zusammenhängen hervorzuheben.

Nun aber, mit der anfangenden Aufarbeitung der anos de chumbo, der bleiernen Jahre, im Rahmen der Nationalen Wahrheitskommission werden auch Fragen gestellt nach der Rolle der transnationalen Konzerne, sei es Ford, Esso oder Philips, sei es Volkswagen, Mercedes Benz oder Scania. Die Bundesrepublik Deutschland und ihre multinationalen Konzerne waren und sind in Brasilien aktiv - was aber war ihre Rolle im System der brasilianischen Militärdiktatur? In Rio de Janeiro findet heute das erste Treffen des Coletivo Mais Verdade statt. Dieses will diesen Fragen nachgehen und herausfinden, ob und wie die multinationalen Konzerne die Repression unterstützten.

Einer der berüchtigsten Fälle betrifft den dänischen Unternehmer Henning Boilesen, damals Chef der Firma Ultragaz. Henning Albert Boilesen, wurde bekannt als aktiver Unterstützer der Foltereinheit Operação Bandeirantes (OBAN), die später in das landesweite Netzwerk der Folterzentralen DOI-CODI überging. Über Boilesen drehte später der Filmemacher Chaim Litewski den Dokumentarfilm "Cidadão Boilesen":

Dieser Film hat am 29. März 2014 im Berliner Eiszeit-Kino Deutschlandpremiere und wird im Rahmen der Nunca Mais Brasilientage 2014 gezeigt. In Köln läuft der Film im Filmclub 813 am 7. April 2014, in Bonn im WOKI-Kino am 8. Mai 2014.

Boilesen sammelte nicht nur das Geld für die Folterzentrale ein, er selbst besuchte die Folterungen häufig. 1971 wurde Boilesen in São Paulo von Mitgliedern der Ação Libertadora Nacional (ALN) und des Movimento Revolucionário Tiradentes (MRT) erschossen.

Berüchtigt auch die Skrupellosigkeit des niederländischen Multis Philips, der in der Tageszeitung Jornal do Brasil vom 6/10/69 eine mehr als geschmacklose Anzeige schaltete, in der die Robustheit eines Philips-Fernsehers dadurch beworben wird, das ein solcher selbst die Tests in der Folterkammer überstehen würde. Und oben drüber, auf der gleichen Seite, berichtet die Zeitung über die Marighella-Gruppe.

Brasilien – vor 45 Jahren: Die Wirtschaft des Landes boomt. Seit 1968 wuchs die brasilianische Wirtschaft um satte zehn Prozent pro Jahr. Das Land erlebte mitten in den anos de chumbo, den bleiernen Jahren, sein milagre econômico, das Wirtschaftswunder.

Bonn – vor 39 Jahren: Die Bundesrepubliken der föderativen Staaten Brasiliens und Deutschlands unterzeichnen ein Abkommen über die „Zusammenarbeit auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Kernenergie“. Bis zu acht Atomkraftwerke, eine Wiederaufbereitungsanlage sowie Urananreicherungsanlagen wollte Deutschland Brasilien verkaufen und ihnen das entsprechende Kow-how zukommen lassen. Das größte deutsche Exportgeschäft aller Zeiten!

Bonn – vor 35 Jahren: Der damals amtierende brasilianische Präsident, General Geisel, stattet der Deutschen Bundesregierung einen offiziellen Besuch ab. Bundeskanzler Schmidt lobte in seiner Tischrede die „Konvergenz der Ziele“ und die „Übereinstimmung der Werte“ der deutschen und der brasilianischen Bundesregierung – in Bonn regierte man „sozialliberal“, in Brasília militärisch. Während im spätgotischen Saalgebäude des Gürzenich in der Kölner Altstadt anlässlich des Geisel-Besuchs ein Staatsbankett der brasilianischen Regierung für „tausend Bestecke“ gegeben wurde, prügelte die deutsche Polizei Atomkritiker und brasilianische Opposition der Militärdiktatur nieder. Auf einem Polizeirevier wurden Festgenommene mit Fäkalien beschmiert. Brasilianische Presse, die diesem Schauspiel als Augenzeugen beiwohnten, erlebten gewöhnliche Szenen aus dem brasilianischen Alltag: in Köln.

Vier Ereignisse, eine Kernaussage: die bundesdeutsche auswärtige Politik war schon immer vorrangig Außenwirtschaftspolitik – Menschenrechte und Umwelt standen seit jeher untergeordnet auf der Tagesordnung.

Und für die in Brasilien tätigen deutschen Konzerne ging es um die Teilhabe an dem milagre econômico.

Beispiel Volkswagen: Am 25.12.1994 publizierte die Tageszeitung Jornal do Brasil über Akten der Geheimpolizei Deops, nach denen Volkswagen do Brasil (ebenso wie Mercedes Benz) in den 1970er Jahren Diktaturspitzel in die Gewerkschaftsversammlungen seiner Arbeiter einschleuste und Informationen über seine Angestellten an die Geheimpolizei der Diktatur weiterreichte. Der Fall des LKW-Bauers, der heutigen VW-Tochter Scania, reichte sogar noch weiter: Dem JB-Bericht zufolge feuerte Scania 223 Streikende im Juli 1978 – um sie sofort anschließend durchleuchten zu lassen und diese Infos – zumindest in einem Fall – direkt an die Geheimpolizei weiterzugeben. Volkswagen tat dem Bericht zufolge das Gleiche im August 1978 mit drei seiner Angestellten, die von der Polizei verhaftet worden waren, weil sie Mitglied einer sozialistischen Bewegung waren. Ähnliches, so berichtete JB damals, sei ebenfalls bereits 1971 geschehen. Volkswagen do Brasil soll noch in diesem Jahre vor der Nationalen Wahrheitskommission in Brasília zu der VW-Verstrickung in die Militärdiktatur in Brasilien aussagen.

Der Generalstaatsanwalt der Republik und Mitglied der Wahrheitskommission, Cláudio Fonteles, hatte im vergangenen Jahr in den Archiven des vormaligen Geheimdienstes Brasilien, Serviço Nacional de Informações – SNI, Dokumente gefunden, die die Zusammenarbeit von Industrie und Unternehmern mit den brasilianischen Repressionsorganen nahelegten. Den als Verschlusssache deklarierten Dokumenten sei laut Fonteles zu entnehmen, dass als Mittelsmänner für die Industrie das Forschungsinstitut Ipês (Instituto de Pesquisas e Estudos Sociais) und die Industriemobilisierungsgruppe GPMI des Industrieverbands FIESP in São Paulo (Grupo Permanente de Mobilização Industrial da Federação das Indústrias do Estado de São Paulo) fungierten. Die Industrie- und Unternehmervertreter – unter ihnen bekannte Größen wie Volkswagen, die heutige VW-Tochter Scania oder auch die deutsche Mannesmann – hätten zur Zeit der Militärdiktatur (1964-1985) diese zwei Institutionen finanziell gefördert, damit diese gemeinsam mit der Obersten Heeres Schule (Escola Superior de Guerra) einen „militärisch-industriellen Komplex“ gegen den Widerstand aufbauen.

Profit für die Konzerne und goldene Uhren wie die von Willy Brandt für Junta-General Artur da Costa e Silva – statt Menschenrechte und Umwelt. Waren Brandt, Schmidt, Strauß & Co die Gefolterten und Maltraitierten damals in den 1970er Jahren allenfalls egal, bestenfalls bedauernswerte Kollateralschäden, so waren dergleichen deutsche Wirtschaftsinteressen nie. Tummelte sich in São Paulo – seit Volkswagen und Mercedes, BASF und Bayer samt ihrer ebenfalls deutscher Zulieferer sich dort niederließen – seit den 1970er Jahren eine massive Ansammlung deutscher Wirtschaft, so ist die Metropolregion Grande São Paulo mit ihren über 20 Millionen Einwohnern eine der größten Städte der Erde – und beherbergt die weltweite größte Konzentration an deutscher Industrie. Für deutsche Konzerne rollte da schon immer der Rubel, sei es als Cruzeiro, Cruzeiro Novo, Cruzado, Cruzado Novo, Cruzeiro Real oder Real – und die deutsche Politik gab eifrig Schützenhilfe.