Vermehrte Leukämie-Todesfälle bei Kindern durch Pestizideinsatz in Soja-Anbauregionen Amazonas und Cerrado

Weiter hohe Pestizid-Neuzulassungen und Deregulierung unter Präsident Lula.
| von Ulrike Bickel
Vermehrte Leukämie-Todesfälle bei Kindern durch Pestizideinsatz in Soja-Anbauregionen Amazonas und Cerrado
Agrargifte. Foto: Ulrike Bickel

Von Ulrike Bickel, 13.11.2023

Eine neue Studie von US-Forscher:innen über „Landwirtschaftliche Intensivierung und Krebs bei Kindern in Brasilien­­“ stellt einen Zusammenhang zwischen dem Anstieg der Leukämiefälle bei Kindern, der Ausweitung des Sojaanbaus und dem weit verbreiteten Pestizid-Einsatz auf Sojaplantagen her. Die Publikation erfolgt inmitten der weiteren Deregulierung und Beschleunigung der Pestizidzulassung durch die Regierung Lula, den die Zivilgesellschaft als „Giftpaket“ heftig kritisiert.

Die in der Zeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) veröffentlichte Studie dokumentiert, dass mindestens 123 zusätzliche Todesfälle bei Kindern unter 10 Jahren zwischen 2008 und 2019 mit dem Einsatz von Pestiziden beim Sojaanbau im Cerrado und im Amazonasgebiet zusammenhängen. Der Studie liegt eine Bevölkerungsanalyse zugrunde, die 15 Jahre Gesundheitsdaten berücksichtigt und Informationen über Krebs bei Kindern mit dem Vormarsch von Soja in den beiden Ökoregionen Amazonas und Cerrado verglich. Die Sojaanbaufläche im Cerrado hat sich zwischen 2000 und 2019 von 5 Millionen auf 15 Millionen Hektar verdreifacht, während sie im Amazonasgebiet um das 20-fache wuchs: von 0,25 Millionen auf 5 Millionen Hektar. Der Pestizid-Einsatz in beiden untersuchten Regionen stieg im selben Zeitraum um das Drei- bis Zehnfache.

Dieser Anstieg korreliert mit der Zahl der Krebsfälle. Nach Berechnungen der Studie gab es pro 10 Prozent Anstieg der Sojaproduktion 4 zusätzliche Todesfälle bei Kindern unter 5 Jahren und 2,1 bei Kindern unter 10 Jahren pro 100.000 Einwohner:innen.

Der Leitautorin Marin Elizabeth Skidmore zufolge könnten etwa die Hälfte der pädiatrischen Todesfälle durch Leukämie in diesem Zeitraum mit der landwirtschaftlichen Intensivierung der Sojaproduktion und der Exposition gegenüber Pestiziden in Verbindung gebracht werden.

Der Kontakt mit den Chemikalien erfolgte demnach über die Wasserversorgung, wo die Sojaproduktion und der Pestizideinsatz flussaufwärts im Einzugsgebiet liegen. Die Leukämiefälle traten flussabwärts im selben Einzugsgebiet auf - das Abfließen von Pestiziden in Oberflächengewässer war demnach die wahrscheinliche Ursache der Exposition.

Die Kinder, die an Leukämie erkrankten, lebten nicht unbedingt in den Gebieten, in denen Soja angebaut wird. Dies offenbart die große Reichweite von Pestiziden - erstmals bereits 1962 von der US-Biologin Rachel Carson in ihrem viel beachteten Werk „Der stumme Frühling“ dokumentiert.

In den untersuchten ländlichen Regionen verfügten im Jahr 2006 etwa 50 Prozent der Haushalte über Brunnen oder Zisternen, während die andere Hälfte auf Oberflächenwasser als Wasserquelle angewiesen war – in diesem Fall können laut Skidmore die flussaufwärts verwendeten Pestizide die Kinder flussabwärts erreichen.

Brasilien ist in den letzten Jahren sowohl bei der Sojaproduktion als auch beim Verbrauch gefährlicher Pestizide weltweit führend geworden. Der Analyse zufolge werden in Brasilien 2,3-mal mehr Pestizide pro Hektar eingesetzt als in den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) und 3-mal mehr als in China, die hinsichtlich des absoluten Pestizidverbrauchs an erster und dritter Stelle stehen. Der Pestizideinsatz in Brasiliens Sojaanbau hat besonders nach der erstmaligen Zulassung von gentechnisch veränderter Varianten im Jahr 2004 zugenommen.

Die Leukämie-Sterblichkeitsrate verringerte sich bei Vorhandensein von Krankenhäusern in der Nähe der kontaminierten Gebiete. Eine spezialisierte onkologische Versorgung fehlt jedoch vielerorts im Landesinneren Brasiliens. Die US-Forschungsgruppe schlussfolgert die Dringlichkeit, die Auswirkungen der Intensivierung der Landwirtschaft auf die menschliche Gesundheit zu berücksichtigen.

Während der vorigen Regierung des rechtsextremen Präsidenten Bolsonaro wurden in Brasilien mehr als 14.000 Menschen durch Pestizide vergiftet, so eine Erhebung von Agência Pública und Repórter Brasil aufgrund von Daten von 2019 bis März 2022.

In den letzten Jahren haben mehrere Studien den Zusammenhang zwischen dem intensiven Einsatz von Pestiziden in Brasilien, zunehmenden Krebserkrankungen und weiteren Gesundheitsproblemen aufgezeigt.

Lula-Regierung behält Expräsident Bolsonaros-Tempo bei Pestizid-Zulassungen bei trotz neuer Erkenntnisse zu Glyphosat als Leukämie-Ursache

Die Zahl der unter Brasiliens dritter Regierung von Präsident Lula genehmigten Pestizide ist bis Anfang November bereits auf 431 gestiegen (Gesetz Nr. 48 vom 27. Oktober 2023) und wird voraussichtlich bis Ende des Jahres noch steigen. Hinsichtlich Pestizid-Zulassungen verfolgt die Regierung Lula laut dem zivilgesellschaftlichen Pestizid-Observatorium dasselbe Tempo wie die Vorgänger-Regierung des rechtsextremen Präsidenten Bolsonaro, was die ohnehin hohen Kontaminationsfälle in Brasilien weiter absehbar erhöhen dürfte.

Bei den zuletzt 21 neu zugelassenen Pestiziden handelt es sich um konzentrierte Produkte, die für den Verkauf im Handel zusammen gemischt werden müssen. Einer ersten Analyse zufolge werden 17 der zugelassenen Produkte von chinesischen Firmen und die anderen vier von indischen Unternehmen hergestellt. China und Indien sind inzwischen die Hauptlieferanten von Pestizid-Produkten in Brasilien (Anm. d. Red.: und vielen Entwicklungsländern), weil es sich hierbei um billigere Generika oder "Post-Patent"-Produkte handelt. Oft sind diese Produkte in den Herkunftsländern der Patente bereits nicht mehr zugelassen oder werden gerade verboten, weil sie sehr gefährlich für die Umwelt und die menschliche Gesundheit sind.

Glyphosat als Leukämie-Ursache

Eine neue internationale Studie mehrerer Forschungszentren legt nahe, dass die explosionsartige Zunahme von Leukämiefällen bei Kindern auf den Einsatz des weltweit am meisten verwendeten Herbizids Glyphosat zurückzuführen sein könnte. Die am 25. Oktober veröffentlichten ersten Daten einer globalen Glyphosat-Studie (GGS) zeigen, dass das Herbizid bei Ratten bereits in sehr geringen Dosen Leukämie verursacht, und dass die Hälfte der Todesfälle bei diesen Versuchstieren bereits in jungen Jahren eintrat. Die Schlussfolgerungen der GGS zur Toxizität von Glyphosat für das Mikrobiom, die nach einem Peer-Review Ende 2022 veröffentlicht und 2023 dem EU-Parlament vorgelegt wurden, zeigten auch bei Dosen, die derzeit in der EU als sicher gelten (0,5 mg/kg Körpergewicht/Tag, was der zulässigen täglichen Aufnahmemenge in der EU entspricht), negative Auswirkungen.

Allein in den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) haben demnach die Leukämiefälle bei Kindern und Jugendlichen nach Angaben der US-Zentren für Krankheitskontrolle und Prävention seit 1975 um 35 % zugenommen. Jedes Jahr nimmt die Zahl der Leukämiefälle um etwa 1 Prozent zu. Dieses Wachstum ist weitgehend für den Anstieg der Kinderkrebsfälle in den USA von durchschnittlich etwa 0,5 % jährlich im Zeitraum 2003 bis 2019 verantwortlich. Dies geht aus einer Studie derselben Gesundheitsorganisation hervor, die im Juli im Journal of the National Cancer Institute veröffentlicht wurde. Leukämie ist inzwischen die mit Abstand häufigste Krebserkrankung bei Kindern. Dieser Pilotstudie der GGS zufolge wurde eine Toxizität für das endokrinologische und reproduktive System bei Dosen von Glyphosat gezeigt, die derzeit von den Regulierungsbehörden in den USA als „sicher“ angesehen werden (1,75 mg/kg Körpergewicht/Tag) – zunächst bei Ratten und später bestätigt in einer menschlichen Population von Müttern und Neugeborenen, die während der Schwangerschaft Glyphosat ausgesetzt waren.

An der vom Ramazzini-Institut koordinierten Studie sind Wissenschaftler:innen aus Europa, den Vereinigten Staaten und Südamerika beteiligt, was den Ergebnissen zusätzliches Gewicht verleiht, darunter die Icahn School of Medicine at Mount Sinai, der George Mason University, der Universität von Bologna und der University of St. Thomas.

US-Umweltbehörde bewertet Glyphosat neu, EU zaudert

In den USA überprüft die Umweltschutzbehörde (Environmental Protection Agency, EPA), die Glyphosat bisher nicht als krebserregend einstufte, inzwischen die Zulassung des Totalherbizid-Wirkstoffs auf Anordnung einem Bundesberufungsgerichts vom Juni 2022. Nach Ansicht des Gerichts hat die EPA nicht ausreichend geprüft, ob der Wirkstoff Krebs verursacht. In den letzten Jahren hat das höchste US-Gericht des Landes den Pestizid-Konzern Bayer, das Monsanto gekauft hat, dazu verurteilt, Opfer von Glyphosat zu entschädigen, von denen viele an Leukämie erkrankten.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat Glyphosat 2015 als gefährlich für die menschliche Gesundheit und als "wahrscheinlich krebserregend für den Menschen" eingestuft. In der Europäischen Union läuft die Zulassung von Glyphosat am 15. Dezember dieses Jahres aus, doch unter den EU-Mitgliedstaaten gibt es bislang weder eine Mehrheit für eine Verlängerung noch für ein Verbot, auch aufgrund jahrelanger erfolgreicher Lobbyarbeit der Pestizidindustrie.